Fehler des Todes. Russische Absurde aus zwei Jahrhunderten


Fehler des Todes

Russische Absurde aus zwei Jahrhunderten

Herausgegeben und aus dem Russischen von Peter Urban


Verlag der Autoren

Für Igor Pavlovič Smirnov

Aleksandr Vvedenskij Wo � Wann

Wo stand er gestützt auf ein Standbild. Mit einem von Gedanken übererfüllten Gesicht. Er stand. Er wurde selbst zum Standbild. Er hatte kein Blut. Seht was er sagte:

Lebt wohl ihr dunklen Bäume, lebt wohl ihr schwarzen Wälder, der Sterne Kreislauf hoch am Himmel der Vögel sorgenlose Stimmen.

Offenbar hatte er sich vorgenommen, irgendwohin irgendwann abzureisen.

Lebt wohl ihr Felsen auf den Feldern, ich hab euch zugesehen, Stunden. Lebt wohl ihr flatterhaften Falter, ich habe oft mit euch gehungert. Lebt Steine wohl, lebt wohl ihr Wolken, ich habe euch geliebt, geschunden.

Voller Trauer und verspäteter Reue begann er die Enden der Gräser zu betrachten.

Lebt wohl ihr wunderschönen Enden. Lebt wohl ihr Blumen. Wasser lebe wohl. Es läuft der Postillion der Fänger, es läuft das Schicksal, läuft das Elend. Ich ging im freien Feld, gefangen, ich hielt den Waldweg fest umfangen, ich weckte morgens früh den Fisch, erschreckte Eichen, Wald, Gebüsch, der Eichen Sarghaus sah ich schweigen und führte Pferd und Lied zum Reigen.

Aleksandr Vvedenskij

Er stellt es sich vor und erinnert sich, wie er manchmal oder manchmal auch nicht an den Fluß hinuntergegangen war.

Oft stand ich Fluß an deinem Strand. Leb wohl. Es zittert mir die Hand. Du strömtest ganz ein gleißend Band, derweil gebannt ich vor dir stand in einem Kaftan angetan aus Glas und lauschte deiner Wellen Naß. Wie süß war es mir einzutreten in dich und wieder auszutreten. In dich den eisigen. Wie süß war es mir einzutreten in mich und wieder auszutreten, wo Eichen rauschten wie die Zeisige, die Eichen Wahnsinnseichen weich sie rauschten so als ob sie gleich.

Doch hier überschlug er im Geiste, was sein ^yürde, wenn er auch das Meer hätte sehen können.

Meer lebe wohl, leb wohl du, Sand,

wie bist du hoch, o Bergesland.

Die Welle bricht, es spritzt die Gischt,

ich sitz, die Pfeife in den Händen,

auf Steinen, dran das Meer sich bricht.

Und alles auf dem Meer ist weit,

und alles ist vom Meer so weit.

Der Kummer flieht, die langweilige Ente.

Vom Meer sich trennen - das tut leid.

Meer lebe wohl. Es ist so weit.

Du Paradies mit Strand und Sand.

Wie bist du hoch, o Bergesland.

Des Letzten das es in der Natur gab, gedachte er ebenfalls. Er gedachte der Wüste.

Wo � Wann

Leb Wüste wohl Und Löwe o.

Nachdem er sich auf diese Weise von allen verabschiedet hatte, setzte er sorgsam die Waffe zusammen, holte die Schläfe aus der Tasche und schoß sich in den Kopf.

Und hier beginnt der zweite Teil - der Abschied aller von einem.

Die Bäume hoben und senkten die Flügel wie Arme. Sie überlegten, was sie wohl vermochten, und sagten zur Antwort:

Du hast uns oft besucht. Seht her -er ist gestorben, und so sterbt auch ihr. Er nahm uns auf für manchen Augenblick, zerknüllt, zerrissen und gebückt. Wanderer ohne Verstand er wie der eisige Winter.

Was teilt er jetzt den Bäumen mit. - Nichts - er erstarrt. Die Felsen oder Steine rührten sich nicht von der Stelle. Sie flüsterten schweigend verschwiegen und ohne auch nur einen Laut von sich zu geben uns und euch und ihm zu.

Schlaf. Lebe wohl. Gekommen ist das Ende. Gekommen ist zu dir der Fänger. Gekommen ist die letzte Stunde. Herr erbarme dich unser. Herr erbarme dich unser. Herr erbarme dich unser.

Was widerspricht er jetzt den Steinen, - Nichts - er vereist. Die Fische und Eichen schenkten ihm eine Weintraube und eine geringe Menge letzter Freude.

Die Eichen sagten: - wir wachsen. Die Fische sagten: - wir schwimmen.

10

Aleksandr Vvedenskij

Die Eichen fragten: - wie spät?

Die Fische: - erbarme dich auch unser wenn es geht.

Was wird er den Fischen und den Eichen sagen: - Er kann nicht mehr sagen: danke.

Der Fluß ist gebieterisch über die Erde gelaufen. Der gebieterisch strömende Fluß. Der gebieterisch seine Wellen tragende Fluß. Der Fluß wie der Zar. Er verabschiedete sich so, daß. So. Und er lag wie ein Schreibheft genau am Ufer des Flusses.

Schreibheft leb wohl.

Es ist nicht angenehm zu sterben und nicht leicht.

Leb wohl Welt. Paradies leb wohl.

O Menschenland du bist sehr weit.

Was wird er dem Fluß tun? - Nichts - er versteinert.

Und das Meer, ermattet von seinen langen Stürmen, sah mit

Bedauern den Tod.

Hatte dieses Meer das ermattete Aussehen des Adlers? Nein es

hatte es nicht.

Wird er das Meer erblicken? - Nein, er kann nicht.

Aber - horch! plötzlich stießen irgendwo ins Hörn - keine

Wilden keine nein. Er erblickte Menschen.

Wann schlug er die Augen auf. Als er seine geschwollenen Augen aufschlug, schlug er seine Augen auf. Er erinnerte und erinnerte sich an alles wie aus dem Kopf. Ich habe vergessen, den übrigen Lebewohl zu sagen, das heißt, er hatte vergessen, den übrigen Lebewohl zu sagen. Da fiel ihm ein, er erinnerte sich an den ganzen Augenblick seines Todes. An alle die Sechsen, Fünfen. An all diese - Eitelkeit. Den ganzen Reim. Der ihm stets ein treuer Freund gewesen, wie Puškin vor ihm gesagt hatte. Ach, Puškin, Puškin, eben jener Puškin, der vor ihm gelebt hatte.

Wo � Wann

Hier lag der Schatten des allumfassenden Ekels auf allem. Da lag der Schatten des Allgemeinen auf allem. Er verstand nichts, hielt sich aber zurück. Und die Wilden, aber vielleicht auch nicht Wilden traten mit einem Weinen gleich dem Rauschen der Eichen, dem Summen der Bienen, dem Plätschern der Wellen, dem Schweigen der Steine und dem Aussehen der Wüste, Teller über den Köpfen haltend, hervor und stiegen ohne Eile von den Gipfeln herab auf die wenig zahlreiche Erde. Ach, Puškin, Puškin.

Aleksandr Puškin Fragment

GEFÄNGNISWÄRTER Diese hohen Herren machen uns Gefängniswärtern nichts als Scherereien. Einfache Leute hängen wir, mit Gott, jeden Freitag, und die machen nie Schwierigkeiten. Denen wird das Urteil vorgelesen, der Geistliche kommt, nimmt ihnen schnell die Beichte ab, sie bekommen eine Flasche Wein, wenn einer Frau oder Kinder hat, wenn Vater oder Mutter noch am Leben sind, läßt man sie für einen Augenblick zu ihnen, und wenn sie nur ein bißchen zu laut heulen oder sich verschwatzen - Schluß, habe die Ehre. Im Morgengrauen kommt der Henker Jacques - und fertig. Aber seit sie den Grafen Conrad bei uns eingeliefert haben, wird man seines Lebens nicht mehr froh. Für den bin ich der Laufbursche. Bring mir dies, sag dem das, hol mir den und jenen. In einem fort wollen die Vorgesetzten wissen: läuft bei dir auch alles nach Vorschrift? Ist er auch nicht entkommen? will er auch nicht Hand an sich legen? ist er auch zufrieden? Zum Teufel mit den hohen Herren! Und seit ihn die Richter zum Tode verurteilt haben, ist aus meinem Gefängnis eine Schenke geworden, bei Gott, eine Schenke! Freunde, Verwandte, Bekannte - jeder kommt, um Abschied zu nehmen -jedem darf ich aufschließen, auf jeden ein Auge haben, und wehe, du beleidigst einen; wenn wenigstens was dabei abfallen würde, aber nein, lauter vornehme Herrschaften, von allen Abgaben befreit. Wirklich, so etwas hat man noch nicht gesehen! Gott sei Dank wird ihm morgen früh der Kopf abgeschlagen, dann hat die Plackerei ein Ende ...

Es klopft. Er geht zum Tor und öffnet das Fensterchen.

GEFÄNGNISWÄRTER Sie wünschen?

DlENER vor dem Tor Mach auf - die Gräfin und ihre Tochter.

14 Aleksandr Puškin

GEFÄNGNISWÄRTER Und die Besuchserlaubnis?

DIENER wirft ihm ein Papier zu Hier! Mäch schon! Beweg dich!

GEFÄNGNISWÄRTER Sofort! ach, es ist die reinste Zwangsarbeit!

Er öffnet das Tor. Herein kommen die Gräfin und ihre Tochter, beide schwarz gekleidet. Der Gefängniswärter verneigt sich tief.

Aleksandr Puškin

Das Gelage während der Pest

Straße. Ein gedeckter Tisch. Mehrere Männer und Frauen beim Feiern.

JUNGER MANN

Mein Herr! Gedenken wir nun eines Mannes,

An den wir alle lebhaft uns erinnern

Und dessen Spaße, drollige Geschichten,

Sehr scharfe Antworten und Zwischenrufe -

Höchst spitz in ihrer komischen Gesetztheit -

Das Tischgespräch hier angenehm belebten,

Die düsteren Gedanken bannten, die

Die Pest als unser Gast, jetzt auf zwang auch

Dem glänzendsten aller gescheiten Köpfe.

Zwei Tage ist es her, daß unser Lachen

Ihn feierte, ich kann unmöglich glauben,

Daß über unserm fröhlichen Gelage

Wir ihn vergaßen -Jackson! Seht, sein Sessel

Steht leer, er wartet auf den frohen Mann.

Doch der ist längst hinabgestiegen

Ins Unterirdische, in kalte Räume...

Ein Mann von unerhört beredter Zunge,

Doch nun verstummt im Staub und Mulm des Grabs;

Wir aber leben, Freunde, und sind viele,

Kein Grund zur Trauer. Also schlag ich vor,

Gedenken wir des Mannes und trinken wir

Ihm zu mit frohem Gläserklang und Trinkspruch,

Als säße er noch hier.

VORSITZENDER Er war der erste,

Der unsern Kreis verließ. Wir wollen still Zu seinen Ehren trinken.

16 Aleksandr Puškin

JUNGER MANN Ja, so sei es.

Alle trinken.

VORSITZENDER

Du singst auf deine Weise, liebe Mary, Vertraute Lieder wild und schön - vollkommen! Sing, Mary, wehmütig und voll Verlangen, Daß wir dann fröhlich feiern können, Beseßner noch als der, den von der Erde Schon abberief ein schwankendes Gespenst.

MARY

Lange ist die Zeit vergangen: Friedlich blühte unser Land. Sonntags ging man in die Kirche, Fühlte sich in Gottes Hand. Unsrer Kinder laute Stimmen Klangen von der Schule her. Draußen in den Feldern blitzten Sensen auf im gelben Meer.

Wie verwaist steht nun die Kirche. Stumm die Schule, zugesperrt. Und umsonst reift das Getreide, Schwarz der Wald, verlassen, leer. Wüst liegt unser Dorf im Tal Wie ein abgebranntes Haus. Alles still. Nur auf dem Friedhof Raunt es, drängt hinein, heraus.

Immer wieder bringt man Tote. Wer noch lebt, der betet laut, Fleht den Himmel furchtsam an: Nimm sie gnädig bei dir auf! Immer wieder braucht man Gräber, Senkt die Toten schnell hinab.

Das Gelage während der Pest 17

Und wie die erschreckte Herde Drängt sich eng schon Grab an Grab.

Muß ich zeitig sterben, Liebster, Welkt mein Frühling früh dahin -Schwör mir, Lieber, du, ich bitt dich, Weil ich deine Liebste bin: Nicht zu nah komm deiner Jenny, Und berühr nicht ihren Leib, Küß ihr nicht die toten Lippen, Folg ihr bitte nur von weit.

Und verlaß das Dorf, verlaß es! Geh, wohin dein Fuß dich bringt, Wo dein Herz wohl Ruhe findet, Aufersteht und wieder singt. Ist die Seuche erst vorüber, Komm, besuch mein armes Grab. Und im Himmel zeigt sich dann, daß Jenny nur den Edmond hat!

VORSITZENDER

Wir danken dir für deine Sorge, Mary!

Wir danken dir für dieses Klagelied!

So hat die gleiche Pest in fernen Tagen

Die Berge und die Täler schon besucht.

Und lange hörtet ihr es elend stöhnen

Entlang der Ufer eurer Flüsse, Bäche,

Die heute unbeschwert und ausgelassen

Durch euer wildes Paradies sich tummeln.

Das schwarze Jahr, das gnadelos so viele

Verwegne, gute, schöne Menschen nahm -

Mit knapper Not erinnert nun daran

Ein einfaches, naives Hirtenlied,

Voll Wehmut, angenehm... Es stimmt schon: Nichts macht

Uns trauriger auf frohen Festen als

Ein dunkles Sehnen, dem das Herz erliegt!

i8

Aleksandr Puškin

MARY

Wenn ich doch nie mit meinem Lied die Schwelle

Des Elternhauses übertreten hätte!

Die Eltern hörten ihre Mary gern,

Und auch ich selber höre mich noch singen.

Viel lieblicher war meine Stimme damals:

Die Stimme meiner Unschuld...

LUISE Längst veraltet

Die Lieder jetzt. Natürlich findet sich Die Einfalt immer wieder: schmilzt dahin Vor jeder Weiberträne, glaubt ihr blind. Sie denkt vielleicht, dem tränenfeuchten Blick Sei nicht zu widerstehen - dächte ich so Von meinem Lachen, ich wüßte auch was tun: Ich lächelte. Und Walsingham, der lobt Sie noch für ihr Gekreisch, die Schönen: Jetzt hat sie euch was vorgestöhnt. Ich hasse Das Gelb dieses schottischen Haars.

VORSITZENDER

Still, hört doch mal: da kommt ein Wagen.

Ein Leichenwagen, von einem Neger geführt. VORSITZENDER

Aha! Luise wird gleich schlecht; ich hielt sie,

Dem Reden nach, für viel beherzter.

Doch schwächer als Lieblichkeit ist Strenge.

Und Furcht bewohnt ein Herz voll Leidenschaft!

Erfrisch sie, Mary - etwas Wasser; gut so. MARY

Du Schwester meiner Trauer, meiner Schande,

Leg dich auf meine Brust. LUISE zu sich kommend Ein böser Dämon

Erschien mir: völlig schwarz, mit weißen Augen..

Er rief mich zu sich auf den Wagen, wo schon

Die Toten lagen - unverständlich lallend

Ihr schreckliches und nie gehörtes Wort...

Das Gelage während der Pest 19

War das ein Traum? Schien mir das alles nur?

Ist er vorbei, der Wagen? JUNGER MANN Komm, Luise,

Sei wieder fröhlich - unsre Straße ist zwar

Geheime Zuflucht, Rettung vor dem Tod,

Ein Ort der Feste, die uns niemand stört,

Doch weißt du - dieser schwarze Wagen

Darf überall hier ungehindert fahren.

Wir müssen ihn passieren lassen! Hör mal,

Du, Walsingham: Mach Schluß jetzt mit dem Streit

Und mit den Ohnmächten der Frauen - sing

Ein Lied, ein freies, lebensfrohes Lied,

Das nicht so schottisch wehmutsvoll uns stimmt -

Bacchantisch wild, ein Lied den Sinnen,

Dem Wein, dem Perlen unsrer Gläser entstiegen. VORSITZENDER

Ich kenne nichts der Art, doch sing ich euch

Die Hymne: Lob der Pest - ich schrieb sie gestern,

Nachdem wir auseinandergingen, nachts.

Ich hatte seltsam Spaß am Reim gefunden,

Zum erstenmal in meinem Leben! Hört:

Die Heiserkeit der Stimme paßt zum Lied. VIELE

Das Lob der Pest! Hörn wir ihm zu!

Das Lob der Pest! Erstaunlich! Bravo! Bravo!

VORSITZENDER

Den Winter, der uns überfällt, Kühn seine Macht entgegenstellt, Zottige Scharen, die ihm dienen, Die starken Fröste, Schnee und Eis, Empfängt das Prasseln der Kamine, Die Winterglut gastfreier Zeit.

Die strenge Königin, die Pest -Jetzt zieht sie gegen unser Fest. Begierig witternd reiche Ernte

Aleksandr Puškin

Klopft sie mit ihrem Grabscheit nun Bei Tag und Nacht an unser Fenster. Wie hilft man sich? Was soll man tun?

Verschanzen wir uns vor der Pest Wie vor des Winters Angriffslist! Macht Licht! Wein gießt in die Pokale. Im Wein ertränkt des Witzes Rest. Die Feste feiert, wie sie fallen, Und lobt und preist das Reich der Pest.

Der Glücksrausch kommt uns in der Schlacht

Und vor des Abgrunds dunklem Schacht,

Und in der Wut der Ozeane,

In Wellen, Sturm und Finsternis

Und in Arabiens Orkanen -

Und auch im Glutenhauch der Pest.

Ganz gleich, wo Untergang uns droht, Das Herz des Menschen reizt der Tod Mit unerklärlichen Genüssen -Pfand der Unsterblichkeit - vielleicht! Und glücklich ist, wer in den Wirren Genuß gefunden und erreicht.

So sei gelobt, o Herrin Pest!

Wir fürchten Grabesdunkel nicht,

Und dein Geschäft sieht uns gelassen.

Erhebt das Glas auf unser Fest

Und trinkt den Duft der Jungfrau-Rose,

Steckt auch in ihm vielleicht die Pest.

Herein ein alter Geistlicher.

GEISTLICHER

O gottloses Feiern, gottlose Toren! Ein Hohn sind eure Feste, Lästerlieder

Das Gelage während der Pest

Auf diese düstre, unheimliche Stille,

Die überall der Tod verbreitet!

Im Grauen furchtbarer Begräbnisse,

Vor bleichen Menschen bet ich auf dem Friedhof,

Und ihr, mit euren widerlichen Orgien,

Versehrt die Grabesruh und macht die Erde

Erbeben auf den toten Leibern!

Wenn nicht Gebete vieler Gläubigen

Geheiligt hätten das Gemeinschaftsgrab,

Ich dächte fast, daß die Dämonen heute

Den toten Geist des Gottlosen zerreißen

Und lachend in die finstre Tiefe ziehn.

MEHRERE STIMMEN

Wie meisterhaft er von der Hölle spricht! Geh, Alter, geh! Geh ruhig deines Wegs!

GEISTLICHER

Beschwören will ich euch beim Blute des Erlösers, der für euch gekreuzigt ward: Laßt ab vom ungeheuerlichen Fest, Wenn ihr die Seelen, die ihr liebt und doch Verlort, im Himmel wiederfinden wollt... Verlaßt den Ort und geht nach Haus!

VORSITZENDER Zu Haus

Ist nichts als Trauer - Jugend liebt die Freude.

GEISTLICHER

Bist du das, Walsingham? Bist du es noch,

Der vor drei Wochen, auf den Knien liegend,

Den Leib der Mutter seufzend küßte

Und bitter klagte über ihrem Grab?

Glaubst du vielleicht, sie weint jetzt nicht da oben,

Weint bitter nicht im hohen Himmel,

Wenn sie auf ihren Sohn hinunterblickt,

Im Fest des Lasters deine Stimme hört,

Die wilde Lieder singt, wo andere

Im heiligen Gebet verharren, flehend.

Komm mit mir, Walsingham!

VORSITZENDER Warum versuchst

Aleksandr Puškin

Du mich zu ängstigen? Ich kann, ich darf

Nicht mit dir gehn: mich bindet an den Ort hier

Verzweiflung, furchtbare Erinnerung,

Das Schuldbewußtsein meiner Willkür und

Das Grauen vor der Totenstille,

Die ich in meinem Hause um mich hab -

Die Ungewohntheit auch der wüsten Feiern,

Das segenreiche Gift in diesem Glas,

Die Zärtlichkeiten (Gott, verzeih mir das)

Des toten, mir unendlich lieben Wesens...

Der Schatten meiner Mutter schreckt mich nicht,

Das ist zu spät - ich höre deine Stimme,

Du warnst mich, und ich schätze dein Bemühn

Um meine Rettung... Alter, geh in Frieden.

Doch fluch ich jedem, der dir folgen will!

VIELE STIMMEN

O bravo! Bravo! Das ist seiner würdig! Verdiente Antwort! Geh! Verlaß uns jetzt!

GEISTLICHER

Der reine Geist Mathildens ruft dich fort!

VORSITZENDER steht auf

Zum Himmel heb die welke, blasse Hand

Und schwör mir: nie mehr nenn ich ihn, den Namen,

Verstummt im frühen Grab auf ewig.

O könnte ich doch dieses Schauspiel

Vor ihrem Blick verbergen! Einst hielt

Sie mich für rein und stolz und frei

Und fand das Paradies in meinen Armen...

Wo bin ich? Heilig Kind des Lichts. Ich sehe

Dich dort, wohin mein sündevoller Geist

Nie mehr gelangt...

STIMME EINER FRAU Er ist verrückt geworden -Er spricht von seiner toten Frau - im Fieber.

GEISTLICHER

Nur weg von hier...

VORSITZENDER Um Gottes willen, Vater,

Laßt mich in Ruh!

Das Gelage während der Pest 23

GEISTLICHER Behüt dich Gott!

Leb wohl, mein Sohn.

Ah. Das Gelage geht weiter.

Der Vorsitzende bleibt, in tiefes Nachdenken versunken.

Deutsch von Fritz Mierau

Nikolaj Gogol

Fragment eines unbekannten Dramas

BASKAKOV Ah, nein, genug, es reicht! Unfaßliche Erscheinung! Ein Schuft höchsten Grades, ein Gauner, gezeichnet vom Siegel der Schande, dessen einziger Lohn der Galgen wäre -doch dieser Mensch, versuche jemand, seine Ehre anzutasten, ihn einen Schuft zu nennen: »Was unterstehen Sie sich, mein Herr, meine Ehre zu verletzen? Ich fordere Genugtuung für Ihre Beleidigung. Sie haben mir eine Beleidigung zugefügt, die nur mit Blut abgewaschen werden kann.« Spitzbube! Und er steht für eine Ehre, die nur auf Ehrlosigkeit beruht.

VALUEV Ich kann ihn nicht länger ertragen! Hier, an dieser Stelle werden wir uns schlagen.

BASKAKOV Was? Ah! Er stellt sich mit dem Rücken zur Tür. Duell. Ein Zweikampf. Ungerechtigkeit. Nein, Freund. Solche Schufte fordert man nicht zum Zweikampf. Diese Genugtuung gibt es für dich nicht. Das wäre doch zu viel für meine Ehre, daß ich mich mit einem Zuchthäusler schlüge, der nach Sibirien gebracht wird. Ein Duell? Nein, dich muß man einfach totschlagen wie einen Hund. Armes, edles Tier, vergib, daß ich dich kränkte, indem ich dich verglich mit diesem widerwärtigen Geschöpf.

VALUEV stürzt rasend vor Zorn zum Fenster He, Nikanor! Gib mir die Pistole.

BASKAKOV Was, du willst eine Pistole? hier. Ich könnte dich im Augenblick erschießen; doch staune über meine Großmut: ich gebe dir noch zwei Minuten, dich darauf vorzubereiten. In dieser Zeit hast du Gelegenheit, ein Wort an Gott zu richten, das deine Qualen verringern könnte, wenn deine Seele der holt, der ihr Herr ist - Satan.

Valuev stürzt sieb auf ihn, will ihm die Pistole entreißen. Sie kämpfen einige Minuten.

Nikolaj Gogol

VALUEV Und ich entreiße sie dir doch.

BASKAKOV Nein: die Hand des Ehrenmannes ist stärker als die eines Schufts.

Sie kämpfen noch einige Augenblicke; schließlich gelingt es Baskakov, ihm die Pistole auf die Brust zu setzen. Ein Schuß ertönt. Valuev fällt. Von allen Seiten erhebt sich Hundegebell. Es wird an die Tür geklopft. Eine Stimme durch das Schlüsselloch: Herr, macht auf.

BASKAKOV Warum?

STIMME Einer von Ihnen hat mit dem Gewehr geschossen.

BASKAKOV Unsinn! Hier hat niemand geschossen. Da liegt er, ausgestreckt; er hat nicht mal geseufzt, hat nicht gebetet noch ein letztes Wort gesagt auf seinem Sterbebett - der Tod ist Antwort auf sein Leben. Und doch, er hat gelebt; er hat dasselbe Recht gehabt zu leben wie ich selbst, wie jeder andere. Er war widerwärtig, doch er war ein Mensch. Und hat der Mensch das Recht, zu richten über Menschen? Gibt es denn außer mir kein höheres Gericht? War ich bestimmt zu seinem Henker? Mord! War er ein Ehrenmann, ein Schuft -ich bin ein Mörder... Ein Mörder hat kein Recht zu leben. Er erschießt sich.

Man hört Hundegebell. Die Tür wird aufgebrochen. Hereinkommen der Postmeister und die Kutscher.

POSTMEISTER Siehst du, doch ein Duell.

KUTSCHER untersucht die Leichen Der eine röchelt noch, der

andere hat den Geist schon lange aufgegeben. POSTMEISTER Was stehn wir hier. Griška, nimm den Braunen

und reite, hol den Herrn Hauptmann Untersuchungsrichter.

Ivan Turgenev

Das Frühstück beim Adelsmarschall

Personen:

NlKOLAJ IVANOVIČ BALAGALAEV, Adelsmarschall, 45 J. PETR PETROVIČ PECHTERJEV, ehemaliger Adelsmarschall, 60 J. EVGENIJ TlCHONOVIČ SUSLOV, Richter.

ANTON SEMENOVIČ ALUPKIN, Gutsbesitzer, Nachbar.

MlRVOLIN, armer Gutsbesitzer, Nachbar.

FERAPONT ILJIČ BESPANDIN, Gutsbesitzer.

ANNA ILJINIŠNA KAUROVA, seine Schwester, Witwe, 45 J.

PORHRIJ IGNATJEVIČ NAGLANOVIČ, Landgendarm.

WELWICKI, Sekretär des Adelsmarschalls.

GERASIM, Kammerdiener Balagalaevs.

KARP, Kutscher der Kaurova.

Ort der Handlung: das Gut Balagalaevs.

Die Bühne stellt das Speisezimmer dar. In der Mitte der Ausgang, rechts das Kabinett, an der Rückwand Fenster, seitlich ein zum Imbiß gedeckter Tisch. Gerasim kümmert sich um den Tisch. Wenn er das Rattern einer Equipage hört, tritt er ans Fenster.

i. Auftritt

Gerasim und Mirvolin.

MlRVOLIN Guten Tag, Gerasim! wie gehts?... Hat er sich noch

nicht blicken lassen? GERASIM deckt weiter den Tisch Guten Tag. Wo haben Sie das

Pferd her?

28 Ivan Turgenev

MlRVOLlN Nicht schlecht, das Pferdchen, nicht wahr? Gestern

hat man mir zweihundert Rubel dafür geboten. GERASIM Wer hat das geboten? MlRVOLlN Ein Kaufmann aus Karačev. GERASIM Und Sie haben nicht verkauft? MlRVOLlN Warum nicht? ich brauche es doch selbst. Ach, mein

Freund, gib mir mal ein Gläschen. Ich hab da was im Hals,

weißt du, und außerdem die Hitze... Trinkt und ißt etwas

dazu. Deckst du für ein Frühstück? GERASIM Sieht das aus wie fürs Mittagessen? MlRVOLlN Wie viele Gedecke! Wird Besuch erwartet? GERASIM Das sieht man doch. MlRVOLlN Du weißt nicht, wer kommt? GERASIM Nein, weiß ich nicht. Es heißt, sie wollten heute

Bespandin mit seiner Schwester aussöhnen. Das ist der Anlaß,

glaube ich. MlRVOLlN A-ah! wirklich? Ja, das ist gut. Sie müssen endlich

Schluß machen und teilen. Es ist doch eine Schande. Und

stimmt es, was man hört, Nikolaj Ivanyč will Bespandin den

Wald abkaufen?

GERASIM Ach, weiß der liebe Gott! MlRVOLlN beiseite Dann könnte ich ihn um Holz bitten. BALAGALAEV hinter der Bühne Filka! Ruf mir Welwicki. MlRVOLlN Die Tür vom Kabinett in den Salon steht also

offen... Ach, Garasja, ein zweites Gläschen... GERASIM Na? Der Hals ist wohl ganz... MlRVOLlN Ja, Freund, da kratzt mich was. Trinkt und ißt etwas

nach. Gerasim ab.

2. Auftritt

Die Vorigen, Balagalaev und Welwicki.

BALAGALAEV So, so, genau so und nicht anders teilst du es auf, -

hörst du? Zu Mirvolin. Ah, du, guten Tag! MlRVOLlN Meine untertänigste Verehrung, Nikolaj Ivanyč.

_J

Das Frühstück beim Adelsmarschall 29

BALAGALAEV zu Welwicki Wie ich dir sagte, verstehst du...

Du hast doch verstanden? WELWICKI Aber ja doch, ja doch. BALAGALAEV Dann ist gut. Jetzt geh... Ich laß es dich wissen,

ich lasse dich rufen. Du kannst gehn. WELWICKI Zu Befehl. Also die Papiere in der Sache der Witwe

Kaurova vorbereiten, ja?... BALAGALAEV Ja natürlich, natürlich... Ich muß doch staunen!

Du mußt endlich verstehen, Freundchen. WELWICKI Aber Sie haben mir nicht zu sagen geruht... BALAGALAEV Es reicht! Ich kann dir doch nicht alles sagen! WELWICKI Zu Befehl! Geht ab. BALAGALAEV Nicht eben schnell von Begriff, dieser junge

Mann. Zu Mirvolin. Und, wie gehts? Setzt sich. MlRVOLIN Ich kann nicht klagen, Nikolaj Ivanyč, Gott sei

Dank. Und wie ist Ihr wertes Befinden? BALAGALAEV Alles in Ordnung. Warst du in der Stadt? MlRVOLIN Aber ja doch, war ich; übrigens nichts Neues. Den

Kaufmann Seledkin hat vorgestern der Schlag getroffen; kein

Wunder bei ihm. Der Rechtsverdreher soll gestern wieder

einmal seine Frau Gemahlin hm... BALAGALAEV Tatsächlich? Der gibt doch keine Ruhe! MlRVOLIN Zuravlev den Doktor habe ich gesehen, er läßt Sie

grüßen. Petr Petrovič mit seiner neuen Kutsche habe ich

getroffen. Er fuhr wohl jemanden besuchen, mit Lakai, und

der Lakai mit einem neuen Hut. BALAGALAEV Er kommt heute zu mir. Und, ist seine Kutsche

gut? MlRVOLIN Wie soll ich Ihnen das sagen? Nein, eigentlich nicht:

von außen macht sie etwas her, aber im Grunde, - nein, ich

weiß nicht, mir gefällt sie nicht. Kein Vergleich mit Ihrer

Kutsche!

BALAGALAEV Meinst du? Ist sie horizontal gefedert? MlRVOLIN Horizontal, das schon; aber welchen Sinn soll das

haben? ich bitte Sie! das ist doch nur zum Renommieren. Aber

er macht sich ja gern ein wenig wichtig. Wie man hört, soll er

die Absicht haben, wieder zu kandidieren.


Ivan Turgenev

BALAGALAEV Als Adelsmarschall?

MlRVOLIN Sehr wohl. Ja nun! Er möchte eben gern wieder mit den Rappen spazierenfahren.

BALAGALAEV Meinst du? Übrigens muß sich sagen, Petr Petro-vič ist ein höchst ehrenwerter Mensch in jeder Beziehung und verdient es durchaus... Andererseits natürlich, die schmeichelhafte Aufmerksamkeit von Seiten der Adligen... Trink einen Vodka.

MlRVOLIN Ergebensten Dank.

BALAGALAEV Was? hast du schon was getrunken?

MlRVOLIN Getrunken? durchaus nicht, nein, ich habs auf der Brust... Hüstelt.

BALAGALAEV Ach, Blödsinn! trink.

MlRVOLIN trinkt Auf Ihre Gesundheit. Aber wissen Sie was, Nikolaj Ivanyč, wissen Sie, das Petr Petrovič in Wirklichkeit nicht Pechterjev heißt, sondern Pechterev, - Pechterev, und nicht Pechterjev.

BALAGALAEV Meinst du? und wieso?

MlRVOLIN Wie sollten wir das nicht wissen! ich bitte Sie! Wir haben seinen Vater und auch seine Großväter gekannt, alle. Und alle haben sich Pechterev genannt; Pechterev wie eh und je, und nicht Pechterjev. Den Namen Pechterjev hat es hier nie gegeben... wieso auf einmal Pechterjev?

BALAGALAEV Ah!... Übrigens, ist das nicht egal? wenn er nur ein gutes Herz hat.

MlRVOLIN Ganz recht, wie Sie sagten: wenn er nur ein gutes Herz hat. Mit einem Blick zum Fenster. Da ist jemand gekommen.

BALAGALAEV Und ich noch im Morgenrock. Das kommt, weil ich mich mir dir verschwatzt habe. Steht auf.

ALUPKIN hinter der Bühne Du meldest A-a-alupkin, Adeliger...

GERASIM Ein Herr Alupkin will Sie sprechen.

BALAGALAEV Alupkin? Wer kann das sein? Ich lasse bitten. Nimm du ihn in Empfang, bitte. Ich komme gleich... Geht ab.


Das Frühstück beim Adelsmarschall 31

3. Auftritt Mirvolin und Alupkin.

MlRVOLIN Nikolaj Ivanovič werden gleich kommen. Möchten Sie nicht geruhen, einstweilen Platz zu nehmen?

ALUPKIN Danke ergebenst. Stehe lieber. Gestatten Sie die Frage, mit wem habe ich die Ehre?

MlRVOLIN Mirvolin, Gutsbesitzer, hier ansässig... vielleicht haben Sie schon von mir gehört?

ALUPKIN Absolut nicht, nie gehört... Übrigens, sehr erfreut. Gestatten Sie die Frage, ist die Baldašova, Tatjana Semenovna, mit Ihnen verwandt?

MlRVOLIN Absolut nicht. Was für eine Baldašova?

ALUPKIN Gutsbesitzerin aus Tambov, Witwe.

MlRVOLIN Ah! aus Tambov!

ALUPKIN Jawohl, aus Tambov, Witwe. Und gestatten Sie die Frage, kennen Sie den hiesigen Landgendarm?

MlRVOLIN Porfirij Ignatjič? Und ob! ein alter Freund!

ALUPKIN Die widerlichste Bestie auf der ganzen Welt. Sie müssen entschuldigen, ich bin immer gerade heraus, Offizier: gewöhnt, mich direkt auszudrücken, ohne Umschweife. Und ich muß Ihnen sagen...

MlRVOLIN Möchten Sie nicht eine Kleinigkeit essen, nach der Fahrt?

ALUPKIN Danke ergebenst. Ich muß Ihnen sagen, ich bin erst seit kurzem in dieser Gegend; früher habe ich mehr im Gouvernement Tambov gelebt. Aber da ich, nach dem Tode meiner Frau, im hiesigen Landkreis zweiundfünfzig Seelen geerbt habe...

MlRVOLIN Und wo, wenn ich fragen darf?

ALUPKIN Dorf Trjuchino, fünf Verst von der großen Straße nach Voronez.

MlRVOLIN Ah, ich weiß, ich weiß! ein hübsches Landgut.

ALUPKIN Der reine Dreck: nichts als Sand... Also, weil ich das nach dem Tode meiner Frau geerbt habe, hielt ich für ratsam, hierhier zu übersiedeln, um so eher, als mir mein Haus in.

32 Ivan Turgenev

Tambov, mit Verlaub, schier über dem Kopf zusammenbrach. So bin ich übersiedelt, - und? Ihr Landgendarm hat es bereits fertiggebracht, mich auf die frechste Weise zu schädigen.

MlRVOLIN Was Sie nicht sagen! wie unangenehm!

ALUPKIN Nein, gestatten Sie, gestatten Sie. Einem anderen wäre es ja womöglich egal; aber ich habe eine Tochter, Ekatarina, � bedenken Sie bitte; doch ich hoffe auf Nikolaj Ivanyč. Ich hatte zwar erst zweimal die Ehre, ihn zu sehen, aber ich habe so viel über seinen Gerechtigkeitssinn gehört...

MlRVOLIN Da kommen er persönlich...

4. Auftritt

Die Vorigen und Balagalaev (in Frack. Alupkin verbeugt sich).

BALAGALAEV Es ist mir sehr angenehm. Bitte nehmen Sie

Platz... Ich... ich weiß, ich hatte bereits das Vergnügen, Sie

bei dem ehrenwerten Afanasij Matveič zu sehen. ALUPKIN So ist es. BALAGALAEV Sie gehören also seit kurzem zu uns, - Sie sind erst

vor kurzem in unseren Landkreis übersiedelt, nicht wahr?... ALUPKIN So ist es. BALAGALAEV Ich hoffe, Sie werden es nie bereuen. Kurzes

Schweigen. Ein heißer Tag ist das heute... ALUPKIN Nikolaj Ivanovič, gestatten Sie einem alten Soldaten,

offen zu Ihnen zu sprechen. BALAGALAEV Ich bitte darum. Worum geht es? ALUPKIN Nikolaj Ivanovič! Sie sind unser Adelsmarschall.

Nikolaj Ivanovič! Sie sind, so zu sagen, unser zweiter Vater;

ich bin selber Vater, Nikolaj Ivanovič! BALAGALAEV Glauben Sie mir, ich weiß und fühle das alles nur

zu gut; das ist meine Pflicht. Außerdem die schmeichelhafte

Aufmerksamkeit von Seiten der Adeligen... Sprechen Sie,

worum geht es? ALUPKIN Nikolaj Ivanovič! Ihr Landgendarm ist ein Spitzbube

erster Sorte, mit Verlaub.

Das Frühstück beim Adelsmarschall 33

BALAGALAEV Hm! Sie befleißigen sich einer starken Sprache.

ALUPKIN Nein, gestatten Sie, gestatten Sie! haben Sie die Güte, mich anzuhören... Dem Nachbarbauern Filipp soll mein Bauer einen Ziegenbock gestohlen haben... Aber gestatten Sie die Frage, was soll mein Bauer mit einem Ziegenbock?... Nein, sagen Sie mir, was soll ein Bauer mit einem Ziegenbock? Und schließlich, warum soll ausgerechnet mein Bauer diesen Ziegenbock gestohlen haben? warum nicht ein anderer? Wo sind die Beweise? Nehmen wir sogar einmal an, mein Bauer sei tatsächlich der Schuldige, - was habe ich damit zu tun? wieso bin ich dafür verantwortlich? wieso behelligt man mich? Ja, soll ich am Ende für jeden Ziegenbock gradestehen? Und der Landgendarm das Recht haben, mir grob zu kommen... ich bitte Sie! Er sagt: der Ziegenbock ist unter Ihrem Vieh gefunden worden... Soll er sich zum Teufel scheren mitsamt seinem Ziegenbock! Hier geht es nicht um einen Ziegenbock, sondern um den Anstand!

BALAGALAEV Gestatten Sie, ich verstehe nicht ganz. Sie sagen, Ihr Bauer habe den Ziegenbock gestohlen?

ALUPKIN Nein, das sage nicht ich, das sagt der Landgendarm.

BALAGALAEV Aber dafür, denke ich, gibt es doch den Rechtsweg. Ich weiß wirklich nicht, warum Sie belieben, sich damit an mich zu wenden?

ALUPKIN An wen denn dann, Nikolaj Ivanyč? Bitte bedenken Sie doch. Ich bin ein alter Soldat, ich habe eine Kränkung empfangen, meine Ehre ist verletzt. Der Landgendarm sagt zu mir, und das auf die frechste Weise: er sagt, ich lasse Sie gleich... Also ich bitte Sie!

GERASIM tritt ein Evgenij Tichonyč ist gekommen.

BALAGALAEV steht auf Entschuldigen Sie mich bitte... Evgenij Tichonyč! Treten Sie ein! Wie ist Ihr wertes Befinden?

34

Ivan Turgenev

5. Auftritt

Die Vorigen und Suslov.

SUSLOV Gut, gut! danke... Meine Herren! habe die Ehre...

MlRVOLIN Unseren Gruß, Evgenij Tichonyč!

SUSLOV Ah, guten Tag!

BALAGALAEV Und wie geht es der Frau Gemahlin?

SUSLOV Lebt... Ist das eine Hitze! Wenn Sies nicht wären,

Nikolaj Ivanyč, ich hätte mich nicht von der Stelle gerührt. BALAGALAEV Danke, danke. Wollen Sie sich nicht bedienen?

Zu Alupkin. Sie entschuldigen... wie heißen Sie mit Vor- und

Vatersnamen? ALUPKIN Anton Semenov. BALAGALAEV Mein Lieber Anton Semenyč, Sie werden mir Ihre

Unannehmlichkeiten später auseinandersetzen, aber jetzt...

Sie sehen ja selbst... Ich meinerseits werde, glauben Sie mir,

Ihnen besondere Aufmerksamkeit schenken, - beruhigen Sie

sich. Sind Sie mit Evgenij Tichonyč bekannt? ALUPKIN Nein, ganz und gar nicht. BALAGALAEV Dann darf ich Ihnen vorstellen: unseren Richter,

ein höchst vornehmer Mensch in jeder Beziehung, eine offene

Seele, ein höchst ehrenwerter Mann... Evgenij Tichonyč! SUSLOV am Tisch, essend Was ist? BALAGALAEV Gestatten Sie, daß ich Sie bekanntmache mit

einem neuen Einwohner unseres Kreises: Alupkin, Anton

Semenyč, ein neuer Gutsbesitzer.

SUSLOV ißt weiter Sehr angenehm. Von wo kommen Sie? ALUPKIN Aus dem Gouvernement Tambov. SUSLOV Ah! in Tambov lebt ein Verwandter von mir, ein

schrecklicher Schwachkopf. Aber Tambov ist ganz gut, eine

schöne Stadt.

ALUPKIN Die Stadt ist wirklich ganz schön. SUSLOV Aber was machen denn unsere beiden Hübschen?...

wollen sie überhaupt nicht kommen? BALAGALAEV Das glaube ich nicht. Auch mich wundert, daß sie

noch nicht da sind... Sie hätten als erste hier zu sein.

Das Frühstück beim Adelsmarschall 3 5

SUSLOV Und was meinen Sie, werden wir es schaffen, sie miteinander auszusöhnen?

BALAGALAEV Man muß es hoffen... Ich habe auch Petr Petro-vič gebeten zu kommen. Ah! ä propos! gestatten Sie, Anton Semenyč, daß ich mich mit einer Bitte an Sie wende. Sie können uns in einer Sache helfen, die, so zu sagen, alle Adeligen gleichermaßen betrifft.

ALUPKIN So-o.

BALAGALAEV Wir haben hier bei uns einen Gutsbesitzer, Be-spandin, ein guter Mensch, wie man meinen sollte, aber ziemlich verdreht, das heißt auch nicht verdreht, sondern was weiß ich! Bespandin hat eine Schwester, die Kaurova, Witwe: eine Frau, um die Wahrheit zu sagen, dumm bis dort hinaus, halsstarrig... Aber Sie werden sie ja sehen.

MlRVOLIN Das liegt bei denen in der Familie, Nikolaj Ivanyč: ihr Mütterlein, die verstorbene Pelageja Arsenjevna, war sogar noch schlimmer. Der soll in jungen Jahren ein Ziegelstein auf den Kopf gefallen sein: deshalb wäre möglich...

BALAGALAEV Schon möglich, ja. Daß darum die Natur... Also - zwischen diesem Bespandin und seiner Schwester, der Witwe Kaurova, herrscht schon das dritte Jahr Streit wegen des Erbteils. Ihre Tante, beiden verwandt, hat ihnen beiden testamentarisch ein Gut hinterlassen - und zwar ein selbst erworbenes Gut, schuldenfrei... Nun, und sie bringen es nicht fertig, sich darein zu teilen, ums Verplatzen nicht... Vor allem das liebe Schwesterlein ist einfach mit nichts einverstanden. Die Sache kam vor Gericht; an höchster Stelle haben sie unentwegt Gesuche eingereicht: wie lange soll das so gehen, bis ein Unglück geschieht? Deshalb habe ich beschlossen, endlich, so zu sagen, mit fester Hand die Wurzel des Übels zu durchschneiden, ihnen Einhalt zu gebieten, sie endlich zur Vernunft zu bringen... Ich habe ihnen heute ein Treffen verordnet, aber zum letzten Mal; sonst werde ich andere Maßnahmen ergreifen... Warum soll eigentlich ich mich damit herumquälen? Soll das Gericht entscheiden. Als Friedensstifter, als Zeugen habe ich den verehrten Evgenij Tichonyč hergebeten. Petr Petrovič Pechterev, den ehemali-

Ivan Turgenev

gen Adelsmarschall... Und möchten nicht auch Sie uns helfen in dieser Sache?

ALUPKIN Mit Vergnügen... aber da ich nicht mit ihnen bekannt bin, scheint mir...

BALAGALAEV Ach was! Das macht nichts... Sie sind ein hier ansässiger Gutsbesitzer, ein vernünftiger Mann. Im Gegenteil, es ist sogar besser: sie werden nicht zweifeln können an Ihrer unparteiischen Meinung.

ALUPKIN Bitte sehr, ich bin bereit.

GERASIM tritt ein Frau Kaurova ist gekommen.

BALAGALAEV Wenn man den Teufel nennt...

6. Auftritt

Die Vorigen und Kaurova (mit Hut, Ridikül).

BALAGALAEV Ah, endlich! Treten Sie ein, Anna Iljinišna! Treten Sie ein... Hierher... wenn ich bitten darf.

KAUROVA Ferapont Iljič ist noch nicht da?

BALAGALAEV Nein, noch nicht; aber er wird jetzt gleich kommen. Möchten Sie nicht eine Kleinigkeit essen?

KAUROVA Ergebensten Dank. Ich esse nur Fastenspeise.

BALAGALAEV Aber bitte, da ist Rettich, Gurken ... Ein Glas Tee vielleicht?

KAUROVA Nein, ergebensten Dank: ich habe bereits gefrühstückt. Entschuldigen Sie bitte, Nikolaj Ivanyč, wenn ich mich verspätet habe. Setzt sich. Und Gott sei gedankt, daß ich heil und unversehrt angekommen bin; mein Kutscher hätte mich um ein Haar aus dem Wagen geworfen.

BALAGALAEV Was Sie nicht sagen, die Straße ist doch gar nicht so schlecht.

KAUROVA Mit der Straße hat das nichts zu tun, Nikolaj Ivanyč; oh, nein, mit der Straße nicht!... Also, ich bin gekommen, Nikolaj Ivanyč, nur ich verspreche mir rein gar nichts davon. Mir ist der Charakter von Ferapont Ivanyč nur zu gut bekannt... oh, nur zu gut!

Das Frühstück beim Adelsmarschall 37

BALAGALAEV Na, das werden wir schon sehen, Anna Iljinišna! Ich hoffe im Gegenteil sehr, daß wir mit Ihrer Sache heute zu einem Ende kommen; es ist Zeit.

KAUROVA Gebs Gott, gebs Gott. Ich, wie Sie wissen, Nikolaj Ivanyč, bin mit allem einverstanden. Ich bin ein friedliebender Mensch... Ich werde nicht widersprechen, Nikolaj Ivanyč; wie sollte ich auch? Ich bin eine schutzlose Witwe: ich hoffe allein auf Sie... Aber Ferapont Iljič will mich ausrauben... Ja nun? Gott steh ihm bei! wenn er nur meine minderjährigen Kinder nicht zugrunderichtet. Es geht mir doch nicht um mich!...

BALAGALAEV Nicht doch, Anna Iljinišna, nicht doch! Ich stelle Ihnen lieber unseren neuen Nachbarn vor, Gutsbesitzer Alup-kin, Anton Semenyč.

KAUROVA Sehr erfreut, sehr erfreut.

BALAGALAEV Er wird, wenn Sie gestatten, an unserem Gespräch teilnehmen.

KAUROVA Einverstanden, Nikolaj Ivanyč, ich bin mit allem einverstanden. Von mir aus rufen Sie den ganzen Landkreis, das ganze Gouvernement zusammen: mein Gewissen, Nikolaj Ivanyč, ist rein. Ich weiß, jeder wird für mich eintreten. Niemand wird zulassen, daß mir ein Unrecht geschieht... Und wie ist Ihr Befinden, Evgenij Tichonyč?

SUSLOV Mir gehts gut. Was soll mit mir schon sein? Danke ergebenst.

MlRVOLIN kUßt der Kaurova die Hand Und wie geht es Ihren Kinderchen, Anna Iljinišna?

KAUROVA Gott sei Dank, sie sind noch am Leben. Aber wie lange noch? Bald, bald werden sie Vollwaisen sein, die Ärmsten!

SUSLOV Genug doch! Warum sagen Sie so etwas, Anna Iljinišna? Sie werden uns alle überleben, meine Teure!

KAUROVA Wie, warum ich so etwas sage? Es gibt eben Gründe, mein Herr, wenn ich nicht mehr schweigen kann. Das ist es ja! und das will ein Richter sein. Ich werde doch nicht etwas sagen, ohne Beweise dafür zu haben!

SUSLOV Und was für Beweise sind das ?

Ivan Turgenev

KAUROVA Bittesehr, bittesehr... Nikolaj Ivanyč, lassen Sie

meinen Kutscher rufen. BALAGALAEV Wen? KAUROVA Den Kutscher, meinen Kutscher, Karpuška. Er heißt

Karpuška.

BALAGALAEV Wozu?

KAUROVA Lassen Sie ihn rufen. Hier, Evgenij Tichonyč verlangt Beweise...

BALAGALAEV Aber gestatten Sie, Anna Iljinišna... KAUROVA Nein, tun Sie uns den Gefallen. BALAGALAEV Also schön. Z# Mirvolin. Bitte, Freundchen,

lauf, hol ihn her. MIRVOLIN Sofort. Geht ab. KAUROVA Nie wollen Sie mir glauben, Evgenij Tichonyč. Es ist

ja nicht das erste Mal! Gott mit Ihnen! ALUPKIN Aber gestatten Sie, ich verstehe noch immer nicht,

wozu Sie Ihren Kutscher brauchen. Was hat denn hier ein

Kutscher verloren?... Verstehe ich nicht. KAUROVA Sie werden schon sehen. ALUPKIN Verstehe ich nicht.

7. Auftritt

Die Vorigen und Karp und Mirvolin.

MIRVOLIN Hier ist der Kutscher.

KAUROVA Karpuška... hör zu... sieh mich an; diese Herren wollen mir nicht glauben, daß dich Ferapont Iljič mehrmals zu bestechen versucht hat... Hörst du, was ich sage?

SUSLOV Nun, du schweigst, mein Lieber? Hat ihr Bruder dich bestochen?

KARP Wie, bestochen?

SUSLOV Das weiß ich nicht. Anna Iljinišna sagt das.

KAUROVA Karpuška! hör zu, sieh mich an... Du erinnerst dich doch, heute hättest du mich beinahe aus dem Wagen geworfen ... erinnerst du dich?

Das Frühstück beim Adelsmarschall 39

KARP Wo?

KAUROVA Wo?... Dummkopf!... An der Straßengabelung, kurz vor dem Wehr. Beinahe wäre ein Rad abgesprungen.

KARP Zu Befehl.

KAUROVA Und erinnerst du dich, was ich zu dir gesagt habe? Ich habe zu dir gesagt: »Gib zu, - sagte ich, - Ferapont Iljič hat dich bestochen: Karpuška, hat er zu dir gesagt, wirf deine Herrin aus dem Wagen, damit sie sich zu Tode stürzt, ich lasse dich nachher auch nicht im Stich, mein Lieber...« Und erinnerst du dich, was du darauf geantwortet hast?... Du hast mir geantwortet: »Entschuldigung, gnädige Frau, wirklich, ich entschuldige mich bei Ihnen.«

SUSLOV Aber gestatten Sie, Anna Iljinišna: Entschuldigung -das beweist noch gar nichts... Was hat er damit sagen wollen? Ob er zugeben wollte, daß er sich hat bestechen lassen und Sie mit Vorbedacht aus dem Wagen schleudern wollte - das müssen wir herausbekommen... Hast du das zugegeben?... wie?... ja?...

KARP Was zugegeben?

KAUROVA Karpuška! hör zu, sieh mich an... Ferapont Iljič hat dich doch bestechen wollen? Natürlich hast du es nicht zugegeben... Aber ich sage doch die Wahrheit?

KARP Wie beliebten Sie zu sagen?

KAUROVA Da, sehen Sie...

SUSLOV Aber gestatten Sie, gestatten Sie!... Antworte mir, mein Lieber, aber vernünftig, nimm dich zusammen...

KAUROVA Nein, jetzt gestatten mal Sie, Evgenij Tichonyč! damit bin ich nicht einverstanden. Sie wollen ihn einschüchtern - das erlaube ich nicht. Geh, Karpuška, geh; schlaf dich aus; sonst schläfst du noch ganz ein. Karp geht ab. Aber von Ihnen, Evgenij Tichonyč, hätte ich das, offen gestanden, nicht erwartet. Womit habe ich das verdient?

SUSLOV Und was wollen Sie uns hier hinters Licht führen ?!...

BALAGALAEV Aber nicht doch, Anna Iljinišna! setzen Sie sich, beruhigen Sie sich. Wir werden das alles untersuchen.

GERASIM tritt ein Herr Bespandin ist gekommen.

BALAGALAEV Ah, endlich! Ich lasse selbstverständlich bitten.

40 Ivan Turgenev

8. Auftritt

Die Vorigen und Bespandin.

BALAGALAEV Ah, guten Tag!... Sie haben aber lange auf sich warten lassen.

BESPANDIN Entschuldigung, Entschuldigung, Nikolaj Ivanyč! Ich hatte da ein Problem... Guten Tag, Evgenij Tichonyč, makelloser Richter! wie geht es?

SUSLOV Guten Tag!

BESPANDIN Denken Sie sich... Verbeugt sich in Richtung seiner Schwester. Was mich aufgehalten hat... Stellen Sie sich vor: man hat mir meinen Sattel gestohlen... und wer ihn gestohlen hat - nicht herauszukriegen!... Nichts zu machen: ich mußte den meines Reitknechts nehmen. Trinkt. Wissen Sie, ich reite doch überall hin, aber dieser Sattel miserabel, ausgeleiert... Trab zu reiten war einfach nicht möglich...

BALAGALAEV Ferapont Iljič! darf ich Sie bekannt machen... Alupkin, Anton Semenyč...

BESPANDIN Sehr erfreut... Sind Sie Jäger?

ALUPKIN Jäger? in welchem Sinne?

BESPANDIN In welchem Sinne? na selbstverständlich im Sinne von Wild, von Hunden...

ALUPKIN Nein, Hunde kann ich nicht ausstehen, und mit dem Gewehr schieße ich nur auf sitzende Vögel.

BESPANDIN lacht Sitzende Vögel...

BALAGALAEV Aber entschuldigen Sie, meine Herren! Gestatten Sie, daß ich Ihr interessantes Gespräch unterbreche. Über Hunde und sitzende Vögel können wir uns ein andermal unterhalten. Jetzt indessen schlage ich vor, daß wir, ohne Zeit zu verlieren, auf unsere Sache kommen, derentwegen wir uns hier versammelt haben. Wir können schon ohne Petr Petrovič beginnen... was meinen Sie?

SUSLOV Meinetwegen!

BALAGALAEV Und deshalb, Ferapont Iljič, bitte ich Sie erge-benst, Platz zu nehmen, und Sie auch, Anton Semenyč! Sie setzen sich.

Das Frühstück beim Adelsmarschall 41

BESPANDIN Nikolaj Ivanyč, ich achte Sie von ganzem Herzen und habe Sie immer geachtet und bin ja auch jetzt, auf Ihren Wunsch, gekommen; nur gestatten Sie, daß ich Ihnen im voraus sage: wenn Sie hoffen, daß Sie auch nur irgend etwas Vernünftiges erreichen bei meiner hochverehrten Frau Schwester, so muß ich Sie warnen...

KAUROVA fährt auf Da sehen Sie, Nikolaj Ivanyč, da sehen Sie selbst...

BALAGALAEV Gestatten Sie, gestatten Sie, Ferapont Iljič, und auch Sie, Anna Iljinišna! ich muß Sie bitten, zuerst mich anzuhören. Ich hatte das Vergnügen, Sie beide heute zu mir zu bitten, um Ihrem Zwist ein für alle Male ein Ende zu setzen. Bedenken Sie doch, was für ein Beispiel Sie geben: Bruder und Schwester, so zu sagen aus einem Mutterleib...

BESPANDIN Gestatten Sie, Nikolaj Ivanyč...

ALUPKIN Herr Bespandin, bitte nicht zu unterbrechen.

BESPANDIN Und wie kommen Sie dazu, mir Belehrungen zu erteilen?

ALUPKIN Ich will Ihnen keine Belehrungen erteilen, sondern, weil Nikolaj Ivanyč mich darum gebeten hat...

BALAGALAEV Ja, Ferapont Iljič, ich habe ihn, zusammen mit unserem Evgenij Tichonyč, um Vermittlung gebeten... Ferapont Iljič! Anna Iljinišna! Ich wende mich an Sie... Wie denn das? Bruder und Schwester, geboren, so zu sagen, aus einem Mutterleib, und können nicht in Einklang leben, in Frieden, in Eintracht!.. Ferapont Iljič! Anna Iljinišna! - Kommen Sie zur Vernunft, sage ich Ihnen! Denn wozu sage ich Ihnen das alles?... doch nur zu Ihrem eigenen Besten... Überlegen Sie, was habe ich denn davon? ich sage es nur zu Ihrem eigenen Besten!

BESPANDIN Aber Nikolaj Ivanyč, Sie wissen doch gar nicht, was für eine Frau das ist! Hören Sie doch nur mal zu, wenn sie redet; das ist doch weiß der liebe Gott was... ich bitte Sie!

KAUROVA Und Sie, was sind Sie! Sie bestechen meinen Kutscher, schicken die Dienstmädchen mit Gift zu mir - Sie sind auf meinen Tod aus. Ich kann mich nur wundern, daß ich immer noch am Leben bin!...

Ivan Turgenev

BESPANDIN Welchen Kutscher habe ich bestochen... was sagen Sie da, was?

KAUROVA Jawohl, mein Herr! Er ist bereit, alles auf seinen Eid zu nehmen. Die Herren hier sind Zeugen.

BESPANDIN an die Übrigen gewandt Was redet sie da für einen Blödsinn?

ALUPKIN zur Kaurova Gestatten Sie, gestatten Sie! berufen Sie sich nicht auf mich. Ich habe absolut nichts von dem verstanden, was der Kutscher gesagt hat. Das ist wieder so was wie mein Ziegenbock.

KAUROVA Ihr Ziegenbock? Wo hat mein Kutscher Ähnlichkeit mit einem Ziegenbock? Schauen Sie lieber sich selbst an...

BALAGALAEV Hören Sie auf, meine Herrschaften, um Gottes willen!... Anna Iljinišna! Ferapont Iljič! Warum wollen Sie einander ewig Vorwürfe machen?... Wäre es nicht besser, das Vergangene zu vergessen?... Schließen Sie einander in die Arme! Sie schweigen...

BESPANDIN Ja aber... Ich bitte Sie! Wie denn das! Wenn ich das gewußt hätte, nie im Leben wäre ich gekommen!

KAUROVA Und ich wäre auch nicht gekommen.

BALAGALAEV Wie konnten Sie mir dann vorhin sagen, Sie seien mit allem einverstanden?

KAUROVA Bin ich doch, mit allem, aber damit nicht.

SUSLOV Ach, Nikolaj Ivanyč! Gestatten Sie, aber Sie haben die Sache falsch eingefädelt. Sie kommen denen mit Frieden und Eintracht... Sehen Sie denn nicht, was das für Menschen sind?

BALAGALAEV Und wie hätte ich es anstellen sollen, Evgenij Tichonyč?

SUSLOV Wieso? wozu haben Sie die beiden herbestellt? ... zur Teilung des Erbes. Um die geht doch der ganze Streit. Und solange die sich nicht einigen, so lange haben weder Sie noch ich noch irgend jemand Ruhe, so lange können wir, statt bei solcher Hitze zu Hause zu sitzen, über die Landstraßen holpern. Schlagen Sie eine gerechte Teilung vor, wenn Sie sie zu überreden hoffen... Wo sind die Pläne?

BALAGALAEV Also gut. Gerasim!

Das Frühstück beim Adelsmarschall 43

GERASIM tritt ein Sie befehlen?

BALAGALAEV Hol mir Welwicki.

BESPANDIN Ich erkläre im voraus, ich bin mit allem einverstanden; was Nikolaj Ivanyč auch immer sagen mag, so soll es geschehen.

KAUROVA Ich auch.

SUSLOV Wir werden ja sehn.

MlRVOLIN Das ist löblich, sehr löblich.

9. Auftritt

Die Vorigen und Welwicki, mit den Plänen.

BALAGALAEV Ah! komm her. Entfaltet die Pläne. Bring mal das Tischchen her... So, bitte schauen Sie... so... »Dörfchen Kokuškino, nebst Rakovo, gemäß der achten Revision an Seelen männlichen Geschlechts 94...« Schauen Sie mal, wie alles über und über mit Bleistift verkrakelt ist: wir schlagen uns ja nicht zum ersten Mal mit diesem Plan herum ... »An Land insgesamt 712 Dejatinen, davon untauglich 81, zum Herrschaftsgut und Gemeindeanger gehörig 9; verstreut liegendes Ackerland vorhanden, aber wenig.« Dieses Gut haben wir zu gleichen Teilen aufzuteilen zwischen dem Kollegienregistrator a. D. Ferapont Bespandin und seiner Schwester, der Witwe des Leutnants Kaurov; beachten Sie bitte sehr zu gleichen Teilen, so steht es im Testament Ihrer verstorbenen Frau Tante, der Architektenwitwe Filoka-losova.

BESPANDIN Die Alte war, bevor sie starb, nicht mehr ganz bei Trost. Hätte sie alles mir vermacht! gäbe es keine Unannehmlichkeiten ...

KAUROVA Sehen Sie, so ist er!

BESPANDIN Na, und Sie hätten den gesetzlichen Pflichtanteil gekriegt... Aber was kann man von einem Weib schon Vernünftiges erwarten!... Naja, Sie haben ja jeden Morgen ihr Schoßhündchen gewaschen und gekämmt.

44 Ivan Turgenev

KAUROVA Das ist gelogen! ich und ein Hundevieh kämmen!... Wer bin ich denn!... Bei Ihnen ist das was anderes: Sie sind als Hundenarr bekannt; Sie sollen ja, - Gott vergib mir Sünderin! - Ihren Köter immer mitten auf die Schnauze küssen.

BALAGALAEV Meine Herrschaften! ich muß Sie beide noch um ein wenig Ruhe bitten... Also: schon über drei Jahre sind vergangen, seit ihre Frau Tante gestorben ist, und stellen Sie sich vor, noch immer gibt es keine Lösung. Schließlich habe ich mich bereiterklärt, zwischen ihnen zu vermitteln, das ist, Sie verstehen, meine Pflicht; aber leider habe ich bis heute nicht das geringste erreicht. Bitte sehen Sie, worin die Hauptschwierigkeit besteht: Hr. Bespandin und seine Frau Schwester wünschen nicht, unter einem Dach zu leben; folglich müßte man das Herrenhaus teilen. Aber das ist unmöglich!

BESPANDIN nach kurzer Pause Gut... ich verzichte auf das Haus; Gott mit ihm.

BALAGALAEV Sie verzichten?

BESPANDIN Ja, aber ich hoffe auf eine Entschädigung.

BALAGALAEV Natürlich, diese Forderung ist berechtigt.

KAUROVA Nikolaj Ivanyč! das ist eine List. Das ist eine Falle, die er stellt, Nikolaj Ivanyč! So hofft er, daß er das beste Land bekommt, die Hanffelder und so weiter. Wozu braucht er ein Haus? Er hat ja eins. Und das Haus unserer Tante ist ohnehin schlecht genug.

BESPANDIN Wenn es so schlecht ist...

KAUROVA Und die Hanffelder trete ich nicht ab. Ich bitte Sie! ich bin Witwe, habe Kinder... Was sollte ich machen ohne die Hanffelder, sagen Sie selbst.

BESPANDIN Wenn es schlecht ist...

KAUROVA Wie Sie wollen...

ALUPKIN Aber lassen Sie ihn doch ausreden!

BESPANDIN Wenn es so schlecht ist, überlassen Sie es mir, und Sie bekommen die Entschädigung.

KAUROVA Jawohl! Ihre Entschädigungen kenne ich!... Irgendein winziges Stück untaugliches Land, Stein an Stein, oder noch schlimmer, irgendein Sumpf, wo nichts als Schilf wächst, das nicht einmal die Bauernkühe fressen!

Das Frühstück beim Adelsmarschall 45

BESPANDIN So einen Sumpf gibt es auf dem Gut überhaupt nicht...

KAUROVA Wenn keinen Sumpf, dann etwas anderes in der Art. Entschädigung, nein... ergebensten Dank: ich weiß, wie diese Entschädigung aussehen wird!

ALUPKIN zu Mirvolin Sind die Frauen hier alle so?

MlRVOLIN Es gibt noch schlimmere.

BALAGALAEV Herrschaften, Herrschaften, gestatten Sie, gestatten Sie... Ich muß Sie nochmals um ein wenig Ruhe bitten. Hier ist mein Vorschlag. Wir teilen jetzt gemeinsam den gesamten Besitz in zwei Anteile; einer von beiden schließt das Gutshaus ein, der andere erhält ein Stück mehr Land - und Sie beide mögen dann wählen.

BESPANDIN Ich bin einverstanden.

KAUROVA Ich bin nicht einverstanden.

BALAGALAEV Warum sind Sie nicht einverstanden.

KAUROVA Und wer soll als erster wählen dürfen?

BALAGALAEV Das entscheidet das Los.

KAUROVA Barmherziger Gott, steh mir bei! Wo denken Sie hin! um nichts in der Welt! Wir sind doch keine ungetauften Wilden!

BESPANDIN Also, Sie wählen als erste.

KAUROVA Ich bin trotzdem nicht einverstanden!

ALUPKIN Und wieso nicht?

KAUROVA Wie soll ich mich entscheiden? und was, wenn ich das Falsche wähle...

BALAGALAEV Gestatten Sie, aber wieso denn das Falsche? die Anteile werden im Wert gleich sein; und wenn einer besser ausfallen sollte, Ferapont Iljič überläßt den Vortritt doch Ihnen.

KAUROVA Und wer sagt mir, welcher der bessere ist? Nein, Nikolaj Ivanyč! das ist Ihre Sache: machen Sie sich die Mühe und bestimmen Sie von sich aus; der Anteil, den Sie mir zuweisen, soll mir gehören, und ich wills zufrieden sein.

BALAGALAEV Also meinetwegen. Das Haus mit Wirtschaftsgebäuden und Hof wird Frau Kaurova zugeschlagen.

BESPANDIN Der Garten auch?

Ivan Turgenev

KAUROVA Selbstverständlich auch der Garten! Was ist denn ein Haus ohne Garten? außerdem ist der Garten ein Dreck: höchstens fünf-sechs Apfelbäume, und die Äpfel sauer wie Essig... Der ganze Hof ist einfach keinen Kupfergroschenberg wert.

BALAGALAEV Also, das Haus mit Garten und Wirtschaftsgebäuden sowie der gesamte herrschaftliche Gutshof wird Frau Kaurova zugeschlagen. Gut. In diesem Falle würden Sie bitte einmal herschauen?... Welwicki! lies mal vor, Freundchen! wie hatte ich das aufgeteilt?

WELWICKI liest ans einem Heft vor »Projekt zur Aufteilung zwischen dem Gutsbesitzer Ferapont Bespandin und seiner Schwester, der verwitweten Adeligen Kaurova...«

BALAGALAEV Fang mit dem Verlauf der Linien an.

WELWICKI »Der Verlauf der Linie von Punkt A«.

BALAGALAEV Bitte sehen Sie: von Punkt A.

WELWICKI »Von Punkt A, angrenzend an den Besitz der Volu-china, zu Punkt B an der Ecke des Wehrs«.

BALAGALAEV Zu Punkt B, an der Ecke des Wehrs... Evgenij Tichonyč, was ist?

SUSLOV von weitem Ich sehe schon.

WELWICKI »Von Punkt B«...

KAUROVA Gestatten Sie die Frage, wem gehört der Teich?

BALAGALAEV Beiden Parteien selbstverständlich, das heißt, das rechte Ufer dem einen, das linke dem anderen.

KAUROVA Ah! so ist das!

BALAGALAEV Weiter, weiter...

WELWICKI »Das Brachland wird zu gleichen Teilen geteilt; der erste achtundvierzig, der zweite siebenundsiebzig Dejatinen«.

BALAGALAEV Also, mein Vorschlag ist der... Derjenige, der das Gutshaus nicht bekommt, nimmt den gesamten ersten Teil des Brachlandes für sich, d. h. er bekommt vierundzwanzig Desjatinen mehr. Hier diese Flächen: die erste und die zweite.

WELWICKI »Der Eigentümer des ersten Anteils verpflichtet sich, auf eigene Kosten zwei Höfe auf den zweiten Anteil umzusiedeln; wobei die übersiedelten Bauern das Recht erhalten, die Hanffelder zu nutzen...«

Das Frühstück beim Adelsmarschall 47

KAUROVA Ich habe weder die Absicht, Bauern umzusiedeln, noch werde ich die Hanffelder abtreten.

BALAGALAEV Augenblick!

KAUROVA Um nichts in der Welt, Nikolaj Ivanyč, um nichts in der Welt!

ALUPKIN Bitte nicht unterbrechen, gnädige Frau!

KAUROVA bekreuzigt sich Was ist das? was ist das? ich träume wohl?... also ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll! Die Hanffelder für zwei Jahre, der Teich beiden! Da verzichte ich lieber auf das Haus...

BALAGALAEV Aber gestatten Sie bitte den Hinweis, daß Fera-pont Iljič...

KAUROVA Nein, mein Lieber, machen Sie sich keine Sorgen. Ich muß Sie irgendwie beleidigt haben...

BALAGALAEV gleichzeitig Aber hören Sie mich zu Ende, Anna Iljinišna! Ihnen die Höfe, die Hanffelder, und Ihr Herr Bruder nimmt dafür vierundzwanzig Dejatinen hinzu...

KAUROVA gleichzeitig mit ihm Kein Wort, kein Wort mehr, Nikolaj Ivanyč! Ich bitte Sie! bin ich denn eine dumme Gans, daß ich die Hanffelder umsonst weggebe! Sie sollten sich eines merken, Nikolaj Ivanyč: ich bin Witwe und habe niemanden, der für mich eintritt; ich habe minderjährige Kinder: wenigstens mit ihnen sollten Sie Mitleid haben.

ALUPKIN Das ist zu viel! nein, das ist zu viel!

BESPANDIN Also finden Sie meinen Anteil besser als Ihren?

KAUROVA Vierundzwanzig Desjatinen!...

BESPANDIN Nein, sagen Sie: ist er besser?

KAUROVA Mein Gott! vierundzwanzig Desjatinen!...

ALUPKIN Aber antworten Sie doch: ist er besser? ja? ist er besser? besser?

KAUROVA Aber was fauchst du mich denn dauernd an, mein Lieber? Oder ist das bei euch in Tambov so Sitte? Kommt einfach daher, kennt niemanden und niemand weiß, wer er ist, aber schau ihn dir an, wie er sich aufplustert!

ALUPKIN Bitte vergessen Sie sich nicht, gnädige Frau! Daß Sie, soweit mir bekannt, eine Frau sind, ist mir egal: ich bin ein alter Soldat, zum Teufel!

Ivan Turgenev

BALAGALAEV Genug, genug, Herrschaften! Anton Semenyč!

beruhigen Sie sich bitte. Das führt doch zu nichts. ALUPKIN Aber das ist doch weiß der Teufel was das ist! KAUROVA Ein Verrückter sind Sie! Er ist ein Verrückter. BESPANDIN Ich frage Sie noch einmal, Anna Iljinišna: finden

Sie, mein Anteil sei besser?

KAUROVA Aber natürlich ist er besser, er hat mehr Land. BESPANDIN Dann tauschen wir doch.

Sie schweigt.

BALAGALAEV Warum antworten Sie nicht?

KAUROVA Was soll ich denn ohne Haus? Was soll ich dann mit

dem Dorf? BESPANDIN Also, wenn mein Anteil besser ist, dann geben Sie

doch das Haus mir und nehmen Sie die vierundzwanzig

Desjatinen.

Beide schweigen.

BALAGALAEV Aber gestatten Sie, Anna Iljinišna, nehmen Sie doch Vernunft an, folgen Sie dem Beispiel Ihres Herrn Bruders... Ich kann mich heute nicht genug freuen, wenn ich ihn ansehe. Sie sehen doch selbst, er macht Ihnen alle möglichen Zugeständnisse; Sie brauchen nur zu erklären, welche Wahl Sie zu treffen wünschen.

KAUROVA Ich sagte bereits, ich habe nicht die Absicht zu wählen...

BALAGALAEV Sie haben nicht die Absicht zu wählen und sind mit nichts einverstanden... mein Gott! Ich muß Sie darauf hinweisen, Anna Iljinišna, es geht über meine Kräfte... Wenn wir auch heute zu keinem Ergebnis kommen, so habe ich nicht mehr die Absicht, zwischen Ihnen zu vermitteln. Dann soll das Gericht entscheiden. Sagen Sie uns wenigstens, was Sie wünschen?

KAUROVA Nichts wünsche ich, Nikolaj Ivanyč! Ich verlasse mich auf Sie, Nikolaj Ivanyč!

Das Frühstück beim Adelsmarschall 49

BALAGALAEV Aber Sie trauen mir nicht... Wir müssen doch zu einem Ende kommen, Anna Iljinišna... Ich bitte Sie! Schon das dritte Jahr!... Sagen Sie, wofür entscheiden Sie sich?

KAUROVA Was soll ich Ihnen sagen, Nikolaj Ivanyč. Ich sehe, Sie sind alle gegen mich. Sie sind zu fünft, ich bin allein... Ich bin eine Frau: natürlich ist es für Sie ein Leichtes, mich einzuschüchtern; und ich habe, außer Gott, keinen Fürsprecher. Ich bin in Ihrer Gewalt: machen Sie mit mir, was Sie wollen.

BALAGALAEV Aber das ist unverzeihlich. Jetzt reden Sie weiß Gott was... Wir zu fünft, Sie allein... Ja zwingen wir Sie denn zu irgend etwas?

KAUROVA Was denn sonst?

BALAGALAEV Das ist entsetzlich!

ALUPKIN zu Balagalaev Ach, lassen Sie die doch!

BALAGALAEV Augenblick, Anton Semenyč!... Anna Iljinišna, meine Liebe! hören Sie mich an. Sagen Sie uns, was Sie möchten: soll das Haus Ihnen verbleiben, gut, und die Entschädigung Ihres Herrn Bruders verringert werden, und um wieviel verringert, - überhaupt: was sind Ihre Bedingungen?

KAUROVA Was soll ich Ihnen sagen, Nikolaj Ivanyč? Natürlich kann ich mich mit Ihnen nicht gütlich einigen... Aber Gott der Herr wird uns richten, Nikolaj Ivanyč!

BALAGALAEV So hören Sie doch: Sie sind, wie ich sehe, mit meinem Vorschlag unzufrieden...

ALUPKIN Antworten Sie doch...

SUSLOV zu Alupkin Lassen Sie: Sie sehen doch, ein störrisches Weibsbild.

KAUROVA Nun ja, ich bin unzufrieden.

BALAGALAEV Sehr schön! dann sagen Sie uns doch, womit sind Sie unzufrieden?

KAUROVA Das kann ich nicht sagen.

BALAGALAEV Und wieso nicht?

KAUROVA Ich kann nicht.

BALAGALAEV Sie verstehen mich vielleicht nicht?

KAUROVA Ich verstehe Sie nur zu gut, Nikolaj Ivanyč!

5 o Ivan Turgenev

BALAGALAEV Aber so sagen Sie uns doch endlich, zum letzten

Mal, womit können wir Sie zufriedenstellen, zu welchem

Vorschlag würden Sie Ihr Einverständnis geben? KAUROVA Nein, entschuldigen Sie! Mit Gewalt können Sie mit

mir machen, was Sie wollen: ich bin eine Frau; aber was mein

Einverständnis betrifft, entschuldigen Sie... lieber sterbe ich,

als daß ich mein Einverständnis gebe. ALUPKIN Sie wollen eine Frau sein?... Nein, ein Teufel, das

sind Sie! Sie alter Schürhaken!... BALAGALAEV Anton Semenyč! KAUROVA gleichzeitig Mein Gott! mein Gott! SUSLOV UND MlRVOLIN gleichzeitig Nicht doch! nicht doch!

Genug! genug! ALUPKIN zur Kaurova Hör zu! ich bin ein alter Soldat; leere

Drohungen mache ich nicht. Verkauf uns nicht für dumm, du,

sonst geht es dir schlecht... Ich scherze nicht... hörst du?

Wenn du was Vernünftiges zu sagen hättest, schön; aber du

stemmst dich gegen alles wie ein Ochse... Weib, nimm dich

in acht, - sage ich dir, nimm dich in acht... BALAGALAEV Anton Semenyč! ich muß gestehen... BESPANDIN Nikolaj Ivanyč, das ist meine Sache!... 2,u Alup-

kin. Mein Herr! gestatten Sie die Frage, mit welchem

Recht...

ALUPKIN Sie stellen sich vor Ihre Schwester? BESPANDIN Nicht vor meine Schwester: meine Schwester ist für

mich � spuckt aus. Hier geht es um die Familienehre. ALUPKIN Familien ehre? Und womit habe ich Ihre Familienehre

verletzt? BESPANDIN Das fragen Sie noch? Das gefällt mir! Also nach

Ihrer Ansicht darf jeder zugereiste Schwachkopf... ALUPKIN Was, mein Herr?... BESPANDIN Was, mein Herr?... ALUPKIN Ganz einfach: in einem fremden Haus zu streiten

gehört sich nicht. Sie sind Adeliger, ich bin Adeliger, also

möchten Sie mir nicht morgen... BESPANDIN Mit dem größten Vergnügen! Egal womit, und sei

es mit dem Messer.

Das Frühstück beim Adelsmarschall

BALAGALAEV Meine Herren, meine Herren! was tun Sie da? daß Sie sich nicht schämen! In meinem Hause...

BESPANDIN Mich schüchtern Sie nicht ein, mein Herr!

ALUPKIN Vor Ihnen habe ich keine Angst, und Ihre Schwester. .. nein, es ist unanständig zu sagen, was die ist.

KAUROVA Ich bin einverstanden, meine Herren, mit allem einverstanden. Lassen Sie mich unterschreiben, ich unterschreibe, was Sie wollen.

SUSLOV zu Mirvolin Wo ist meine Mütze? hast du sie nicht gesehen, mein Lieber?

BALAGALAEV Herrschaften, meine Herrschaften!

GERASIM tritt ein und schreit Petr Petrovič Pechterjev!

10. Auftritt

Die Vorigen und Pechterjev.

PECHTERJEV tritt ein Ich wünsche einen guten Tag, mein lieber Nikolaj Ivanyč!

BALAGALAEV Meine Verehrung, Petr Petrovič! Wie geht es der Frau Gemahlin?

PECHTERJEV verbeugt sich vor jedem Meine Herrschaften... Meiner Frau geht es gut, Gott sei Dank. Cher Balagalaev! tut mir leid, ich habe mich verspätet. Sie haben, wie ich sehe, ohne mich angefangen, und gut daran getan... Wie ist Ihr Befinden, Evgenij Tichonyč, Ferapont Iljič, Anna Iljinišna? Zu Mirvolin. Ah! du bist auch hier, Jammerlappen?... Nun, kommt die Sache voran?

BALAGALAEV Das kann man nicht sagen...

PECHTERJEV Wirklich nicht? Und ich hatte gedacht... Ach, Herrschaften, Herrschaften! das ist nicht gut. Gestatten Sie einem alten Mann, Sie zu tadeln... Es muß ein Ende haben, ein Ende.

BALAGALAEV Möchten Sie nicht eine Kleinigkeit essen?

PECHTERJEV Nein, vielen Dank... Führt Balagalaev beiseite und zeigt auf Alupkin. Qui est £a?

5 2 Ivan Turgenev

BALAGALAEV Ein neuer Gutsbesitzer - ein gewisser Alupkin. Ich stelle ihn Ihnen vor... Anton Semenyč! Gestatten Sie, daß ich Sie mit unserem hochverehrten Petr Petrovič bekanntmache ... Alupkin, Anton Semenyč, aus Tambov.

ALUPKIN Sehr erfreut.

PECHTERJEV Willkommen in unseren Gefilden... Aber gestatten Sie... Alupkin? ich habe einen Alupkin in Petersburg gekannt. So ein großer, stattlicher Mann, hatte auf dem einen Auge den Star, spielte leidenschaftlich gern Karten und baute in einem fort Häuser... ist er mit Ihnen verwandt?

ALUPKIN Nein. Ich habe keine Verwandten.

PECHTERJEV Keine Verwandten?... Was Sie nicht sagen... Wie gehts den lieben Kleinen, Anna Iljinišna?

KAUROVA Ergebensten Dank, Petr Petrovič, gut, Gott sei Dank.

PECHTERJEV Ja nun, meine Herrschaften, ans Werk, ans Werk. Schwatzen können wir später... Wobei habe ich Sie eben unterbrochen?

BALAGALAEV Sie haben uns keineswegs unterbrochen, Petr Petrovič! Sie sind vielmehr genau im rechten Augenblick gekommen. Die Sache ist die...

PECHTERJEV Was ist das? Pläne!... Setzt sich an den Tisch.

BALAGALAEV Pläne, jawohl, Sehen Sie, Petr Petrovič, wir kommen einfach keinen Schritt weiter, das heißt, wir bringen es nicht fertig, Herrn Bespandin und seine Frau Schwester zu einer Einigung zu bewegen. Ich gestehe, daß ich bereits an einem Erfolg zu zweifeln beginne und bereit bin zurückzutreten.

PECHTERJEV Falsch, ganz falsch, Nikolaj Ivanyč, nur ein bißchen Geduld... Der Adelsmarschall muß die Geduld in Person sein.

BALAGALAEV Sehen Sie, Petr Petrovič: nach übereinstimmendem Wunsch beider Besitzer soll das Herrenhaus nicht geteilt, sondern einem der beiden Anteile zugeschlagen werden; die Schwierigkeit besteht jetzt darin: wie hoch soll die Entschädigung dafür sein? Ich schlage vor, dafür dieses gesamte Brachland abzugeben...

Das Frühstück beim Adelsmarschall 53

PECHTERJEV Dieses Brachland... ja, Augenblick, ja, ja...

BALAGALAEV Und eben damit schlagen wir uns herum... Er ist einverstanden, aber seine Schwester ist nicht nur mit nichts einverstanden, sie lehnt es sogar ab, ihre Wünsche zu äußern.

ALUPKIN Wie man so sagt: nicht vor, nicht zurück.

PECHTERJEV Soso, soso! Aber wissen Sie was, Nikolaj Ivanyč? Sie wissen es natürlich besser, aber ich an Ihrer Stelle hätte das Ganze anders aufgeteilt.

BALAGALAEV Und wie, wenn ich fragen darf?

PECHTERJEV Vielleicht ist ja Unsinn, was ich sage; aber entschuldigen Sie einen alten Mann ... Savez-vous, eher ami? ich glaube, ich würde es so aufteilen... geben Sie mir mal einen Bleistift.

MlRVOLIN Hier ist ein Bleistift, bittesehr...

PECHTERJEV Danke... Ich, Nikolaj Ivanyč, würde es so machen ... schauen Sie: von hier - nach hier, von hier -hierher... von hier nach da, und von hier dann hierher.

BALAGALAEV Aber ich bitte Sie, Petr Petrovič! erstens sind diese beiden Teile ungleich...

PECHTERJEV Na und!

BALAGALAEV Und zweitens sind auf diesem Teil überhaupt keine Heuwiesen.

PECHTERJEV Was macht das schon: Gras wächst überall.

BALAGALAEV Und außerdem, das Wäldchen wollen Sie einem allein überlassen?

KAUROVA Ja, diesen Teil würde ich sofort nehmen, mit Vergnügen!

BALAGALAEV Und wie sollen zum Beispiel die Bauern von hier nach dort fahren?

PECHTERJEV Alle Ihre Einwände wären äußerst leicht zu widerlegen; aber Sie müssen es natürlich besser wissen ... entschuldigen Sie mich...

KAUROVA Aber mir gefällt das so sehr gut.

ALUPKIN Wie?

KAUROVA Na so, wie Petr Petrovič es aufgeteilt hat.

BESPANDIN Darf ich auch mal sehen?

54

Ivan Turgenev

KAUROVA Wie Sie wollen, nur - ich bin mit Petr Petrovičs Vorschlag einverstanden.

ALUPKIN Es ist furchtbar... sie hat noch gar nichts gesehen, aber redet schon.

KAUROVA Und woher willst du wissen, was ich gesehen habe und was nicht?

ALUPKIN Na, wenn Sie was gesehen haben, dann sagen Sie doch, welchen Teil Sie sich nehmen?

KAUROVA Welchen? Den mit dem Wäldchen, den Heuwiesen, den mit dem vielen Land.

ALUPKIN Ja, am liebsten gleich alles für Sie allein?!

SUSLOV zu Alupkin Hör auf.

PECHTERJEV zu Bespandin Und was meinen Sie?

BESPANDIN Ich finde es nicht allzu glücklich. Aber ich bin einverstanden, wenn ich diesen Teil hier bekomme.

KAUROVA Und ich bin einverstanden, wenn ich diesen Teil bekomme.

ALUPKIN Welchen?

KAUROVA Der, den mein Herr Bruder für sich beansprucht.

SUSLOV Und da sagen Sie, sie wäre nie mit etwas einverstanden!

PECHTERJEV Gestatten Sie, gestatten Sie... man kann ja nicht ein und denselben Teil zweien zuweisen; einer von Ihnen muß ein Opfer bringen, Großmut beweisen - und den schlechteren Teil wählen.

BESPANDIN Und darf ich fragen, wieso zum Teufel ich Großmut beweisen soll?

PECHTERJEV Wieso... was für Ausdrücke Sie aber auch benutzen ... es ist doch Ihre Schwester.

BESPANDIN Da haben wir den Dreck!

PECHTERJEV Sie dürfen nicht vergessen, Ihre Schwester gehört zum schwachen Geschlecht; sie ist eine Frau, Sie sind ein Mann... sie ist doch die Frau, Ferapont Iljič!

BESPANDIN Nein, ich sehe schon, jetzt geht die Philosophie los...

PECHTERJEV Aber wieso denn Philosophie? Es ist doch die Wahrheit!

BESPANDIN Philosophie!

Das Frühstück beim Adelsmarschall 5 5

PECHTERJEV Das wundert mich aber... Wundert Sie das nicht, meine Herren?

ALUPKIN Mich? Mich wundert heute überhaupt nichts mehr. Und wenn Sie mir erzählen, Sie hätten Ihren Vater bei lebendigem Leibe aufgefressen; mich würde es nicht wundern, ich würde es glauben.

BALAGALAEV Meine Herrschaften, Herrschaften! gestatten Sie, daß auch ich ein Wort dazu sage. Schon der gleichsam erneut entbrannte Starrsinn der beiden dürfte Ihnen beweisen, liebster Petr Petrovič, daß Ihre Aufteilung eher mißglückt ist...

PECHTERJEV Mißglückt! gestatten Sie... warum denn mißglückt, das müßten Sie mir beweisen... Ich will nicht bestreiten, vielleicht ist Ihr Vorschlag ja vortrefflich, aber auch mein Vorschlag ist nicht gleich auf den ersten Blick zu verwerfen. Ich habe, so zu sagen, eine Linie en gros gezogen; natürlich habe ich mich in Details irren können. Selbstverständlich müssen wir beide Anteile einander angleichen, überlegen, alles im einzelnen ansehen; aber warum denn gleich mißglückt? ...

ALUPKIN zu Suslov Was für eine Linie hat er gezogen?

SUSLOV En gros.

ALUPKIN Und was bedeutet en gros?

SUSLOV Weiß der Himmel! Es muß ein deutsches Wort sein.

BALAGALAEV Nehmen wir einmal an, Petr Petrovič, Ihr Vorschlag wäre ausgezeichnet, hervorragend; die Hauptsache ist aber, daß beide Anteile gleich sein müssen. Das ist das Problem.

PECHTERJEV Soso. Natürlich wissen Sie das besser... Natürlich, wenn das so ist, kann ich nicht mit Ihnen streiten. Mein Vorschlag ist mißglückt, wie Sie sagen...

BALAGALAEV Aber nein, Petr Petrovič...

KAUROVA Ich weiß, warum Nikolaj Ivanyč so auf seinem Vorschlag besteht...

BALAGALAEV Was wollen Sie damit sagen, gnädige Frau, erklären Sie das...

KAUROVA Ich weiß es eben!

BALAGALAEV Ich bitte um eine Erklärung.

56 Ivan Turgenev

KAUROVA Nikolaj Ivanyč hat die Absicht, Ferapont Iljič das Wäldchen für einen Spottpreis abzukaufen... Deshalb gibt er sich solche Mühe, es ihm zuzuschlagen.

BALAGALAEV Gestatten Sie, Anna Iljinišna, Sie vergessen sich! Als wäre Ferapont Iljič ein kleines Kind! Als bekämen nicht auch Sie Ihre Hälfte!... Und wer hat Ihnen gesagt, daß ich das Wäldchen kaufen will? und wollen Sie Ihrem Herrn Bruder etwa verbieten, sein Eigentum zu veräußern?

KAUROVA Das kann ich ihm nicht verbieten, aber darum geht es auch gar nicht, sondern darum, daß Sie nicht gewissenhaft teilen, nicht gerecht, sondern so, wie es für Sie vorteilhafter ist.

BALAGALAEV Oh, das ist zu viel!

ALUPKIN Sehen Sie, jetzt sagen Sie dasselbe wie ich!

PECHTERJEV Das ist alles verworren, muß ich gestehen, sehr dunkel und verworren.

BALAGALAEV Da muß doch jedem die Geduld reißen... Was ist hier verworren? was ist hier dunkel? Na schön, ich habe die Absicht, Ferapont Iljič das Wäldchen abzukaufen; ja, vielleicht sogar seinen gesamten Anteil zu erwerben. Und was folgt daraus? wenn ich fragen darf?... Ich teile nicht gewissenhaft ... daß Sie es über die Zunge bringen, mir das zu sagen! Anna Iljinišna ist eine Frau, ich verzeihe ihr; aber Sie Petr Petrovič... verworren! Sie hätten als erstes nachprüfen sollen, ob das Gut richtig aufgeteilt ist... Und das ist es ja wohl, wenn beide ihren Anteil wählen können.

PECHTERJEV Sie brauchen sich nicht so zu ereifern, Nikolaj Ivanyč.

BALAGALAEV Ich bitte Sie, wenn man mir hier Gott weiß was unterstellt, mir, dem Adelsmarschall, der sich der schmeichelhaften Aufmerksamkeit aller Adeligen erfreut! Ich soll mich nicht ereifern, wenn man meine Ehre antastet!

PECHTERJEV Niemand tastet Ihre Ehre an, und außerdem -warum denn nicht, wenn es geht und niemandem Schaden zugefügt wird, eine Hand wäscht die andere, wie man so sagt, warum denn nicht? Und was den Adelsmarschall betrifft, so glauben Sie mir, Nikolaj Ivanyč, nicht immer wird der

Das Frühstück beim Adelsmarschall 57

Würdigste gewählt, und wenn einer abgesetzt wird, so bedeutet das nicht, daß er unwürdig sei. Übrigens meine ich damit natürlich nicht Sie...

BALAGALAEV Ich verstehe, Pe'tr Petrovič! Ich verstehe, Sie sagen das zu Ihren Gunsten und auch auf meine Kosten. Ja nun, versuchen Sie es doch! Die Wahlen stehen vor der Tür. Vielleicht gehen den Adeligen diesmal endlich die Augen auf... Vielleicht erkennen sie dann endlich Ihre wahren Vorzüge.

PECHTERJEV Wenn die Herren Adeligen mich mit ihrem Vertrauen beehren sollten, so werde ich nicht ablehnen, seien Sie unbesorgt.

KAUROVA Dann hätten wir einen echten Adelsmarschall!

BALAGALAEV Oh, ich zweifle nicht daran! Aber Sie werden jetzt einsehen, daß es nach all diesen beleidigenden Anspielungen für mich absolut unanständig wäre, mich weiter in Ihre Angelegenheiten einzumischen, und deshalb...

BESPANDIN Aber wieso denn, Nikolaj Ivanyč?

PECHTERJEV Nikolaj Ivanyč, also wirklich...

BALAGALAEV Oh, nein, Sie müssen schon entschuldigen. Wel-wicki, gib mir die Papiere. Hier haben Sie Ihre Briefe, Ihre Pläne. Teilen Sie das Ganze auf, wie Sie es für richtig halten, wenden Sie sich, wenn Sie wollen, an Pe'tr Petrovič.

KAUROVA Mit Vergnügen, mit Vergnügen.

PECHTERJEV Das lehne ich mit aller Entschiedenheit ab: ich habe nicht im mindesten die Absicht... Ich bitte Sie!

BESPANDIN Nikolaj Ivanyč, bitte haben Sie die Güte. Entschuldigen Sie uns, das heißt dieses dumme Weibsbild... Sie ist doch an allem schuld...

BALAGALAEV Ich will nichts mehr hören! Ich wiederhole, teilen Sie, wie Sie wollen, ich habe nichts mehr damit zu tun! Es geht über meine Kräfte!

BESPANDIN Alles wegen dir, du Spatzenhirn! Was hast du da angerichtet!... Wie denn! ich soll dir das Wäldchen abtreten, mit allen Wiesen, und auch noch den Gutshof dazu... na warte!

ALUPKIN Gut, gut, gut! Gib ihr, gib ihr, gib ihr!

5 8 Ivan Turgenev

KAUROVA Petr Petrovič, ich bitte um Hilfe, mein Lieber; Sie kennen ihn nicht: er ist bereit mich umzubringen, er ist ein Ungeheuer, ein Mörder!... er hat schon mehrmals versucht, mich zu vergiften!...

BESPANDIN Bist du still, du verrücktes Weibsstück!... Nikolaj Ivanyč, haben Sie die Güte...

KAUROVA z« Fechter-jev Petr Petrovič!...

PECHTERJEV Gestatten Sie, gestatten Sie!... ja was soll denn das jetzt?

11. Auftritt

Die Vorigen und Naglanovič.

NAGLANOVIČ Nikolaj Ivanyč, ich wollte zu Ihnen... Seine

Exzellenz hat... ALUPKIN Ah, schon wieder Sie? Schon wieder hinter mir her...

schon wieder der Ziegenbock? Schon wieder? NAGLANOVIČ Was? Was haben Sie? was ist denn das für

einer?... ALUPKIN Sie erkennen mich nicht wieder... Alupkin, Alup-

kin, Gutsbesitzer. NAGLANOVIČ Lassen Sie mich in Ruhe. Ihr Ziegenbock geht

den Rechtsweg. Ich komme nicht Ihretwegen, ich komme zu

Nikolaj Ivanyč.

PECHTERJEV Aber lassen Sie mich los, gnädige Frau! KAUROVA Petr Petrovič, hilf und teile du! ALUPKIN zu Naglanovič Ich nehme hier keine Rücksicht, mein

Herr. Sie haben mich beleidigt, mein Herr! Ich bin für Sie

nämlich kein Ziegenbock, zum Teufel! NAGLANOVIČ Das ist doch ein Verrückter! BESPANDIN Nikolaj Ivanyč, nehmen Sie die Papiere zurück! BALAGALAEV Halt, Herrschaften, hören Sie zu!... Gestatten

Sie, mir scheint, mir dreht sich alles im Kopf... die Teilung,

der Ziegenbock, das starrsinnige Weib, Gutsbesitzer aus

Tambov, plötzlich der Landgendarm, morgen ein Duell, mein

Das Frühstück beim Adelsmarschall 59

schlechtes Gewissen, der Gutshof, das Wäldchen zum Spottpreis, Frühstück, Aufruhr, Tumult... nein, das ist zu viel. Entschuldigen Sie mich, meine Herrschaften... ich bin außerstande ... ich verstehe nichts von dem, was Sie sagen, es geht über meine Kräfte, ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr! Geht ab.

PECHTERJEV Nikolaj Ivanyč! Nikolaj Ivanyč! Das ist ja reizend ... der Hausherr verläßt den Raum, und wir? was machen wir?

NAGLANOVIČ Ein schönes Durcheinander! Zu Welwicki. Gehen Sie, sagen Sie ihm, ich habe dienstlich mit ihm zu sprechen. Welwicki geht ah.

KAUROVA Gott mit ihm! Und wann teilst du uns jetzt, Petr Petrovič?

PECHTERJEV Ich? ergebenster Diener; wo denken Sie hin? Sie scheinen mich mit jemandem zu verwechseln!

BESPANDIN Jetzt sitzen wir da! Ach, du!... Verflucht seien alle Weiber von heute bis in alle Ewigkeit! Geht ah.

KAUROVA Ich jedenfalls bin an nichts schuld.

WELWICKI tritt ein Nikolaj Ivanyč lassen sagen, er könne niemanden empfangen; er habe sich zu Bett begeben.

NAGLANOVIČ Dem haben die Gäste wohl tüchtig eingeheizt. Naja, da kann man nichts machen, ich lasse ihm eine Nachricht da... Meine Verehrung den hier Versammelten. Geht ah.

ALUPKIN Wir sprechen uns noch, mein Herr! - hören Sie? Meine Herrschaften, habe die Ehre, mich zu verabschieden! Geht ah.

PECHTERJEV Aber... wo wollen Sie denn hin?... wir gehen doch alle gemeinsam. Ich muß schon sagen, so etwas habe ich noch nie erlebt. Geht ah.

KAUROVA Petr Petrovič!... helfen Sie uns doch... Geht ab, Pechterjev folgend.

MlRVOLlN Evgenij Tichonyč, und Sie? Wollen wir allein hier bleiben? Fahren wir auch.

SUSLOV Warte, nur einen Augenblick, er kommt bald wieder zu sich, dann spielen wir eine Runde Preference.

6o

Ivan Turgenev

MlRVOLIN Gut. Aber wenn das so ist, könnte ein Gläschen

nicht schaden. SUSLOV Also gut, Mirvolin, trinken wir eins. Aber was sagt man

zu so einem Weibsbild? die steckt ja noch meine Glafira

Andreevna in den Sack... Das nennt man nun gütliche

Einigung!...

Ende

Kozma Prutkov

Das Zusammenwirken der irdischen Gewalten

Mysterium in elf Auftritten

An dem Mysterium wirken mit:

DAS TIEFE TAL

DER GROSSE DICHTER

DIE HOHE EICHE

DER ORDENSSTERN

DER HIMMELSSTERN

DAS ASTLOCH

EINE EULE

DER ERDHÜGEL

EIN ERDKLUMPEN

DER STRICK

DIE GESAMMELTEN WERKE DES GROSSEN DICHTERS

DER NORDWIND

DER HÖCHSTE UND DER LÄNGSTE AST

DER SÜDSTURM

EINE FELDMAUS

DIE NÄCHTLICHEN STUNDEN

DIE NÄCHTLICHE STILLE

DIE SONNE HINTER DEM HORIZONT

DIE SONNE AM HIMMEL

DAS JENSEITS IM VORBEIFLIEGEN

EINE ALMAVIVA

DIE KLEINE \

DIE GROSSE/ EICHEL(N)

DIE GENERALVERSAMMLUNG DER IRDISCHEN GEWALTEN

62 Kozma Prutkov

Mitternacht. Der Himmel ist wolkenverhangen. Völlige Windstille. Das TIEFE TAL, in dessen Mitte Die HOHE EICHE steht. Stille. Das Tal schläft.

Erster Auftritt

Nach einiger Zeit erwacht das hellhörige Tal plötzlich.

DAS TAL schlägt die Augen auf, beunruhigt, gereizt Was ist das bloß... Mein Schlaf entschwand! Was ist da los ... Da kommt jemand!

Zweiter Auftritt

Der DICHTER erscheint, in eine Almaviva gehüllt, die Uniformmütze auf dem Kopf. Aus den Schößen der Almaviva hängt ein Ende des STRICK5, das er durch das Gras hinter sich herschleift.

DER DICHTER singt mit leiser, erregter Stimme »In einem tiefen Thale...« Unterbricht den Gesang. Ja, so sang Mir auf dem Lande dieses Lied die Amme, Als ich ein kleines Kind noch war, ach ja... Singt.

»Wohl auf flachen Höh...« Unterbricht den Gesang. Und dabei formte Zur Melodie dies wehmutsvollen Liedes Sie an den Abenden aus weichem Teig Mir ach so hübsche kleine Kühe, Pferdchen! Singt.

»Steht eine hohe Eiche...« Unterbricht den Gesang. Arme Amme! Wenn du nur sehen und begreifen könntest,

Die irdischen Gewalten 63

Warum dein Brustkind, das du so geliebt hast,

Nun schweren Schrittes auf die Eiche zutritt,

Die du besungen, - ach, dich würde schaudern

In deinem Grab... am Kirchlein... auf dem Friedhof!

Wie jene ist auch diese Eiche hoch; wie jene

Steht diese auch in einem tiefen Tal!...

Singt.

»In einem tiefen Thal...«

Unterbricht den Gesang. Doch fort mit euch,

Erinnerungen an die süße Kindheit!

Ich habe den Lebensweg durchschritten, und

Gekommen ist für mich die Stunde nun

Des Übertritts zu einem traurigen, vielleicht,

Doch unbestreitbar sichren Endergebnis.

Er tritt auf die Eiche zu und nimmt die Mütze ab.

Sei mir gegrüßt, du riesengroß Gewächs!

Den Nestern vieler Vögel gibst du Obdach,

Gib es auch mir! Auch ich bin Liedersänger!

Setzt die Mütze auf.

Der Menschen Feindschaft drückt mich nieder;

Der Neider Bosheit stürzt mich in das Grab!

Ja! Frieden gibt es, aber nur im Sarg -

Und nirgends sonst und nie mehr wieder!

O Ruhm, o Ehren - wer hält euch nur aus;

Da aller Herzen neiden euren Glanz!

Mir reißt man von der Stirn den Lorbeerkranz

Und von der Brust den Stern des Stanislaus!

Und außerdem: Mich schreckt der Geist des Neuen...

All das Geschwätz... Und nichts kennt mehr die Norm!...

Sie mögen kommen (nach mir): Sintflut, Feuer,

die Hungersnöte, all die sonstigen Reformen!...

Alsdann, Magnat, so scheide aus dem Leben!

Alsdann, Poet, du wolltest immer schweben -

Flieg auf, auf ewig: dir wird nichts gelohnt!

64 Kozma Prutkov

Er schlägt die Almaviva zurück, wirft einen Blick auf seinen ORDENSSTERN und schlägt sich mit der Faust auf die Brust. In diesem Augenblick reißt hoch am Himmel die Wolkendecke auf-und ein STERN bescheint von oben die Gestalt des Dichters in ihrer vollen Größe.

Wie das?... Ist es aus Mitleid oder Hohn, Daß du, der Himmelsstern, mit deinem Schein Bestrahlst den Erdenbruder dein?

Wieder bezieht sich der Himmel mit Wolken. Der Dichter nickt ihm mit dem Ausdruck des bitteren Vorwurfs zu.

Dritter Auftritt

Der DICHTER nähert sich mit entschlossenem Schritt der ElCHE. Er geht um sie herum und bleibt plötzlich., voller Entsetzen, vor einem ASTLOCH stehen.

DICHTER

Wer bist du?... Antwort!... Was verfolgst du mich So unentrinnbar, du, mit Phosphoraugen?...

Aus dem Astloch erscheint die EULE und fliegt lautlos davon. Sie setzt sich auf einen ERDHÜGEL, der etwa fünf zig Schritte entfernt ist, und blickt zurück nach der Eiche und dem Dichter. Ihre Augen leuchten von ferne.

DER DICHTER wedelt mit den Schößen seiner weiten Almaviva in Richtung der Eule Psch...Psch!...

Die Eule bleibt unbeweglich sitzen.

DICHTER Fort, fort, du ungebetner Zeuge

Dessen, was insgeheim zu tun ich neige!

Die irdischen Gewalten 65

Er bebt einen ERDKLUMPEN auf und wirft ihn nach der Eule. Der Erdklumpen fällt dicht bei dem Erdhügel nieder; doch die Eule bleibt unbeweglich sitzen, wo sie saß � gleich einer Statue mit leuchtenden Augen.

Kann ich schon diese Eule nicht verscheuchen,

Und ihre Augen leuchten ohne Gnade -

So reiße hier vor ihr mein Lebensfaden;

Und möge sie, Gefährtin dieser schwarzen Nacht,

Da andre nicht die Hand vor Augen sehen,

Die blinden Augen aus mir picken - ach! -

Und das Gehirn, um das es bald geschehen!

Vierter Auftritt

Der DICHTER holt unter der Almaviva den STRICK hervor und versucht, ein Ende über einen Ast der ElCHE zu werfen - an deren nördlicher Seite; der Strick jedoch, der bei weitem nicht an den untersten Ast reicht, fällt auf die Erde zurück.

DICHTER

Du großer Geist, wenn auch von Umfang schmal -Sei Stütze mir und ein verläßlich Piedestal...

Er holt unter dem Arm seine »GESAMMELTEN WERKE« hervor; legt sie auf die Erde, stellt sich auf das dicke Buch und wirft den Strick erneut, der diesmal beinahe den untersten Ast der Eiche erreicht.

Fünfter Auftritt

Hier beginnt mit übergroßer Gewalt der NORDWIND zu blasen.

NORDWIND

Wohlmilde bin ich und mächtig: Sämtliche Äste erheb ich!

66 Kozma Prutkov

Tatsächlich heben sich sämtliche Äste von der Nordseite her sehr hoch. Doch geschieht dabei etwas vom Nordwind Unvorhergesehenes: der DICHTER wirft den STRICK abermals in die Höhe. Den wohlmilden Absichten des Nordwinds zum Trotz, doch auch dank seiner Mitwirkung hebt sich der Strick hoch und höher und... verfängt sich im höchsten und längsten Ast der ElCHE. Der Dichter zieht diesen Ast unter Anspannung aller seiner Kräfte zu sich herab, befestigt daran flugs das Ende des Strickes, legt sich die bereits geknüpfte Schlinge um den Hals, läßt den Ast los und fliegt mit ihm in große Höhen. Die EULE, die mit ihrem ganzen Körper unbeweglich auf dem ERDHÜGEL gesessen hatte, hebt nur den Blick und schaut dem Hängenden mit noch leuchtenderen Augen nach. Der Nordwind untersucht unterdessen hastig einen Eichenast nach den anderen, von der Nordseite.

NORDWIND seine Verlegenheit mit Zorn überspielend Alle bis auf einen Haben sich erhoben! Er ist selber schuld, Hängt er jetzt da oben!

Er bläst sich in den Norden zurück und verschwindet. Windstille.

Sechster Auftritt

Plötzlich fällt mit noch größerer Gewalt der SÜDSTURM unvermittelt in die ElCHE, aus der entgegengesetzten Richtung.

SÜDSTURM

Ich bin ein Geheimnis; ich schwöre: Ich bewahre, indem ich zerstöre.

Die Eiche erbebt, schwankt und stöhnt.

Die irdischen Gewalten 67

EICHE

Ich steh seit hundert Jahren... Jetzt naht mein Ende jäh! Nichts kann mich mehr bewahren... Du tiefes Tal, adieu!

Sie senkt sich zur Seite und stürzt krachend auf das TAL, wobei sie die Erde aufreißt und ihre mächtigen, jahrhundertealten Wurzeln entblößt. Der DICHTER ist mitsamt der Eiche zu Boden gestürzt, doch in einiger Entfernung von Stamm und Ästen. Die SCHLINGE um seinen Hals lockert sich. Ein Ast der Eiche hat eine FELDMAUS erschlagen, die, während sie stürzte, unter ihr weglaufen wollte. Die EULE, aufgeschreckt durch den Lärm, erhebt sich von ihrem ERDHÜGEL und entfleucht in die Dunkelheit.

SÜDSTURM

Ohne Maß ist meine Kraft!... Ohne die ewigen Zügel!... Was ich wollte, ist geschafft, Nun zurück auf meine Hügel.

Er bläst sich in den Süden zurück und verschwindet. Wiederum Windstille.

Siebenter Auftritt

Das TAL ist in stumme Wehmut versunken. Nicht ein einziges Blatt der umgestürzten ElCHE raschelt. Der DICHTER liegt unbeweglich, neben ihm die FELDMAUS. Die NÄCHTLICHEN STUNDEN vergehen ohne Eile.

DIE NÄCHTLICHEN STUNDEN Alle Stunden enden wie gestern Im Schoß der Ewigkeit. In Eile Sind bei Licht nur unsere Schwestern, Wir im Dunkeln eilen mit Weile.

68 Kozma Prutkov

Danach tritt die völlige NÄCHTLICHE STILLE ein, die zur Besinnung einlädt und zu Fragen.

DIE NÄCHTLICHE STILLE Jeder fragt; Ich schweige still. Niemand weiß, Was ich wohl will?!

Achter Auftritt

Nach langer Nacht rötet sich im Osten das Firmament.

DIE SONNE HINTER DEM HORIZONT Licht soll die Erde sehn. Komm, Morgenrot, komm schnell. Was in der Nacht geschehn -Das ich alsbald erhell.

Neunter Auftritt

Die SONNE geht auf. Der helle Morgen bricht an; das TAL hingegen wirkt bekümmert.

DIE SONNE AM HIMMEL Was seh ich? Sünde! Sünde Des Dichters wider das Leben; Ich hab es gesehen und finde: Man soll ihm und allen vergeben.

Zehnter Auftritt

Unter den lebenspendenden Strahlen der mildtätigen Sonne kommt der DICHTER zu sich. Er blickt sich um und erinnert sich,

Die irdischen Gewalten 69

noch im Liegen, an das Geschehene. Danach befreit er seinen Hals aus der SCHLINGE und setzt sich heimlich auf.

DER DICHTER im Sitzen

Ich lebe noch!... Die Erde hat mich wieder!... Und doch hab ich in dieser Nacht dahin Geblickt: in jenes Thal, aus dem noch nie eine Wanderer zurückgekehrt! - so sagte Es Shakespeare, ein Kollege, ein begabter! Doch ich, der dort war, bin zurückgekehrt!

Er erhebt sich.

Oh, was ich dort gesehn hab, liebe Leute!!

Dort oben!... in der Eiche!... in der Schlinge!...

Was ich gesehn hab!! Im Vorbeiflug, doch gesehn!!

In inspirierten Hymnen werde ich demnächst

Der Welt darüber zu berichten wissen.

Er verfällt in Nachdenken.

Aber jedoch indes... ich hab gehangen...

Jetzt steh ich hier! Ich heil und unversehrt!

Wie soll ich dieses Wunder nicht bestaunen?!

Er betrachtet und betastet sich., wobei er bemerkt, daß die ALMAVIVA, die sich in den Ästen verfangen hatte, zerrissen ist.

Die Almaviva, deucht mich, muß zum Schneider.

Er steht, in Gedanken versunken; da fällt sein Blick auf die getötete FELDMAUS.

Die Maus »kehrt nicht von dort zurück«! Beugt sich über die Maus, ruft ihr zu. Steh auf!... Du kannst nicht?... Ha!... Du miserables Wesen! Wenn dich die Eiche nicht erschlagen hätte, Dann hätte dich die Eule aufgefressen! Wo ist die Eule?


/o Kozma Prutkov

Erschaut zu dem Erdkugel hinüber, wirft dann einen Blick in das Astloch.

Fort... Sie ist entfleucht... Wenn sie noch lebt, - ihr Astloch ist verloren, In dem vor fünfzig Jahren sie geboren. Aber - der Eule Schicksal läßt mich kalt. Die Eiche dauert mich - sie war so alt! Doch ihrer gibt es viel im Eichenwald.

Nach kurzem Schweigen hebt er von der Erde zwei Eicheln auf; zuerst eine kleine, dann eine große.

Zwei Eicheln nehm ich mit von hier -Als Souvenir:

An deinen Sturz, du ehrwürdiger Baum, An meine Rettung - für die Welt, den Raum.

Er steckt die beiden Eicheln in die Tasche, klemmt seine Gesammelten Werke unter den Arm und geht ab.

Elfter Auftritt

CHOR DER GENERALVERSAMMLUNG DER IRDISCHEN GEWALTEN singt über dem Ort der nächtlichen Katastrophe

Der eine lebt und ist gesund;

Die andre stürzt in Gottes Namen!...

Über dem ganzen Erdenrund

Sind wir die Hirten; Amen!


Kozma Prutkov

Der unbesonnene Türke, oder:

Wer ist schon gerne Enkel?

Theaterstück in Gesprächen nach der Natur

PROLOG

BERÜHMTER SCHRIFTSTELLER

IVAN SEMENYČ

IVAN SEMENYČS KAMMERDIENER

Die Bühne bildet einen offenen Platz, mit einem Hügel in der Mitte. Hinter dem Hügel geht die Sonne auf.

BERÜHMTER SCHRIFTSTELLER in Schirmmütze und Almaviva, mit aufgespanntem Schirm und einem dicken Buch unter dem Arm, klappt, während er die Vorderbühne betritt, den Schirm zu Mit dem Heraufziehen dieser Leuchte des Tages bricht für mich und meinen Kollegen der Tag des Triumphes an! Ich und mein Kollege wollen heute eine neue Gattung der dramatischen Darbietung vorstellen. Dramatische Darbietungen nennen wir nach allgemeiner Übereinkunft Darbietungen, die in Theatern gegeben werden, und zwar: in St.-Petersburg im Großen, das man ohne Grund das »Steinerne« nennt; im Alexandra-Theater, im Michaelstheater und im Zirkus; in Moskau - im Großen und Kiemen.

Diese Darbietungen unterteilt man in vielerlei Arten, wie: in Komödien, Tragödien, Dramen, Opern, Pantomimen, Vau-devilles und Reigentänze.

Mein Kollege und ich haben unser Leben lang und alle unsere reifen Jahre der Erfindung einer neuen Gattung der dramatischen Darbietung gewidmet. Wir haben uns entschlossen,

72 Kozma Prutkov

diese, nach reiflicher Überlegung, will sagen: nach langen Leiden! - »Theaterstück in Gesprächen nach der Natur« zu nennen. Unser Werk trägt den Titel: »Der unbesonnene Türke, oder: Wer ist schon gerne Enkel?« Er steigt auf den Hügel. Gebe Gott, daß dieses unser Werk mit derselben Reinheit und Offenheit aufgenommen werde, mit der wir es den Zuschauern darbringen! Für uns, Russen, ist es höchste Zeit, das in seine zweite Hälfte eingetretene Jahrhundert zu würdigen mit einem neuen Wort in unserer Literatur! Dieses von jedermann sehnlichst erwartete neue Wort soll hier und heute von mir und meinem Kollegen gesprochen werden! . . . Muß ich wiederholen, daß wir ihm unser ganzes Leben und alle unseren reifen Jahre gewidmet haben?! Außerdem habe ich dafür die äußerst vorteilhafte Partie mit der Tochter des Kaufmanns Gromov ausgeschlagen und sie einem anderen Kollegen überlassen.

So möge das Theaterstück beginnen!. . . Gebe Gott, sage ich, daß es mit derselben seelischen Reinheit und Offenheit des Herzens aufgenommen werde, mit der wir, mein Kollege und ich, es den Zuschauern darbringen! Er steigt von dem Hügel, spannt den Schirm auf und verläßt die Bühne. IVAN SEMENYČ in einer unserer Ziviluniformen, hatte sich die ganze Zeit versteckt gehalten, kommt mit einer Geige in der Hand auf die Vorderbühne, schaut sich nach allen Seiten um Die Tochter des Kaufmanns Gromov ist auf mich gekommen . . . Ich habe viele Kinder, nicht gezählt die aus erster Ehe und die unehelichen. Aber das gehört nicht hierher! - Der Autor ist gegangen. Das Theaterstück beginnt. Zeit für die Ouvertüre. Hier sind die Noten der in unserem Jahrhundert verfaßten Romanze »Näh nicht, liebes Mütterchen, den roten Sarafan . . .« Er schleudert die Noten vor sich hin auf den Boden und schickt sich an zu spielen. Der Kammerdiener bringt ihm etwas auf einem kleinen Tablett. Nicht nötig; ich spiele immer ohne!

Der Kammerdiener geht ab. Ivan Semenyč spielt, aber es ist kein Ton zu hören. Nach einiger Zeit senkt sich der Vorhang.

Der unbesonnene Türke 73

Der unbesonnene Türke, oder: Wer ist schon gerne Enkel?

Personen: MlLOVIDOV

FÜRST BATOG-BATYEV

KUTILO-ZAVALDAJSKIJ

LIEBENTHAL

FRAU RAZORVAKI, Witwe

IVAN SEMENYČ

Die Handlung spielt in St.-Petersburg, im Salon von Frau Razorvaki. Sie schenkt Tee ein. Alle sitzen.

MlLOVIDOV spricht mit weichem Baß, flüssig, gewichtig, voller Autorität Also, unser Ivan Semenyč ist nicht mehr! ... Alles, was angenehm an ihm war, hat mit ihm aufgehört zu sein!

KUTILO-ZAVALDAJSKIJ seufzt Wieviele Seelen hatte er, und wieviel Desjatinen Ackerland?

MlLOVIDOV Sein Stammgut, das Dorf Kurochvostovo, ich weiß nicht mehr, ob im Gouvernement Astrachan oder Archangelsk? zählte bei der letzten Revision an die fünfhundert Seelen; so zumindest äußerte sich mir gegenüber im Gespräch der Vorsitzende der Zivilkammer Firdin, Ivan Petrovič.

FÜRST BATOG-BATYEV mit verbundener Wange; lispelt und keucht beim Sprechen Firdin? ... Welcher Firdin? Etwa der, der im Duell durch Rittmeister Kavtyrev verwundet wurde?

LlEBENTHAL spricht hastig, meist selbstverliebt-empfindsam Nein, nicht durch Kavtyrev! Kavtyrev ist mein Schwager. Er hatte in der Tat einen Fall; aber er ist nicht im Duell gefallen, sondern ist einfach vom Pferd gefallen, als er es am Leitseil rund um den Pavillon auf Mjatlevs Landsitz jagte. Dabei hat er sich auch noch den Goldfinger ausgerenkt, an dem er den

74 Kozma Prutkov

gußeisernen Ring mit dem Familienwappen der Čapyznikov trug.

KUTILO-ZAVALDAJSKIJ Ich mag keine Ringe aus Gußeisen, ich bevorzuge solche mit Karneol oder mit Rauchtopas.

FÜRST BATOG-BATYEV Pardon, Sie irren!... Karneol und Topas, besonders Rauchtopas, sind, wie Sie überaus treffend bemerkten, - zwei völlig verschiedene Bezeichnungen!... Nicht zu verwechseln mit Malachit, den Seine Exzellenz Demidov so kunstvoll hat fassen lassen; so, daß ich sogar vor der ganzen Welt und meinem eigenen Gewissen sagen kann: er hat dafür ein Diplom aus den eigenen Händen des Parlaments bekommen, mit englischem Siegel.

FRAU RAZORVAKI spricht laut, entschlossen, mit einer Stimme wie Milch und Butter A propos Demidov! ... Stimmt es, daß er seinen ganzen Reichtum Lamartine vermacht hat?

Schweigen.

MlLOVlDOV Also, unser Ivan Semenyč ist nicht mehr!... Alles, was angenehm an ihm war, hat mit ihm aufgehört zu sein! ... Er hatte, darf ich wagen zu sagen, nur einen Fehler: er war fest davon überzeugt, daß man bei natürlicher Begabung Geige ohne Kolophonium spielen könne. Ich werde Ihnen einen Fall erzählen, der ihm widerfahren ist. - Zu seinem Namenstag, -ich weiß es noch wie heute: am 21. Oktober, - lädt er die Behörden ein ... Es war irgendeine Stunde. Hoch ging es her. Man tritt ein. Setzt sich auf die Divane ... Der Tee ist getrunken ... Alle sind voller Erwartung ... »Gib mir den Kasten!« - sagt Ivan Semenyč. Der Kasten wird gebracht. Ivan Semenyč nimmt die Geige heraus, streift die Ärmel hoch und schiebt die rechte Achselklappe der Uniform beiseite. Der Vizegouverneur schaut wohlwollend, erwartungsvoll. Ivan Semenyčs ergebener Kammerdiener bringt auf einem Tablett das Kolophonium. »Nicht nötig! - sagt er. - Ich spiele immer ohne Kolophonium.« Er schlägt irgendwelche, allen bekannte Noten auf; hebt den Geigenbogen ... Alle halten den erregten Atem an. Der selbstbewußte Verstorbene streicht über die

Der unbesonnene Türke 75

Saiten - nichts! ... Er streicht zum zweiten mal - nichts! ... Zum dritten Mal - nichts!... absolut nichts! Der vierte Strich traf nicht die Saiten, sondern seine Karriere, ungeachtet der Tatsache, daß er mit der Tochter eines Kaufmanns erster Gilde, des Kaufmanns Gromov, verheiratet war ... Der beleidigte Gouverneur steht auf, hebt den Arm zur Decke und sagt: »Sie kann ich nicht brauchen, - sagt er, - ich mag keine eigensinnigen Untergebenen; heute kommen Sie auf den Gedanken, Sie könnten ohne Kolophonium spielen; morgen wollen Sie womöglich Amtspapiere ohne Tinte schreiben! Solche Papiere kann ich nicht lesen, und noch weniger werde ich sie unterschreiben; Gott ist mein Zeuge, das werde ich nicht!«

Schweigen.

KUTILO-ZAVALDAJSKIJ Es heißt, die Getreidepreise im Gouvernement Tambov seien beträchtlich gestiegen?

Schweigen.

FRAU RAZORVAKI laut, wie Milch und Butter A propos Tambov! ... Wieviel Verst sind es von Moskau nach Rjazan und zurück?

LIEBENTHAL In der einen Richtung könnt ichs sagen, ohne den Kalender zu befragen, aber zurück - weiß ich es nicht.

Alle wenden sich ab und schnauben durch die Nase, einen spöttischen Laut ausstoßend.

LIEBENTHAL beleidigt Aber ich versichere Sie! ... Von Weihnachten bis Ostern sind es nämlich so und so viel Tage und von Ostern bis Weihnachten so und so viele, aber nicht so viele, wie von Weihnachten bis Ostern. Folglich ...

Alle wenden sich, spöttisch durch die Nase schnaubend, ab. Schweigen.

76 Kozma Prutkov

MlLOVIDOV im selben Tonfall Also, unser Ivan Semenyč ist nicht mehr! ... Alles, was angenehm an ihm war, hat mit ihm aufgehört zu sein! ...

FÜRST BATOG-BATYEV lispelnd, mit einem Pfeifen Ich habe ihn gekannt! ... Wir haben gemeinsam die Berge des Ostens durchwandert und die Leiden der Verbannung geteilt. Was für ein Land ist der Osten!... Stellen Sie sich vor: rechts ein Berg, links ein Berg, vorn ein Berg; und hinten, wie Sie sich vorstellen können, blaut der faulige Westen! ... Schließlich reiten Sie voller Abscheu auf den allerhöchsten Berg ... auf irgend einen scharf gezackten Sumbeka; so, daß Ihre Stute auf der bemoosten Bergesspitze nicht mal stehen kann; es sei denn, sie nähme die Spitze unter den Sattelgurt und drehte sich auf diesem Berg, wie um die eigene Achse, und ließe die vier Hufe in der Luft baumeln! Und erst, wenn Sie sich mit ihr drehen, werden Sie feststellen, daß Sie im östlichsten Lande angekommen sind: denn vor sich haben Sie Osten, zu beiden Seiten Osten, aber den Westen? ... Sie denken womöglich, man könnte ihn trotzdem sehen, als einen Punkt in der Ferne, der sich kaum bewegt?

FRAU RAZORVAKI laut, wie Milch und Butter, sie haut mit der Faust auf den Tisch Natürlich!

FÜRST BATOG-BATYEV Nein! Auch hinter Ihnen ist Osten! ... Mit einem Wort - überall und allerorten ein einziger endloser Osten!

FRAU RAZORVAKI wie zuvor A propos Osten! ... Ich muß Ihnen einen Traum erzählen.

ALLE stürzen auf sie zu3 um ihr die Hände zu küssen Erzählen Sie, erzählen Sie!

FRAU RAZORVAKI in gedehntem Erzählton, ihre laute Milch-und Butter-Stimme beibehaltend Ich träume, wie mitten in der Mitte ...

MlLOVIDOV unterbricht sie mit einer ehrerbietig-wohlwollenden Handbewegung Da ich seit einiger Zeit die gebührende Achtung für Sie hege, bitte ich Sie ... im Namen aller Ihrer Gäste ... diesen Traum nicht zu erzählen.

ALLE Aber warum? Sie küssen ihr beide Hände.

Der unbesonnene Türke 77

MlLOVIDOV unterbricht sie gewichtig, flüssig, mit leicht erhobener Stimme Also, unser Ivan Semenyč ist nicht mehr! ... Alles was angenehm an ihm war, hat mit ihm aufgehört zu sein!... Sie alle wissen, er hatte ein sorgenfreies Leben, wollte aber reicher erscheinen, als er in Wirklichkeit war ...

FRAU RAZORVAKI laut, verwundert Hatte er etwa einen Sessel aus Samt?

MlLOVIDOV Nein ... Samt mochte er nicht. Und sogar mitten auf dem Bauch trug er ein Dreieck aus Flanell, in Form eines Senfpflasters.

FÜRST BATOG-BATYEV Ein Senfpflaster trage ich auch. Außerdem trage ich am rechten Arm gern eine Fontanelle, am linken eine spanische Fliege, in den Ohren ein Tau, im Mund Kreosot, und im Genick ein Haarseil.

ALLE außer Milovidov, zu ihm Zeigen Sie, zeigen Sie.

FÜRST BATOG-BATYEV Gern; aber erst nach dem Tee.

MlLOVIDOV erneut mit erhobener Stimme Alles, was an ihm angenehm war, hat mit ihm aufgehört zu sein! ... Wenn Ivan Semenyč ein Essen gab und die Vorgesetzten einlud, so bewirtete er sie gern auf subtilste Weise. Das Wurzelgemüse, das auf dem Grund der Suppe schwamm, hatte die Form all der Orden, die die Brust der anwesenden Persönlichkeiten zierten ... Rund um die Piroggen verstreut lag nicht einfach Petersilie, nein, da lagen gebratene Blütenblätter! Die Piroggen waren mit kleinen Quasten geschmückt, manchmal auch mit Federbüschen! ... Die Knochen der Koteletts waren aus Elfenbein, mit Papilloten umwickelt, auf denen jeder ein seinem Rang, Charakter, Leben und Alter entsprechendes Kompliment lesen konnte! ... Im Brathuhn steckte regelmäßig ein Pfauenschweif. Spargel war immer mit einer Kordel gegürtet; und die Erbsen waren auf eine Seidenschnur gefädelt. Gebratener Fisch wurde in Rosenwasser gereicht! Die Torte in Couverts serviert, mit dem Staatssiegel versiegelt, je nach Behörde. Die Flaschenhälse waren mit Ordensschleifen umwunden und verziert mit den Insignien des makellosen Dienstes; und der Champagner wurde mit ausländischen Etiketts gereicht! ... Nur Varenje, ich weiß nicht warum, gab

78 Kozma Prutkov

es nie ... Nach dem Essen besprengte Ivan Semenyčs ergebener Kammerdiener alle Gäste mit Eau-de-Co-lo-gne! ... Das war sein Stil, so hat er gelebt! Und? Das Kolophonium, das Kolophonium hat ihn ruiniert und unter die Erde gebracht! Er ist nicht mehr, und alles, was angenehm an ihm war, hat mit ihm aufgehört zu sein! ...

Plötzlich öffnet sich die Tür, und mit triumphierendem Gesichtsausdruck und einem angenehmen Lächeln kommt Ivan Semenyč herein.

ALLE entsetzt Ach! ... Ivan Semenyč! ...

IVAN SEMENYČ lächelt, verteilt Kratzfüße nach allen Seiten

Seid nicht so verwundert,

Freunde,

Daß ich eben

- und am Leben -

Hier in eurer frohen Runde

Erscheine!

Streng, an Milovidov und die Razorvaki gewandt:

Du, Danila, irrst dich sehr! ... Du, Razorvaki, redest wirr! ... Das Kolophonium hat mich ruiniert, Doch deckt mich nicht die Erde!

ALLE springen hocherfreut von ihren Plätzen auf und umringen Ivan Semenyč Ivan Semenyč! ... was?! Sie sind am Leben?!

IVAN SEMENYČ triumphierend Ich lebe, ja, das sage ich Ihnen doch! ... Und ich habe noch mehr zu sagen! An Frau Razorvaki gewandt. Sie haben einen Enkel, und der ist türkischer Abstammung! ... Ich werde Ihnen gleich erzählen, wie ich diese wichtige Entdeckung gemacht habe.

ALLE ungeduldig Erzählen Sie, Ivan Semenyč! ... Erzählen Sie!...

Der unbesonnene Türke 79

Sie setzen sich an den Tisch. Ivan Semenyč stellt seinen Stuhl neben den von Frau Razorvaki, die ob der unverhofften Entdek-kung sichtlich beunruhigt ist. Alle recken neugierig die Hälse. Ivan Semenyč räuspert sich. Schweigen.

Hier bricht das Manuskript leider ab, und es ist schwerlich anzunehmen, daß Kozma Prutkov dieses im höchsten Grade bemerkenswerte Werk zu Ende geführt hat.

Michail Saltykov-Ščedrin Ein Mensch

Peregorenskij, ein Herr um die Sechzig, aber noch rüstig und frisch, tritt ein. Man sieht allerdings, daß er zur Stärkung seiner nachlassenden Kräfte des öfteren zur Flasche greift, weshalb seine Nase alle nur erdenklichen Nuancen der Farbe Violett angenommen hat. Er trägt einen fuchsrot gewordenen Frack mit engen Schößen und Nankinghosen ohne Strippen. Bei seinem Eintreten versteckt Aleksej Dmitric beide Hände, aus Furcht, Herrn Peregorenskij könnte es einfallen, ihm die Hand hinzuhalten.

PEREGORENSKIJ Schutz! Ich erflehe von Euer Hochwohlgebo-ren Schutz! Schutz für die Unschuldigen, Schutz für die Unterdrückten!

ALEKSEJ DMITRIC Aber was ist denn?

PEREGORNEKIJ Sie müssen entschuldigen, Euer Hochwohlge-boren, ich bin außer mir! Aber ich bin ein treuer Untertan, Euer Hochwohlgeboren, ich bin ein Christ, Euer Hochwohl-geboren! ich bin ... ein Mensch!

ALEKSEJ DMITRIC Aber gestatten Sie, was ist geschehen? Und was heißt »treuer Untertan« ? Wir alle hier sind treue Untertanen.

PEREGORENSKIJ Keine Anzeige ... nein, die Rolle des Denunzianten liegt mir fern! Nicht um Anzeige zu erstatten, habe ich mich erdreistet, vor das Antlitz Euer Hochwohlgeboren zu treten! Es ist allein das Gefühl des Mitleids, das Gefühl der Nächstenliebe, aus dem ich mich an Sie wende: edler Gesandter des Hofes, rette, rette eine Witwe vor dem Ruin!

ALEKSEJ DMITRIC Aber gestatten Sie ... mir wurde gesagt, Sie wären ein hiesiger Gutsbesitzer ... was hat die Witwe damit zu tun? ... Ich verstehe nicht.

8i M. Saltykov-Ščedrin

PEREGORENSKIJ seufzt Ja, es ist wahr, ich bin ein hiesiger Gutsbesitzer; ich habe, ich habe das Unglück, mich einen hiesigen Gutsbesitzer zu nennen ... Ich besitze sieben Seelen ... ohne Land, und sie, nur sie allein unterhalten mein unsicheres Dasein! ... Man hat mich unterdrückt, Euer Hoch wohlgeboren! Ich stand im Staatsdienst, man hat mich davongejagt! Ich habe ehrlich gedient - und jetzt bin ich arm wie ein Bettler! Ich hatte ein mitfühlendes Herz und habe es mir bis heute bewahrt! Wofür habe ich gelitten? Wofür all die Schicksalsschläge erduldet? Dafür, daß ich Wahrheit und Gerechtigkeit über alles geliebt habe? Dafür, daß ich, wie man sagen darf, die Lüge gehaßt und selbst den Zaren die Wahrheit lächelnd ins Gesicht gesagt habe?! Schutz! Schutz erflehe ich von dir, Schutzherr der Verfolgten und Unterdrückten!

ALEKSEJ DMITRIČ Großer Gott, was kann ich tun! ... Erklären Sie sich, bitte!

PEREGORENSKIJ Ich wiederhole, Euer Hochwohlgeboren, -keine Anzeige, deren Name allein meinem Herzen verächtlich ist, will ich erstatten, mein Herr! - Nein! Meine Worte sollen eine einfache Information sein, die, im Sinne des Gesetzes, Verpflichtung ist für jeden treuen Untertanen ...

ALEKSEJ DMITRIČ Und worum geht es? Gestatten Sie, ich bin beschäftigt; ich muß gleich Weiterreisen ...

PEREGORENSKIJ Der heimtückische Frißverreckdran ...

ALEKSEJ DMITRIČ streng Frißverreckdran? Ich verstehe Sie nicht; mein Herr, Sie scheinen sich einen Scherz zu erlauben!

PEREGORENSKIJ hört nicht auf ihn Der heimtückische Frißverreckdran hat, unter Ausnutzung der nächtlichen Dunkelheit, mit einem Haufen widerlicher Söldlinge das Haus des Dorfes Černoramenje Handel treibenden Kleinbürgers Skurichin, nach amtlichem Zeugnis der dritten Gilde zugehörig, umstellt und mit habsüchtiger Stimme Einlaß verlangt, um eine Durchsuchung durchzuführen unter dem Vorwand, Skurichin treibe Handel mit Arsen. Wobei er Skurichin mit unzüchtigen Ausdrücken belegte; für die Geheimhaltung dieser Sache nahm er fünfzig Rubel von ihm entgegen und entfernte sich mit seinen Söldlingen im Schütze der Nacht. Das ist Punkt eins.

Ein Mensch 83

ALEKSEJ DMITRIČ Und wo ist hier die Witwe?

PEREGORENSKIJ Derselbe Frißverreckdran hat, als er gemäß dem Ukaz der Gouvernementsverwaltung das Vermögen des Kaufmannes Glamidov schätzen sollte, einige Wertgegenstände unterschlagen, wobei er gesagt haben soll: »Diese Sachen reichen für die Butter aufs Brot.« Wobei er nicht versäumte, auch Glamidov mit unzüchtigen Wörtern zu benennen. Er schaut Aleksej Dmitrič insistierend an, während dieser verlegen Tabak schnupft. Derselbe Frißverreckdran kam eines Tages in das Haus des Kollegienregistrators Rybuškin, als dieser Gäste hatte, und verlangte lautstark, zum eigenen Gebrauch, ein Glas Vodka, und als ihm dies verweigert wurde, jagte er Gäste und Gastgeber aus dem Hause, wobei er rief: »Allez, marcher!«

ALEKSEJ DMITRIČ Aber wo bleibt die Witwe?

PEREGORENSKIJ Doch damit nicht genug der Untaten Frißver-reckdrans. Vergangenen Monat, als er zum Jahrmarkt ins Dorf Berezino kam, verprügelte diese wilde Bestie, brüllend wie ein Löwe und übervoll des Weines und der Wut, grundlos alle Handeltreibenden und ließ die rechte Faust nicht eher ruhen, bis er auf jedes Fuder einen halben Rubel erhalten hatte... Triumphierend. Für alle diese gesetzwidrigen Handlungen des Inspektors Maremjakin, der im Volksmund Frißverreckdran genannt wird und durch seine Bosheit diesen Beinamen voll und ganz verdient hat, gibt es die entsprechenden Zeugen, die ich allerdings zur Zeugenaussage unter Eid nicht hinzuziehen würde ...

ALEKSEJ DMITRIČ Aber gestatten Sie, ich vermag noch immer nicht zu sehen, wo hier die Witwe ist und in welchem Ausmaß die von Ihnen beschriebenen Vorkommnisse oder, wie Sie es nennen, Untaten mit Ihrer Person in Zusammenhang stehen, und warum Sie ... nein, ich kann es nicht verstehen!

PEREGORENSKIJ Euer Hoch wohlgeboren! In mir, in meiner Person sehen Sie die natürliche Zuflucht des sozialen Gewissens, das Frißverreckdran mit Füßen tritt. Setz Frißverreckdran ab, edler Gesandter des Hofes! Setz ihn ab! flehen die Tausend Opfer seiner tierischen Bosheit.

M. Saltykov-Ščedrin

ALEKSEJ DMITRIČ Wie das ... das bringt mich wirklich in Verlegenheit. Zeugen wollen Sie keine zulassen ... Bittsteller sind ebenfalls keine da ...

PEREGORENSKIJ lacht bitter, seufzt dann Es gibt keine Gerechtigkeit auf der Welt! Gott im Himmel! hier vor dir steht - er zeigt aufAleksej Dmitrič- ein fauler und verschlagener Diener des Staates, der mich einen Ehrabschneider und Verleumder nennt ...

ALEKSEJ DMITRIČ beunruhigt Mein Herr, gestatten Sie, weder habe ich Sie einen Ehrabschneider noch einen Verleumder genannt!

PEREGORENSKIJ Einen Ehrabschneider und Verleumder, nur weil ich für den Schutz der Unschuld eintrete! Zu Aleksej Dmitrič. Mein Herr! Die Notwendigkeit, die bittere Notwendigkeit zwingt mich, Ihnen zu sagen, daß ich es nicht versäumen werde, mich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit mit einer untertänigen Bitte an den Herrn Minister zu wenden, ihn auf Knien anzuflehen ... Hitzig. Du wirst schon sehen, ja, du wirst es sehen, heimtückischer Höfling, was es heißt, den Rat der Tugend zu mißachten! Du wirst noch denken an die Pilze und den Fisch, den Frißverreckdran dir geschickt hat als Tribut an deine Menschenfresserei! Er geht hinaus.

ALEKSEJ DMITRIČ steht etwa fünf Minuten in einer Art dumpfer Betäubung, come una statua; kommt wieder zu sich Weiß der Teufel, was das soll ... He, Fedor! meinen Rock!

Michail Saltykov-Ščedrin Unzufrieden

Szene

Personen: ANDRE] IVANYČ

IVAN ANDREIČ

Zwei ältere Herren im Rang des Wirklichen Staatsrats a. D. Beide einander bis zur Lächerlichkeit ähnlich; eher beleibt, ihrem Äußeren nach gutmütig. Andrej Ivanyč ist etwas fülliger und größer; Ivan Andreič ist klein, wenn er auf einem Stuhl sitzt, reichen seine Beine nicht bis auf den Boden.

IVAN ANDREIČ Ja, Euer Exzellenz, wenn man auf die Stelle von Semen Petrovič Stepan Ivanyč setzte, Sergej Nikolaevič auf die Stelle von Vasilij Kirilyč, und Pe'tr Grigorjič auf die von Fedor Fedoryč...

ANDRE] IVANYČ hält eine Zigarre in Händen Und wohin mit Fedor Fedoryč?

IVAN ANDREIČ Fedor Fedoryč könnte Wirkliches Mitglied werden... in irgend einem Rat... mit Depositum selbstverständlich ...

ANDREJ IVANYČ Mit Depositum ... hm - ja! Na, meinetwegen ...

IVAN ANDREIČ Das Russische Reich, Euer Exzellenz, bietet sehr viel Raum; warum sollte es nicht auch einen Fedor Fedoryč ernähren? Wieviele Juden, Eisenbahner und Bauunternehmer wir ernähren, da sollte auch ein Fedor Fedoryč ...

86 M. Saltykov-Ščedrin

ANDRE] IVANYČ Ernähren können wir ihn, gut.

IVAN ANDREIČ mit schmeichlerischer Stimme, als wolle er Andre j Ivanič aus der Reserve locken Und auf die Stelle von Petr Grigorjič ...

ANDREJ IVANYČ Ein Traum!

IVAN ANDREIČ Wieso Traum? In Ihrem Alter, Euer Exzellenz ...

ANDREJ IVANYČ Ein Traum!

IVAN ANDREIČ Dann käme die Sache ins Rollen!

ANDRE] IVANYČ Bis Ende des Monats hätten wir reinen Tisch! Und nichts, nicht das geringste mehr zu tun mit ... Er unterbricht sich mit Mühe. Ein T-träum!

Eine Minute Schweigen

IVAN ANDREIČ Heutzutage, Euer Exzellenz, sind im Staatsdienst die Phantastereien ausgebrochen ... Es gibt nichts Positives mehr ...

ANDREJ IVANYČ Wohl wahr.

IVAN ANDREIČ Die Philanthropie geht um ... das Proletariat ...

ANDREJ IVANYČ Das Proletariat, ja.

IVAN ANDREIČ Wir haben uns, wenns darauf ankam, nur selten auf unbekanntes Terrain begeben. Ersah man aus den Akten, daß der Kollegiensekretär zum Titularsekretär befördert werden mußte, schrieb man: »axios«.

ANDREJ IVANYČ Nicht »axios«, sondern »ins Amt zu übernehmen«.

IVAN ANDREIČ Ja natürlich. Uns, Euer Exzellenz, hat niemand Illusionen verabreicht ... von uns hat man Taten verlangt ...

ANDREJ IVANYČ So ist es.

IVAN ANDREIČ Und heutzutage will man den »Titularrat« abschaffen ... jeder lauert nur darauf, auf die Rangliste einzuprügeln!

ANDREJ IVANYČ versonnen Dahin werden sie es bringen.

Unzufrieden 87

IVAN ANDREIČ kichert Das würde bedeuten, Euer Exzellenz, daß in unserem Departement irgendein hergelaufener Kollegiensekretär Direktor werden könnte?

ANDRE] IVANYČ stößt angestrengt Ranch aus Dahin werden sie es bringen.

IVAN ANDREIČ Aber das wird amüsant! ... Ich kann mir denken, wie unsere Leute im Departement prusten vor Lachen, wenn so ein kleiner Stutzer das Departement betritt.

ANDRE] IVANYČ Nicht prusten!

IVAN ANDREIČ Natürlich nicht, Euer Exzellenz, aber danach kann sogar der Nachtwächter Michej Hoffnung hegen ...

ANDRE] IVANYČ Na, der kann noch warten.

IVAN ANDREIČ Wieso, Euer Exzellenz, auch diese Ideen liegen heute in der Luft... Wirklich Er kichert. Solche Neuerungen sind sehr beliebt heutzutage! Aber das wird wirklich amüsant: Michej kommt herein, und statt des Portefeuilles hat er den Kehrbesen unter dem Arm ...

ANDRE] IVANYČ Das wird wohl noch nicht eintreten, aber daß ein Kollegiensekretär Direktor wird, bestimmt.

Einige Minuten Schweigen, im Verlaufe dessen Ivan Andreič verlegen dasitzt, während Andrej Ivanyč die Beine übereinan-derschlägt und seinen Gesprächspartner triumphierend ansieht, als wolle er zu ihm sagen: »Tja, mein Lieber, auch ich bin Liberaler! Was hast denn du gedacht?«

IVAN ANDREIČ nachdenklich Wenn man es sich richtig überlegt, dann stimmt es - so weit werden sie es bringen.

ANDREJ IVANYČ Ja-a.

IVAN ANDREIČ Und überall, in allen Ämtern und Behörden... Nehmen Sie zum Beispiel nur die Post. Wie war es da so friedlich und still: flog eine Fliege durch den Raum - dann war selbst die zu hören ... Und plötzlich: erst die Stempelcou-verts, dann war auch das nicht genug - sie mußten noch die Briefmarken erfinden!

ANDREJ IVANYČ In der Tat.

IVAN ANDREIČ Und wem hat je ein Stempelcouvert geschadet?

M. Saltykov-Ščedrin

ANDRE] IVANYČ Absolut niemandem.

IVAN ANDREIČ Oder hier, zu Hause. Sie hatten die Familiennamen satt, das war veraltet, also bitte! - wurde auch das reformiert!... Jetzt haben sie allen Nummern gegeben - links die geraden, rechts die ungeraden ...

ANDRE] IVANYČ Es ist nicht mitanzusehen!

IVAN ANDREIČ Man geht durch die Straßen, sieht das Werk der Zerstörung ... und seufzt dabei im stillen.

ANDRE] IVANYČ Das hat alles das Komitee für die Durchführung der Volkszählung angerichtet.

IVAN ANDREIČ Hm-ja, dieses Komitee, kann ich Ihnen sagen ... Dabei ist das eine Stelle, es ist nicht mal eine Stelle, sondern einfach sozusagen ... ein Komitee! Und wieviel Gift hat es verspritzt!

ANDRE] IVANYČ Da herrscht nicht einmal Denken! Den Gouverneuren hat es gestattet, die Akten nicht mit vollem Namen zu zeichnen, sondern nur mit den Initialen.

IVAN ANDREIČ seufzt Da hat man etwas eingebrockt!

ANDRE] IVANYČ Wie soll man das auslöffeln!

IVAN ANDREIČ Auslöffeln ginge noch, nur, Euer Exzellenz, das wichtigste ist: es gibt keine wirklichen Staatsdiener mehr!

ANDREJ IVANYČ Auch das ist wahr.

IVAN ANDREIČ Ich meine, Leute wie in unserer Zeit, die für ihre Vorgesetzten durchs Feuer gegangen sind, die schreiben und radieren konnten und die die Verhältnisse durchschaut haben ... wer wohin und zu wem gehörte. Mit einem Wort: sie alle deckt der grüne Rasen ...

ANDRE] IVANYČ Ja, das waren Meister ihres Faches!

IVAN ANDREIČ Und zwar, wie man sie heute nicht mehr findet. Erinnern Sie sich noch, Euer Exzellenz, wie einst der Oberpolizeimeister bei unserem Grafen vorstellig wurde, daß an dem und dem Tage ohnmächtig auf der Straße liegend ein Mensch gefunden worden wäre, der sich der Beamte Lepechin nannte? Erinnern Sie sich, wie wir ihm sofort zu Antwort gaben, daß es einen solchen Beamten bei uns nicht gäbe, und wir diesen Lepechin noch zu Monatsende vom Dienst suspendiert haben?

Unzufrieden

ANDRE] IVANYČ Und erinnern Sie sich, wie einmal der Fürst R. die Meinung unseres Grafen zu der Sache Tepicyn in Erfahrung bringen wollte?

IVAN ANDREIČ Und ob ich mich erinnere! ... Wir gaben zur Antwort, unsere Meinung sei die wie in der Sache Curilov ... Ich erinnere mich genau!

ANDRE] IVANYČ Und als er dann bei uns insistierte, die Umstände in beiden Sachen lägen grundverschieden, wir ihm immer dasselbe antworteten: verantwortlich damals, Aktenzeichen soundso!

IVAN ANDREIČ Ha-ha!

ANDRE] IVANYČ Ja, damals gab es Meister ihres Fachs! Gott hat sie gegeben, Gott hat sie genommen.

IVAN ANDREIČ Das wäre aber auch ein Wunder, heutzutage ... Alle diese Briefmarken, Hausnummern ... An alles könnte man sich gewöhnen ... Nur, es gibt keine Diener mehr!

ANDRE] IVANYČ Nein. Er verfällt in Nachdenken.

IVAN ANDREIČ nach einigem Schweigen Nur noch uns beide, Euer Exzellenz.

ANDRE] IVANYČ Aber uns haben sie entlassen.

IVAN ANDREIČ Dabei könnten wir noch dienen, Euer Exzellenz!

ANDREJ IVANYČ Und wie.

IVAN ANDREIČ Euer Exzellenz sind nur etwas über fünfzig.

ANDRE] IVANYČ Und Euer Exzellenz noch keine sechzig.

IVAN ANDREIČ Wir könnten noch viele nützliche Dinge vollbringen, Euer Exzellenz!

ANDRE] IVANYČ Denen würden wir es zeigen ... so ...

IVAN ANDREIČ Nehmen wir nur den Bereich Inspektion: wieviele Neue könnte der Graf da einstellen! Oder: die Befehle werden jetzt nach Behörden erteilt, man könnte sie aber zusätzlich nach dem Alphabet erteilen ...

ANDRE] IVANYČ Das wäre nützlich.

IVAN ANDREIČ Manch einer, Euer Exzellenz, weiß nicht, in welcher Behörde die fragliche Person dient - nach dem Alphabet hätte man sie binnen einer Minute gefunden.

ANDRE] IVANYČ Eine große Erleichterung.

90 M. Saltykov-Sčedrin

IVAN ANDREIČ Eine Erleichterung, und die Hauptsache, niemand könnte gekränkt sein. ANDRE] IVANYČ Das ist die Hauptsache.

Erneutes Schweigen, in dessen Verlauf Ivan Andreič etwas sagen will, sich aber eine Zeitlang nicht dazu entschließen kann.

IVAN ANDREIČ mit schmeichlerischer Stimme Und was, Euer Exzellenz, wenn das Gerücht recht behielte, daß Sie die Stelle von Petr Grigorjič bekommen?

ANDRE] IVANYČ rutscht vor innerer Genugtuung auf seinem Stuhl hin und her Ein Gerücht dieser Art ist im Umlauf?

IVAN ANDREIČ Es ist, Euer Exzellenz, es ist!

ANDRE] IVANYČ beunruhigt Hat das wirklich jemand gesagt?

IVAN ANDREIČ Aber ja, Euer Exzellenz! Neulich gehe ich durch die Gorochovaja (ich verschaffe mir, aus Langeweile, neuerdings mehr Bewegung), da kommt mir plötzlich, um die Ecke Gavrilo Petrovič entgegen ...

ANDRE] IVANYČ Gavrilo Petrovič? Ich glaube, er ist zuverlässig?

IVAN ANDREIČ Ein sehr guter Mensch! Er sagt von jedem nur das Angenehmste. Und der Respekt vor Eurer Exzellenz, da verschluckt er sich beinahe! ...

ANDRE] IVANYČ Den müssen wir uns merken ... Nun?

IVAN ANDREIČ Nun, ich begegne Gavrilo Petrovič. »Haben Sie schon gehört? - sagt er. - Man will Andrej Ivanyč an Stelle von Petr Grigorjič ernennen! Und wir - sagt er - wir hatten schon geglaubt, daß sich auch das ganze Departement in Rauch auflösen soll!«

ANDRE] IVANYČ nach kurzem Nachdenken Ja nun, ich hätte nichts dagegen, den Dienst anzutreten.

IVAN ANDREIČ Und für den Dienst wäre es so nützlich! ... So nützlich! Ohne Euer Exzellenz schmeicheln zu wollen!

ANDRE] IVANYČ aufgehellt Aber dann könnten Sie auf mich bauen, Ivan Andreič! Ich werde Euer Exzellenz ans Tageslicht zurückholen! Als Vize, mein Herr, als Vize kommen Sie zu mir! Wir, mein Herr, wie Sie!

Unzufrieden 91

IVAN ANDREIČ plötzlich unterwürfig Tja also, Euer Exzellenz, ich habe Arbeit nie gescheut!

ANDRE] IVANYČ Wir werden leben!

IVAN ANDREIČ Hauptsache, Euer Exzellenz, ist die Einmütigkeit ... Denn, Euer Exzellenz, ich habe Äug und Ohr und alles, sozusagen ... ich sage das vor Gott dem Allmächtigen! Denn in der Dienstausübung, da gehören meine Seele und mein Körper nicht mir, sondern dem Vorgesetzten ... So verstehe ich mich selbst!

ANDRE] IVANYČ Das ist die Grundlage!

IVAN ANDREIČ Und deshalb wage ich zu glauben, daß, wenn Euer Exzellenz an Stelle von Petr Grigorjič ernannt wird, -dies für alle einen großen Fortschritt bedeuten würde!

ANDRE] IVANYČ Ja, denen würde ich es zeigen ... So ...

IVAN ANDREIČ Nehmen wir nur den Bereich der Inspektion ... Wieviel Gutes könnte man bewirken!

ANDRE] IVANYČ Ja, denen würde ich es zeigen ... So ...

IVAN ANDREIČ Oder denkt man nur an Einstellungen und Entlassungen ... Ein Ressort im Säuglingsstadium, Euer Exzellenz ...

ANDRE] IVANYČ Ja, denen würde ich es zeigen ... Die ... die hätt ich bald auf Trab.

IVAN ANDREIČ Und niemand, Euer Exzellenz, der wagen würde, in Ihrer Gegenwart zu gähnen!

ANDREJ IVANYČ Das will ich hoffen!

IVAN ANDREIČ Mit einem Wort, wenn das erst wirklich wäre, Euer Exzellenz - denen würden wir es ... Er winkt ab und verfällt in Nachdenken. Andre] Ivanyč, ebenfalls zerstreut, stößt eine Zeitlang Rauchringe aus. Beide stehen auf.

BEIDE ins Publikum Ja! Denen würden wir es zeigen ... Denen würden wir es zeigen ... In Schnellrede verfallend, entschlossen. Ja, denen würden wir es zeigen ... So!

Aleksandr Suchovo-Kobylin Tarelkins Tod

Personen:

KANDID KASTOROVIČ TARELKIN, Staatsrat 4. Klasse

MAVRUŠA, seine Köchin

MAKSIM KUZMIČ VARRAVIN, Staatsrat i. Klasse

IVAN ANTONOVIČ RASPLJUEV, Bezirks-Oberinspektor

ČIBISOV l

IBISOV \ kleine Beamte

OMEGA J

l zwei ungeschlachte Wachtmeister

Ein Zimmer: in der Mitte eine Tür in den Flur, rechts eine Tür in die Küche und zum Hintereingang, links ein Bett hinter einem Paravent; Unordnung. Tarelkin tritt auf, alle mögliche Habe im Arm. Er ist sehr besorgt; rückt die Möbel zurecht.

i. Szene

TARELKIN allein Es ist beschlossen! ... ich will nicht leben ... Die Not hat mich zerfressen, die Gläubiger reißen mich in Stücke, die Vorgesetzten treiben mich ins Grab! ... Ich sterbe. Aber nicht, wie jeder Gaul stirbt, - einfach so, als Dummkopf, sterben als Naturgesetz. Nein; - ich sterbe gegen das Gesetz und gegen die Natur; ich sterbe mir zur Lust, zum eigenen Vergnügen; ich sterbe, wie noch nie einer gestorben ist! ... Was ist der Tod? Das Ende aller Leiden, und mit meinen Leiden ist jetzt Schluß!... Was ist der Tod? Das Ende aller Abrechnungen! Und ich habe abgerechnet, die Schulden

94 A. Suchovo-Kobylin

habe ich soldiert, quitt bin ich mit den Gönnern, frei von Freunden!... Ein Zufall: Tür an Tür in diesem Hause wohnen zwei: Tarelkin und Kopylov. Tarelkin - er erstickt in Schulden, Kopylov - Schulden? nirgends. Das Schicksal spricht: Kopylov, stirb, und lebe du, Tarelkin. - Warum denn, sag ich, Schicksal; du bist ein Truthahn, Schicksal! - Stirb lieber du, Tarelkin, und glücklicher Kopylov: lebe. Er denkt nach. Es ist beschlossen ... Stirb, Tarelkin! ... Herunter mit den alten Fetzen! Er nimmt die Perücke ab. Nieder mit dem alten Krempel. Gebt mir Natur! - Es lebe die Natur! Nimmt das Gebiß aus dem Mund und zieht Kopylovs Mantel über. Genau! - Er geht in den Hintergrund, klebt sich ein Paar Koteletten an; macht einen Buckel, nimmt das Aussehen eines Mannes von sechzig an und kommt auf die Vorderbühne. Habe die Ehre mich vorzustellen: Hofrat außer Diensten Sila Silič Kopylov. Hier die Papiere. Er zeigt sie vor. Junggeselle. Keine Verwandten, keine Kinder; Familie - keine; schulde keinem etwas, will von niemandem was wissen; ich bin mein eigener Herr! Hier meine Wohnung, mein Vermögen! ... O ihr, lebt alle wohl! ... Lebt wohl, brüllende Herren Tiere Vorgesetzte, - lebt wohl, ihr Judasse, Kollegen! ... Ihr meine Freunde, Totengräber ihr, Verräter, - lebet wohl! Ihr meine Gläubiger, Blutegel, Krokodile ... lebt wohl! Tarelkin ist nicht mehr. - Ein anderer Lebensweg, andere Wünsche, andre Welten und ein andrer Himmel! ... Er geht im Zimmer auf und ab. Jetzt von der Theorie zur Praxis. Ich komm direkt aus Schlüsselburg. Dort habe ich Kopylov selbst zu Grab getragen; die Sache eingefädelt; und bekommen die Papiere: alles ist gelaufen! ... Jetzt, hier in Petersburg, muß ich nur meinen eigenen offiziellen Tod einfädeln. Die Polizei ist schon benachrichtigt; alle Kollegen werden kommen; die Fenster sind verhängt; im Zimmer herrscht geheimnisvolles Dunkel; Schwüle, unerträglicher Gestank ... Im Sarg liegt meine Puppe, ausgestopft mit Watte, sie trägt meine Uniform, nicht übel, wirklich ... Mit Ernst und Würde! Doch gegen neugierige Blicke braucht es mehr Gestank. Ruft, gut gelaunt. Mavruša! Mavruša, Räuberin - wo bist du?

Tarelkins Tod 95

2. Szene

Tarelkin, Mavrnša tritt auf. MAVRUŠA Was ist?

TARELKIN Verstehst du wohl, Mavruša, treue Freundin, was für

ein unsterbliches Stück ich spiele? MAVRUŠA Was? TARELKIN Nein - nie wird dein, dein baltisches Gehirn die

Höhe je begreifen ... Geh und kaufe noch mehr faulen

Fisch.

MAVRUŠA Noch mehr! War das nicht genug? TARELKIN Es reicht nicht - geh!

Mavruša geht ah.

TARELKIN ihr nach Geh, schnell.

3. Szene Tarelkin (allein)

TARELKIN geht im Zimmer auf und ab Genau ... ja ... von diesem Fisch muß man so viel in meine Puppe stopfen, daß es ihnen wie ein Knüppel vor die Stirn schlägt ... Nein! Er überlegt. Das ist noch nicht genug. Ich will, daß meine Herren Vorgesetzten mich auf ihre Kosten beerdigen lassen! Ich will, daß dieser unsterbliche Tod mich keine kupferne Kopeke kostet- so soll es sein! Alles geht, wie in Butter, - man muß es nur zu arrangieren wissen. - Mavruša kennt ihren Text; schon einen Monat lang ist Varravins intimste Korrepondenz, die ganze, hier - er zeigt es - unter meinem Gehrock! Er hat sie schon vermißt, er sucht sie, ist erbost auf mich. Folglich wird er in seiner Wut als erster kommen, es eilig haben mich zu beerdigen, um dann sofort die Wohnung zu durchsuchen - ha, ha, ha, ha! ... A-a-a-a! - Du Räuber, lebend hast du mich ins

A. Suchovo-Kobylin

Grab getrieben! hast mich verhungern lassen. Für dich gibts keine Gnade. Wir kämpfen jetzt auf Leben oder Tod. Mit Blut, mit deinem eigen Blut wirst du die Briefe dir erkaufen. Oder nein! Mit deinem Geld, dem Geld, das du gestohlen hast; - dem Geld, das dir mehr wert ist als Kinder, Frau, du selbst. Dies Geld werd heimlich, still und leise ich, genüßlich, Rubel um Rubel, Batzen um Batzen aus dir herausquetschen unter schrecklichen Schmerzen; und ich, ich sitz an einem sichren Ort und werde lachen, genüßlich lachen werde ich, wenn du dich krümmst und windest in diesen Schmerzen. Gott! Wie unendlich süß ist Rache. Wie Balsam legt sie sich auf die noch offne Wunde ... Er zieht unter der Weste ein Bündel Briefe hervor. Hier sind sie, diese Briefe - klopft auf das Bündel � sie liegen mir am Herzen, wärmen es! - Sie sind mein Fleisch und Blut! - Die bösesten, die allergiftigsten der Werke Varravins, ein Strauß, den man dem Satan höchstpersönlich überreichen könnte in Liebe und Verehrung. Er versteckt die Papiere sorgfältig unter der Weste und knöpft sie

4. Szene

Tarelkin. Mavrusa tritt auf.

TARELKIN geht ihr entgegen Schnell, schnell, Mavrusa - sie kommen gleich - die Zeit ist teuer ... Er nimmt einen Fisch und hält sich die Nase zu. Pfui Teufel! Ab.

5. Szene

Mavrusa (allein), dann Tarelkin.

MAVRUSA Der Teufel, was er wieder ausheckt ... Sagt: Hilf mir - und am Ende legt er mich nur rein - als Spitzbub ist er schon geboren ... Räumt das Zimmer auf.

Tarelkins Tod 97

TARELKIN kommt zurück Also, paß auf, Alte, - mach nichts falsch, sprich wenig; - sitz einfach da und jammre, - sag immer nur das eine: nichts hat er hinterlassen - ehrlich gelebt - arm gestorben! Verstehst du? Kein Geld, nicht einmal fürs Begräbnis; - und er verwest schon; seht nur, was für ein Gestank, -was tun? - und mit den Händen machst du so. Er macht eine Geste, Mavruša macht sie ihm nach. So! ... Er überlegt. Zu Varravin sagst du: die Polizei wird kommen, - sein Hab und Gut mitnehmen, - Papiere hat er hinterlassen, die werden sie mitnehmen; - das ist nicht gut. Verstanden?

MAVRUŠA Verstanden, Herr, verstanden.

TARELKIN Dann geh. Man hört Lärm. Das sind sie - Gott, das sind sie - beinahe verzagt - ja - entschlossen - hörst du, sobald sie der Gestank betäubt hat, führst du sie hier herein, damit sie nicht zu lange um den Sarg herumstehn. Verstanden?

MAVRUŠA Verstanden, Herr, verstanden.

6. Szene Tarelkin (allein).

TARELKIN versteckt sich hinter dem Paravent So ... Sie sind da ... horcht. Im rechten Augenblick ... sind viele ... sie reden ... Horcht. Machen Lärm ... Horcht. Was ist das! ... du lieber Gott ... Aufgeregt. Was ist - es ist entdeckt! ... entdeckt ... Man hört Mavruša heulen. Mein Gott ... wir sind verloren ... Versteckt sich hinter dem Paravent.

7. Szene

Varravin, gefolgt von einer Menge Beamter, unter ihnen Mav-

MAVRUŠA jammert wie ein Klageweib Hierher, Väter ... hier herein ... och ... och ... och ...

A. Suchovo-Kobylin

VARRAVIN bleibt auf der Schwelle stehen Pfui Teufel, was für ein Gestank.

DIE BEAMTEN kommen herein, halten sich die Nasen zu, ziehen die Galoschen ans Pfui, pfui, - unerträglich.

ČIBISOV Keine Minute ist das auszuhalten! ...

MAVRUŠA jammert Kommt hierher, liebe Väter, hier herein, ihr - gu - ten - Her - ren ... och ...

VARRAVIN Aber woher kommt dieser durchdringende Gestank?

MAVRUŠA dasselbe Spiel Ihr meine Väääter, wie soll er denn nicht stiiinken ... arm gestorben oooch ... Hab einen Saaarg gekauft, kein Geeeld mehr fürs Begräääbnis. Drum stinkt er so, der Liiiebe.

VARRAVIN Ist wirklich gar nichts da, nicht mal für die Beerdigung?

MAVRUŠA dasselbe Spiel Niiichts hat er, Väterchen, - die Polizei wird kooommen - wird alles mitnehmen - die Papiiiere mitnehmen - und waaas für Papiere - er selbst hat sie f versteeeckt... och ...

VARRAVIN hastig Also Papiere hat er hinterlassen?

MAVRUŠA Hat er, Liebster, hat er.

VARRAVIN Zeig sie mir.

MAVRUŠA Wann zeigen. Etwa jetzt zeigen. Begraaaben muß man ihn. Er stinkt, der Liebe, stinkt.

VARRAVIN beiseite Begraben, das ist wahr ... Geheimste Papiere sind mir entwendet worden, - also gestohlen - und wer hat sie gestohlen?! ... Er!! ... Und plötzlich ist er tot! Steckt da nicht noch eine andere Gemeinheit dahinter?! ... Was hilfts -wir müssen ihn begraben - und danach suchen, was es auch kosten mag, wir müssen die Papiere finden! ... An die Beamten gewandt. Meine Herren, - was tun? - Sie sehn: - fast ein Skandal; - kein Geld für die Beerdigung; - man wird es in der Stadt erfahren - und sagen: er ist hungers gestorben; - die Kollegen haben ihn im Stich gelassen; - die Vorgesetzten ihre Sorgepflicht verletzt; - das ist nicht gut - nicht einmal die Öffentlichkeit kann das gutheißen.

DIE BEAMTEN Ja, ja, das kann sie nicht.

Tarelkins Tod

VARRAVIN Also dann, meine Herren. Verrichten wir ein christliches Werk; helfen wir einem Kollegen - ja? Selbst unseren Vorgesetzten wird das gefallen. Heutzutage ist ja das Gemeine groß in Mode, und philosophisch gesehen, was ist die Gemeinde, wenn nicht gemeinschaftliche Kosten?

ČIBISOV Ja, meine Herren, seine Exzellenz hat recht, - das beweisen uns auch die Zeitungen: Gemeinde sind gemeinschaftliche Kosten, und gemeinsame Kosten bilden Gemeinden.

DIE BEAMTEN Ja, ja, so ist es.

ČIBISOV feierlich Also gemeinsame Kosten! Gemeinde! Brüderlichkeit! Geht zur Tür und sucht nach seinen Galoschen.

IBISOV derselbe Ton So ist es, so ist es!... Den Freigebigen liebt Gott. Zeigt mit dem Finger nach oben, geht zur Tür; dasselbe Spiel

DRITTER BEAMTER Sehr schön! ... Sehr schön und menschlich. Aus gemeinschaftlichem Herzen! Dasselbe Spiel.

VIERTER BEAMTER Von jedem einen Faden - dem Armen ein Hemd. Dasselbe Spiel. Allgemeine Flucht.

VARRAVIN schließt die Tür und hält die Beamten zurück Meine Herren, was ist?! ... Halt. So nicht! - Nein, so nicht. Packt Čibisov und Ibisov an den Händen, führt sie zusammen mit den anderen Beamten auf die Vorderbühne. Meine Herren, -hören Sie mich an, wir sind doch eine Familie - nicht wahr? Schüttelt sie an den Händen. Sind wir eine Familie?

ČIBISOV UND IBISOV hüpfend vor Schmerz Ja! Ja! Wir sind eine Familie.

VARRAVIN Unser geringerer Bruder ist in Not. Er schüttelt sie an den Händen. Haben wir ein fühlendes Herz?

ČIBISOV UND IBISOV hüpfen und winden sich vor Schmerz Ja, ja, zum Teufel, wir haben ein fühlendes Herz.

VARRAVIN Also!! - Lassen wir die Herzen sprechen, machen wir die Taschen auf!!

ČIBISOV UND IBISOV reißen sich los Ja, ja, lassen wir die Herzen sprechen! machen wir die Taschen auf!

Alle ergreifen die Flucht.

A. Suchovo-Kobylin

VARRAVIN fängt sie ein Nein, nein, so auch nicht. Beiseite. Diese Nattern geben nicht auf! Laut. Gestatten Sie, meine Herren, wir werden es so machen. Versammelt die Beamten um sich. Sie sind doch bereit, ein gutes Werk zu tun?

DIE BEAMTEN Wir sind bereit, wir sind bereit.

VARRAVIN Und für ein gutes Werk nehmen Sie allzu gern Geld von anderen, ich meine, aus fremden Taschen?

DIE BEAMTEN Aus fremden Taschen? Gern, sehr gern.

VARRAVIN liebevoll Also, dann nehmen Sie sich jetzt gegenseitig schön sanft am Kragen. Die Beamten fassen sich gegenseitig am Kragen. Gut so. Er stellt sie paarweise.

OMEGA kommt angelaufen Euer Exzellenz, ich habe niemanden, den ich am Kragen nehmen könnte.

VARRAVIN Dann nehmen Sie sich selber.

OMEGA verbetigt sich Zu Befehl. Geht beiseite und nimmt sich selbst am Kragen.

VARRAVIN mustert die Beamten Gut, meine Herren, sehr gut. Liebevoll. Und jetzt nehmen Sie jeder die Brieftasche des anderen.

Lärm und Tumult; die Beamten entreißen sich gegenseitig die Brieftaschen.

VARRAVIN ergötzt sich an dem Anblick Wunderschön! So brüderlich! Das ist die wahre Gemeinde! So, jetzt zählen Sie drei Rubel ab, aber nur drei! Nicht mehr!

DIE BEAMTEN Drei Rubel, mein Herr ... Nicht mehr! Nur drei! Sie zählen Geld ab.

Varravin nimmt es in Empfang und kommt auf die Vorderbühne.

VARRAVIN zum Publikum Welch Mitgefühl! Welch eine Inbrunst! Sie sind fast nicht zu halten ... Gerührt. Mich rühren solche Opfer immer sehr. Zu den Beamten. Jetzt, meine Herren, geben Sie die Brieftaschen zurück. Die Beamten geben die Brieftaschen zurück. Ja, so. Ich danke Ihnen. Erlauben Sie mir, Ihnen meinen herzlichsten Dank auszuspre-

Tarelkins Tod 101

chen. Sie haben ein schönes Werk getan - Sie haben ein gutes Werk getan. Ihr geringerer Bruder stirbt in Armut - und jetzt auf einmal Sie ... ich danke Ihnen! Ich bin gerührt - ich -weine, ja - weinen auch Sie! Alle weinen. Umarmen Sie einander - Sie umarmen sich gegenseitig.

OMEGA kommt zu Varravin gelaufen Euer Exzellenz, ich habe niemanden zum Umarmen.

VARRAVIN wischt sich eine Träne ab Umarmen Sie die. Zeigt auf Mavrusa.

Omega umarmt Mavrusa.

MAVRUSA Was willst du, ehrloser, schamloser Kerl ... Was? Loslassen ...

VARRAVIN zu Mavrusa Komm zu mir, arme Frau! Bist du jetzt eine Waise?

MAVRUSA jammert]^ Väterchen, ja, eine Waise!

VARRAVIN Du bist ganz allein? Steckt das Geld in die Brieftasche.

MAVRUSA Ja, mein Vater, mutterseelenallein, allein wie dieser Finger. Hält die Hand auf.

VARRAVIN steckt das Geld in die Tasche So wisse, meine Freundin ... es gibt gute Menschen - zeigt zum Himmel-und den Himmel. Zu den Beamten, mit Gefühl. Meine Herren, gehen wir, gehn wir! - Tarelkin muß begraben werden!!...

DIE BEAMTEN alle gut gelaunt, treten auf Mavrusa zu, klopfen ihr auf die Schulter Ja, es gibt gute Menschen und den Himmel. Sie gehen ab.

8. Szene

Mavrusa steht regungslos, Tarelkin stürzt hinter dem Paravent hervor.

TARELKIN stürzt auf Mavrusa zu und umarmt sie Jawohl, Mavrusa, es gibt gute Menschen und den Himmel!! ...

102 A. Suchovo-Kobylin

MAVRUŠA reißt sich los Im Erdboden sollt ihr alle versinken! -Bin ich der Hanswurst für euch alle, wie?

TARELKIN voller Freude Gut, Mavruša, das war gut; außergewöhnlich gut; hurra!! ... Mir ist ein Stein vom Herzen! Mein Lebtag werd ich deine Dienste nicht vergessen.

MAVRUŠA Ach? Reinlegen werden Sie mich!

TARELKIN Nein, das werde ich nicht. Geht im Zimmer auf und ab und überlegt. Gleich wird Varravin Schluß machen und dann im Hui die Beerdigung richten. Er ist auf die Papiere wild; führ du ihn an der Nase rum ... gib nicht zu früh auf ... dann gib sie ihm ... Der Teufel soll ihn holen ... sie sind keinen Groschen wert; - die guten habe ich verwahrt. Und darum schwöre ihm bei deinem Leben, daß es außer diesen keinerlei Papiere gab. Du sagst, das weiß ich sicher. Ja, kapiert?

MAVRUŠA Zu Befehl.

TARELKIN Dann geh jetzt-und leg noch ein paar Fische nach.

Mavruša geht ab.

9. Szene Tarelkin (allein).

TARELKIN Und wie verfahre ich jetzt weiter? - Welchen Weg beschreite ich? Wo wärm ich mir mein Plätzchen an? Wie lange muß ich warten, um dann loszuschlagen? Mit welchem Kunstgriff presse ich aus Varravin das Geld heraus? Heiter. In was für Batzen, großen oder kleinen? wie? Ich denk, zuerst in kleinen, dann ihn höherschaukeln, immer höher. Er geht, Lärm. Versteckt sich hinter dem Paravent.

Tarelkins Tod 103

10. Szene

Varravin tritt auf. Tarelkin hinter dem Paravent.

VARRAVIN steht nachdenklich da Tot! Keine Frage, tot, er stinkt ja schon! ... Noch keine Nachricht hat mir größeres Vergnügen, was sag ich, größere Glückseligkeit beschert...

TARELKIN hinter dem Paravent Ja-ja.

VARRAVIN Als wäre mir ein ganzer Berg von Schmutz, von Spülicht und Kadaver von den Schultern.

TARELKIN beiseite Merci.

VARRAVIN Als hätte ich nach langen Jahren qualvollen Durstes auf einmal, endlich, wieder klares Quellwasser trinken - und mich erfrischen dürfen. Das faulste, ruheloseste Geschöpf ist in sein Loch zurückgekrochen.

TARELKIN Jetzt reicht es aber ...

VARRAVIN Die widerlichste Kröte ist in den Sumpf zurück; die giftigste und frevlerischste Kreatur hat ihren Lebenskreis beschlossen und ist an dem vom Schicksal vorbestimmten Ort gestolpert und krepiert!... Tot! Und eine faulige Seele verläßt einen stinkenden Körper; wie soll er auch nicht stinken - ich finde, er stinkt zu wenig - er müßte viel mehr stinken.

TARELKIN beiseite Ergebensten Dank; das hätte ich nicht erwartet! Welch ein Abschiedswort?! Aber nein! Warte nur; -ich werd dir auch eins sagen.

VARRAVIN Alles ist fertig - alles angeordnet - alles gemietet: Kutscher, Leichenkarren, Grab ... Zwei Klafter tief hab ich die Grube ausheben lassen - hinein mit ihm, dem Räuber -entsprechende Geste � und kein Hahn kräht mehr nach ihm!...

TARELKIN Kein Hahn kräht mehr nach mir? Das werden wir ja sehen. Improvisiert:

Varravin der General, Als Kollege eine Qual; Aber warte, warte mal, Das gibt ein Final.

VARRAVIN ruft Eh, du - wo steckst du denn! - Du, Frau! ...

A. Suchovo-Kobylin

11. Szene

Varravin, Mavruša tritt auf, Tarelkin hinter dem Paravent.

VARRAVIN Komm her, dummes Weib.

MAVRUŠA kommt näher Ich höre, Väterchen.

VARRAVIN Weißt du, wer ich bin?

MAVRUŠA Nein, Väterchen.

VARRAVIN Ich bin General.

MAVRUŠA Ich höre, Väterchen, Euer Gnaden.

VARRAVIN Weißt du, was ein General ist?

MAVRUŠA Nein, Väterchen, Euer Gnaden.

VARRAVIN General sein bedeutet, daß ich dich nehmen und in einem Mörser zerstampfen kann.

MAVRUŠA fällt auf die Knie Gnade, Euer Väterchen Durchlaucht.

VARRAVIN Zeig mir sofort seine Papiere.

MAVRUŠA Bitte, Euer Durchlaucht - alles, was Sie wünschen, alles zeige ich Ihnen.

Sie gehen ab.

12. Szene

Tarelkin tritt hinter dem Paravent hervor.

TARELKIN Such nur; such und verschaff dir Bewegung, - ha, ha, ha! Geht auf und ab, reibt sich die Hände. Meinen Schatz habe ich bei mir! Klopft sich auf die Brust. Unzertrennlich, unbestreitbar, unverweslich. Geht zur Tür. Stille. Horcht. Horch ... sie kommen. Geht hinter den Paravent.

Tarelkins Tod 105

13. Szene

Varravin und Mavrusa treten auf.

VARRAVIN Nichts - nicht da! ... Unfaßlich. Wo ich doch weiß, mit Sicherheit weiß, daß er und kein anderer mir diese Papiere gestohlen hat!... Er hat einmal sogar sonderbar und frech auf diesen Umstand angespielt. Vielleicht, hat er gesagt, taugt das einmal zum Einheizen, ha! Das war ein Gauner, den bei lebendigem Leib in Stücke zu reißen zu wenig gewesen wäre.

14. Szene

Varravin, Mavrusa; Raspljuev tritt schnell auf, hinter ihm nehmen Šatala und Kačala an der Tür Aufstellung.

RASPLJUEV Habe die Ehre, mich bei Euer Exzellenz zu melden -was geruhen Sie zu befehlen?

VARRAVIN Wer sind Sie?

RASPLJUEV Diensthabender Revieraufseher Ivan Raspljuev.

VARRAVIN Wieso haben Sie keine Maßnahmen getroffen, den Besitz des Verstorbenen zu beschlagnahmen?

RASPLJUEV Alle Maßnahmen sind getroffen.

VARRAVIN Welche?

RASPLJUEV Draußen ist ein Wachtposten aufgestellt; zwei gewissenhafte Polizeidiener - ich selbst bin hier im Dienst ... Alles ist unversehrt- geruhen Sie sich nicht zu beunruhigen.

VARRAVIN Aufpassen - das ist Ihre Verantwortung.

RASPLJUEV Die strengsten Maßnahmen sind getroffen! Bitte sehen Sie selbst - dort - zeigt zur Tür � hat einer der Gewissenhaften nur die Hand nach dem Besitz des Verstorbenen ausgestreckt, da habe ich ihm eine übergebraten, daß er sich die Pfote immer noch hält. Bitte sehen Sie sich um.

VARRAVIN Die Bedienstete beklagt sich aber, der Besitz sei geplündert worden, - Papiere des Verstorbenen seien verschwunden.

106 A. Suchovo-Kobylin

RASPLJUEV Sie lügt - erlauben Sie, daß ich sie verhöre.

VARRAVIN Verhör sie.

RASPLJUEV zu Mavruša Was für Papiere sind verschwunden? -Was für ein Besitz geplündert - sprich.

MAVRUŠA Die Papiiiere, Väterchen, Papiiiere; wie Seine Gnaden welche schreiben - solche.

Varravin geht nachdenklich beiseite.

RASPLJUEV Komm her! Führt Mavruša auf die andere Seite und hält ihr die Faust unter die Nase. Wieviele Zähne hast du noch - sag mir, wieviele, alte Vettel, ich schlage sie dir aus.

MAVRUŠA Ich weiß nicht, Väterchen, ich habe das nur so gesagt - ich habe niemanden gesehen, niemanden gehört.

RASPLJUEV zu Varravin Geruhen Sie zu sehen, Euer Exzellenz: Nichts gesehen, nichts gehört, sagt sie. Das ist nun einmal diese Gattung. Lügt maßlos; aber wenn man sie nur etwas härter anfaßt, singt sie sofort ganz andre Noten.

VARRAVIN denkt nach Merkwürdig ... also treffen Sie Ihre Anordnungen; lassen Sie die Leiche hinaustragen - aber schnell - wozu sie hierbehalten.

RASPLJUEV Geschieht sofort, Euer Exzellenz. Zu den Polizeisoldaten. Eh, Leute, tragt ihn raus!

Šatala, Kačala, gefolgt von Raspljuev schnell ah.

15. Szene

Varravin, dann Tarelkin.

VARRAVIN nachdenklich Wo könnten sie ihm weggekommen sein? - Ich verliere den Kopf; - bin auf alles gefaßt -verdächtige jeden. Ich zittere vor dem einen: daß er sie per eingeschriebenen Brief an den Minister persönlich geschickt hat... hm ...

Tarelkins Tod 107

TARELKIN kommt hinter dem Paravent hervor, spricht mit verstellter Stimme Sie belieben zu trauern, Euer Exzellenz, haben einen Diener verloren, verspüren den Verlust?

VARRAVIN Ja; einen Kollegen, Mitarbeiter habe ich verloren -Sie haben ihn gekannt?

TARELKIN Gekannt, ja, so als Nachbar. Sie suchen etwas?

VARRAVIN Ja. Nur Formulare, Kleinkram.

TARELKIN Sehr wohl. Im Leben kann man alles brauchen. Und, haben Sie gefunden, was Sie suchten?

VARRAVIN Nein, nichts zu finden.

TARELKIN Bedauerlich. Doch das kommt vor. Man meint manchmal, es ist ganz nah - und es ist fern, und manches Ferne liegt so nah. Klopft sich auf die Ernst. Beiseite. Was, Krokodil? Auf meiner Straße ist heut Feiertag.

VARRAVIN Wie sagten Sie?

TARELKIN Ich sagte, Euer Exzellenz, das gibts: das Auge sieht, doch greift der Zahn nicht, und manchmal greifts der Zahn, aber das Auge sieht nicht.

Lärm. Šatala und Kačala tragen im Hintergrund der Bühne den Sarg.

TARELKIN Da trägt man ihn hinaus. Gestatten Sie, Euer Exzellenz, einem alten Bekannten des Verstorbenen ein letztes Abschiedswort.

VARRAVIN Bitte sehr.

TARELKIN feierlich Ordnungsorgane - halt.

Die Polizeidiener bleiben stehen.

TARELKIN Gnädige Herren. Euer Exzellenz! Also: Tarelkin ist nicht mehr. Des Grabes stummer Abgrund reißt vor uns den schwarzen Rachen auf, in ihm ist er verschwunden! ... Tarelkin ist verschwunden, umgekommen, ist verflüchtigt -ist nicht mehr. Was steht vor uns? - Ein leerer Sarg, sonst nichts ... Ein großes Rätsel, ein unfaßliches Ereignis. Mein Wort gilt euch, euch Listigsten der Welt, - euch, den Ent-

io8 A. Suchovo-Kobylin

deckern unsichtbarer Welten, Errechnern unberechenbarer Sterne, sagt uns, wo ist Tarelkin? ... hm ... Hebt den Zeigefinger. Eben! ...

Jawohl, verehrte Gäste, trauern wir im Herzen um Tarelkin! Er ist nicht mehr, der Eiferer - er ist nicht mehr, der Führer der Avantgarde. Immer und überall war er, Tarelkin, anderen voraus. Kaum hörte er Geräusche einer Veränderung, die bevorstand, schon stand er da und rief: voran!! ... Wo man die Fahne trug, ging ihr Tarelkin stets voran, wo man den Fortschritt kündete, stand er und schritt voran, der Fortschritt hinterdrein! - Und als es anhob mit der Emanzipation der Frau, hat er geweint, daß er nicht Frau war, um öffentlich die Krinoline abzustreifen und zu zeigen ... wie man sich emanzipiert. Wurde verkündet, daß es Humanismus gibt, da war Tarelkin schon von ihm durchdrungen und aß kein Fleisch von Hühnchen mehr, sie waren, sozusagen, seine schwächsten, die geringsten Brüder - er ging zu Truthahn, Gans als den natürlich stärkeren über. Tarelkin ist nicht mehr, und jetzt bedürften selbst die Wärmsten seiner Glut; den Fortschrittlichen fehlt das vorn, den Hinterbliebnen bleibt der Hintern! Tarelkin ist nicht mehr, und es ist kalt geworden in der Welt, der Fortschritt weiß nicht weiter, der Humanismus ist ein Waisenkind ...

Sie werden fragen, wie hat ihm die Menschheit diese Glut gelohnt? ... Die Antwort - es ist keine Antwort, - ich will sagen: hier, die Ironie liegt vor euch! Ein schlichter Sarg, ein Kutscher, Leichenkarren und ein Armengrab ... Doch sehen Sie, an diesem jämmerlichen Sarg hier steht - zeigt auf Varravin - ein Würdenträger, der in dieser Welt die Macht hat, mit Gewalt gegürtet ist. Was sagt uns seine Gegenwart an diesem Ort? Hat Heuchelei, hat Hinterlist, hat Eigennutz ihn hergeführt an diesen Sarg hier zwischen uns? Oh, nein! Mit seiner Gegenwart ehrt er den Rang des Jämmerlichen, den Orden der Armut, die Uniform des Untergebnen - des Untergebnen, der mit ins Grab genommen hat die eigensten geheimsten und intimsten ... VARRAVIN mit einer Bewegung Was soll das ?!!

Tarelkins Tod 109

TARELKIN fährt fort ... Tränen seiner Exzellenz ... Zu Varravin. Ich meine Ihre Tränen, Euer Exzellenz. Varravin macht eine bekräftigende Geste und geht hinaus. Ehren wir also diesen leeren, aber viel bedeutenden Sarg mit einer warmen Träne und sagen wir: Friede seiner Asche, ehrlicher Arbeiter auf dem steinigen Acker staatsbürgerlicher Betätigung. Er verbeugt sich und kommt auf die Vorderbühne.

RASPLJUEV zu den Polizeisoldaten Tragt ihn hinaus.

Sie tragen den Sarg hinaus. Die Beamten folgen.

16. Szene

Raspljuev und Tarelkin.

RASPLJUEV setzt den Dreispitz auf So ist es, Sie haben recht,

mein Herr: die Seele ist unsterblich.

TARELKIN gut gelaunt; faßt ihn am Arm Nicht wahr? Unsterblich, das heißt, die Toten sterben nicht. RASPLJUEV Genau! - Sie sterben nicht!! Er überlegt. Das heißt,

wie meinen Sie: sie sterben nicht?!? TARELKIN Sie leben weiter ... aber wissen Sie - er zeigt es -

dort, weit weg! ... RASPLJUEV Weit weg - ja. ... Schön, aber sagen Sie, was hatte

er für einen Rang? TARELKIN Oh, einen ehrenwerten, Kollegienrat. Ach, wissen

Sie, er hat bei Varravin die ganze Arbeit geleistet. RASPLJUEV Was Sie nicht sagen! Warum dann so ein ärmliches

Begräbnis, wie man sagen darf ... Daß sogar, na ... nicht mal

ein Essen serviert wird. Das schreibt doch schon die Religion

in aller Regel vor.

TARELKIN Was tun - er war die Tugend selbst, - und schlicht. RASPLJUEV engagiert So! Ich verstehe ... Wissen Sie, ich sage

immer: Tugend wird nicht belohnt auf dieser Welt! TARELKIN Wie wahr, wie wahr! Belohnt - nein! Und von wem

auch? Den Menschen? Haben Sie welche gesehen?

A. Suchovo-Kobylin

RASPLJUEV Ja.

TARELKIN Was für ein Herz Sie haben, ach!

RASPLJUEV Gesehen hab ich: Wölfe!

TARELKIN Wölfe: genau. Nimmt Raspljuev am Arm. Und haben Sie dabei gelitten?

RASPLJUEV zwinkert ins Publikum So muß es wohl gewesen sein. Und Sie?

TARELKIN Wie Sand am Meer!

RASPLJUEV Was sie nicht sagen! Im zivilen Dienst, wissen Sie... gibt es das nicht ... besonders nicht in den höheren Rängen.

TARELKIN Doch - in den höheren Rängen schmerzt es noch viel mehr!

RASPLJUEV erstaunt Schmerzt mehr??! Aber nicht öffentlich, nur so für sich?

TARELKIN Na selbstverständlich: das wissen Gott und ich allein! ...

RASPLJUEV platzt heraus Phuuü Erzählen Sie. Von wem? Wie? Welcher Anlaß? Das interessiert mich.

TARELKIN Ja nun: ich nehme an, nach dem Begräbnis werden Sie ein Essen nicht ausschlagen.

RASPLJUEV Zugegeben, mit Vergnügen. Ein Hundeleben, unser Dienst; da öffnet sich das Herz nur dann, wenn man beim Essen zugreift und sich mit einem klugen Menschen unterhält.

TARELKIN Möchten Sie dann nach der Feier nicht auf ein Essen zu mir kommen?

RASPLJUEV Was, Feier? Die heben ihn hier auf den Karren und verscharrn ihn in der Grube. Das, mein Herr, machen meine Musketiere allein, ich bin gleich wieder da, ich muß nur einem Hausknecht hier die Zähne putzen, dann komme ich - zu Ihnen. Er gebt ab.


Tarelkins Tod

17. Szene Tarelkin (allein).

TARELKIN Vorsehung! - Dank sei dir! Wie ist das alles leicht und glatt gegangen. Jetzt nur das eine: kühlen Kopf. - Und fort von hier! Noch morgen gebe ich die Wohnung auf und fort! Fort in die Wüste! Nach Moskau! - Dort werd ich untertauchen - bis über alles Gras gewachsen ist ... Packen, sofort! Nimmt einen Koffer. Sofort! Sofort!

Der Vorhang fällt.

Fedor M. Dostoevskij Bobok

Aufzeichnungen einer Person

Vorgestern sagt Semen Ardaljonovič plötzlich zu mir:

- Wird man dich jemals nüchtern erleben, Ivan Ivanyč, sag mir das bitte?

Merkwürdig, dieses Ansinnen. Ich bin nicht beleidigt, ich bin ein schüchterner Mensch; aber jetzt hat man mich auch noch für verrückt erklärt. Der Zufall wollte, daß ein Maler mich porträtierte. »Du bist schließlich«, sagt er, »Literat.« Ich ließ ihn gewähren, und er stellte das Bild aus. Ich lese: »Man gehe hin und sehe sich dieses kranke, dem Wahnsinn nahe Gesicht an.« Das mag ja sein, aber trotzdem, warum setzt man das so direkt in die Presse? In der Presse muß alles vornehm sein; da werden Ideale verlangt, aber das...

Sag es doch zumindest indirekt, wozu hast du deinen Stil. Aber nein, indirekt wills niemand mehr. Humor und guter Stil sind heutzutage im Aussterben begriffen und Schimpfwörter werden für Pointen genommen. Ich bin nicht beleidigt: ich bin kein so großer Literat, als daß ich darüber den Verstand verlieren könnte. Ich habe einen Roman geschrieben - man hat ihn nicht gedruckt. Ich habe Feuilletons geschrieben - man hat sie abgelehnt. Diese Feuilletons habe ich verschiedenen Redaktionen angeboten, man hat sie überall abgelehnt: »Da fehlt das Salz«, sagen sie.

- Was für Salz willst du, - frage ich spöttisch, - attisches vielleicht?

Und er versteht nicht mal den Witz. Ich übersetze hauptsächlich für Verlagsbuchhändler aus dem Französischen. Schreibe auch Annoncen für Geschäftsleute: »Seltenheit! Roter Tee, aus eigener Pflanzung...« Für meine Lobrede auf Seine Exzellenz, den verstorbenen Petr Matveevič, habe ich einen guten Batzen Geld

F. M. Dostoevskij

bekommen. »Die Kunst gefällt der Damenwelt« habe ich im Auftrag eines Verlagsbuchhändlers verfaßt. Ein halbes Dutzend solcher Broschüren habe ich herausgebracht in meinem Leben. Die Aussprüche Voltaires möchte ich zusammenstellen, aber ich fürchte, sie werden unseren heutigen Lesern nicht salzig genug sein. Heutzutage Voltaire; heute herrscht der Knüppel, aber nicht Voltaire! Die letzten Zähne haben wir uns gegenseitig ausgeschlagen! Das ist schon meine gesamte literarische Tätigkeit. Außer, daß ich unentgeltlich Leserbriefe verschicke, immer mit vollem Namen gezeichnet. Unentwegt erteile ich Ermahnungen und Ratschläge, kritisiere und weise den richtigen Weg. Vorige Woche habe ich an ein und dieselbe Redaktion den vierzigsten Brief innerhalb von zwei Jahren geschickt; vier Rubel allein für Briefmarken ausgegeben. Ich habe einen schlechten Charakter, das ist es.

Ich denke, der Maler hat mich nicht der Literatur wegen porträtiert, sondern wegen meiner beiden symmetrischen Warzen auf der Stirn: ein Phänomen, wird er sich gesagt haben. Hat heutzutage jemand keine Idee, so verlegt er sich auf Phänomene. Und gelungen sind ihm die Warzen auf dem Bild - wie lebendig! Das nennt man Realismus.

Was dagegen den Wahnsinn betrifft, so hat man bei uns im vergangenen Jahr viele für verrückt erklärt. Und das in einem Stil: »Bei einem solch eigenständigen Talent... und wie sich am Ende herausstellt... Übrigens war das seit langem vorauszusehen ...« Und das ist noch einigermaßen gewandt formuliert; so daß man es vom Standpunkt der reinen Kunst sogar loben könnte. Ja, und die kamen plötzlich noch klüger zurück. Das ist es eben: jemanden um den Verstand bringen, das kann man bei uns, aber klüger haben sie noch nie jemanden gemacht. Klug ist meiner Meinung nach derjenige, der sich mindestens einmal im Monat einen Dummkopf nennt, - eine heutzutage unerhörte Fähigkeit! Früher hat sich der Dummkopf wenigstens einmal im Jahr klargemacht, daß er dumm ist, heute dagegen - keine Rede davon. Dabei sind die Dinge heute derart durcheinander, daß der Dumme vom Klugen nicht mehr zu unterscheiden ist. Das haben sie absichtlich getan.

Bobok 115

Hier fällt mir ein spanisches Wort ein, als die Franzosen, vor zweieinhalb Jahrhunderten, das erste Irrenhaus eingerichtet hatten: »Sie sperren alle ihre Dummköpfe in ein besonderes Haus, um in der Überzeugung zu leben, sie selber seien kluge Menschen.« Das trifft den Nagel auf den Kopf: dadurch, daß man den anderen ins Irrenhaus sperrt, beweist man keinen eigenen Verstand. »K. hat den Verstand verloren, also sind wir jetzt klug.« O nein, das bedeutet das noch lange nicht! Aber, zum Teufel... was treibe ich hier mit meinem Verstand: ich nörgle und nörgle. Sogar dem Dienstmädchen falle ich damit schon auf die Nerven. Gestern hatte ich Besuch von einem Freund: »Dein Stil hat sich verändert, sagte er, er ist so abgehackt. Du hackst in einem fort - eine Parenthese, zu der Parenthese noch eine Parenthese, dann noch einen Zusatz in Klammern, dann hackst du den Satz wieder ab, und wieder...« Der Freund hat recht. Mit mir geht etwas Merkwürdiges vor. Auch mein Charakter hat sich verändert, und ich habe Kopfschmerzen. Ich sehe und höre neuerdings merkwürdige Dinge. Nicht, daß es Stimmen wären, es ist, als machte jemand neben mir ganz nah: »Bobok, Bobok, Bobok!« Was heißt Bobok? Ich muß auf andere Gedanken kommen.

Also ging ich hinaus, um auf andere Gedanken zu kommen - und geriet auf eine Beerdigung. Ein entfernter Verwandter. Immerhin Kollegienregistrator. Witwe, fünf Töchter, allesamt unverheiratet. Was allein das Schuhwerk für die kostet! Der Verstorbene hatte so seine Nebeneinkünfte, aber jetzt - nur die elende Pension. Jetzt müssen sie kürzer treten. Mich hatten sie immer sehr unfreundlich aufgenommen. Und ich wäre auch jetzt nicht hingegangen, wäre nicht dieser Extremfall gewesen. Bis zum Friedhof folgte ich den übrigen Trauergästen; man meidet mich und rümpft die Nase. Meine Uniform ist in der Tat ein wenig schäbig. Ich glaube, fünfundzwanzig Jahre bin ich auf keinem Friedhof mehr gewesen; dabei - das ist ein Örtchen! Erstens, der Geruch. Fünfzehn Leichen hatte man gebracht. Sargdecken in verschiedensten Preislagen; sogar zwei Katafalke: für einen General und irgendeine Dame. Viele trauernde Gesich-

n6

F. M. Dostoevskij

ter, aber auch viel geheuchelte Trauer, und viel unverhohlene Freude. Die Geistlichkeit kann nicht klagen: das Geschäft geht gut. Aber der Geruch, der Geruch. Hier möchte ich nicht Priester sein.

Den Leichen blickte ich mit Vorsicht ins Gesicht, aus Furcht vor meiner Erregbarkeit. Da waren milde Gesichter, aber auch unangenehme. Meistens ist ihr Lächeln unschön, zuweilen sogar häßlich. Ich kann sie nicht leiden; man träumt am Ende noch von ihnen.

Nach der Messe trat ich aus der Kirche ins Freie; der Tag war grau, aber trocken. Und auch kalt; aber wir haben ja auch schon Oktober. Ich ging zwischen den Gräbern auf und ab. Den verschiedenen Klassen. Dritte Klasse zu dreißig Rubel: anständig, und nicht zu teuer. Die beiden oberen im Innenhof der Kirche und unter dem Portal; die kosten! In der dritten Klasse wurden dieses Mal sechs Leute beerdigt, unter ihnen der General und die Dame.

Ich warf einen Blick in die Gräber- schrecklich: das Wasser, und was für ein Wasser! Ganz grün und... aber wozu darüber sprechen! Jeden Augenblick mußte der Totengräber mit seiner Schaufel das Wasser herausschöpfen. Während des Gottesdienstes war ich vor das Tor hinausgegangen. Hier befindet sich gleich das Armenhaus, und ein wenig weiter ein Restaurant. Gar kein so übles Restaurant: da gibt es zu essen, zu trinken und alles, was das Herz begehrt. Auch viele Trauergäste waren dort. Viel Freude und ehrliche Begeisterung habe ich bemerkt. Ich aß etwas und trank dazu.

Danach beteiligte ich mich eigenhändig am Tragen des Sarges, aus der Kirche bis zum Grab. Warum werden Leichen im Sarg nur so schwer? Man sagt, dies komme aus der Trägheit, weil der Körper sich sozusagen nicht mehr selbst befehligen könne... oder einen anderen Unsinn dieser Art; der den Gesetzen der Mechanik und jedem gesunden Menschenverstand widerspricht. Ich kann es nicht leiden, wenn Menschen mit bloßer Allgemeinbildung sich danach drängen, spezielle Fragen zu lösen; solche haben wir im Überfluß. Zivilpersonen, die gern über militärische Gegenstände oder sogar über Feldmarschälle urteilen, dagegen

Bobok 117

urteilen Leute mit einer Ausbildung zum Ingenieur nur zu gern über Philosophie und politische Ökonomie. Zum Leichenschmaus bin ich nicht mitgefahren. Ich habe meinen Stolz, und wenn man mich empfängt, nur wenn es gar nicht anders geht - was soll ich dann bei ihrem Essen herumsitzen, auch wenn sie es zu Ehren des Verstorbenen geben? Ich verstehe nur nicht, weshalb ich auf dem Friedhof geblieben bin; ich setzte mich auf eine Grabplatte und verfiel in entsprechende Gedanken.

Es begann mit der Ausstellung in Moskau und endete bei der Verwunderung, allgemein als Thema verstanden. In puncto »Verwunderung« führte ich aus:

»Sich über alles zu wundern, ist natürlich dumm, sich über nichts zu wundern ist dagegen bei weitem schöner und gehört aus irgendeinem Grunde zum guten Ton. Aber so verhält es sich in Wirklichkeit wohl kaum. Meiner Meinung nach ist, sich über nichts zu wundern, bei weitem dümmer, als sich über alles zu wundern. Und außerdem: sich über nichts wundern zu können, ist beinahe dasselbe, wie vor nichts mehr Achtung zu haben. Und vor nichts mehr Achtung haben kann nur ein dummer Mensch.« - Ich möchte gern vor allem Achtung haben. Es dürstet mich geradezu danach, Achtung zu haben, - hat neulich ein Bekannter zu mir gesagt.

Ihn dürstet danach, Achtung zu haben! O Gott, dachte ich, was würde erst aus dir werden, wenn du den Mut hättest, das zu veröffentlichen!

Hier verlor ich mich in Gedanken. Ich lese nicht gern Grabinschriften; sie sind immer gleich. Auf der Grabplatte nebenan lag ein angebissenes Butterbrot: dumm und unpassend an diesem Ort. Ich warf es zu Boden, denn es war ja kein Brot, sondern ein Butterbrot. Übrigens halte ich es nicht für Sünde, Brot auf die Erde zu werfen; auf den Fußboden - ja. Ich muß darüber in Suvorins Kalender nachlesen.

Ich nehme an, ich habe lange so gesessen, zu lange sogar; d. h., ich habe mich sogar auf einer Steinplatte ausgestreckt, die aussah wie ein Marmorsarg. Doch wie kam es dazu, daß ich plötzlich verschiedene Dinge hörte? Zuerst schenkte ich ihnen keine

n8 F. M. Dostoevskij

Aufmerksamkeit, strafte sie sogar mit Verachtung. Aber das Gespräch nahm seinen Fortgang. Ich höre - dumpfe Laute, wie aus Mündern, die man mit Kissen zuhält; bei alledem aber gut vernehmlich und sehr nah. Ich kam zu mir, setzte mich auf und hörte mit immer größerer Aufmerksamkeit zu.

- Euer Exzellenz, das ist einfach unmöglich. Sie hatten Coeur angesagt, ich erkläre Whist, und dann haben Sie auf einmal sieben Caro. Hierüber hätte man sich früher verständigen sollen.

- Wie, soll ich also mit offenen Karten spielen? Wo bleibt da der Reiz?

- So geht es nicht, Euer Exzellenz, ohne Garantien geht es unmöglich. Man braucht unbedingt einen Strohmann, und der Stich muß natürlich blind sein.

- Na, einen Strohmann wirst du hier kaum finden.

Welch heftige Worte! Ebenso merkwürdig wie unverhofft. Die eine Stimme gewichtig, gesetzt, die andere eher weich und süßlich; ich hätte es selbst nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Ohren gehört hätte. Ich war doch nicht auf den Leichenschmaus mitgefahren. Und doch, hier wird Preference gespielt, und wer ist dieser General? Daß die Stimmen aus den Gräbern drangen, stand zweifelsfrei fest. Ich beugte mich vor und las die Inschrift auf dem Grabstein:

»Hier ruht die sterbliche Hülle von Generalmajor Pervoedov... Ritter der und der Orden.« Hm. »Verstorben im August des Jahres... im siebenundfünfzigsten Lebensjahr... Friede deiner Asche, bis zum freudigen Morgen!«

Hm, zum Teufel, tatsächlich ein General! Auf dem anderen Grabhügel, aus dem die Stimme des Schmeichlers drang, stand noch kein Stein; auf ihm lag nur eine Tafel; ein Neuankömmling also. Die Stimme nach Hof rat.

- Oh-oh-oh-oh! - war eine neue Stimme zu vernehmen, fünf Schritte von dem General entfernt, aus einem ganz frischen Grab, - eine männliche Stimme aus dem einfachen Volk, gemildert aber durch ihren andächtig-ehrfurchtsvollen Ton. -Oh-oh-oh-oh!

- Igitt, stößt er schon wieder auf! - erscholl plötzlich die

Bobok 119

angewiderte und hochmütige Stimme einer gereizten Dame, offenbar aus besseren Kreisen. - Es ist die reinste Strafe, neben diesem Krämer!

- Ich stoße nicht auf, ich habe nämlich keinen Bissen mehr zu mir genommen. Das ist einfach meine Natur. Und Sie, Gnädigste, können immer noch nicht von Ihren irdischen Launen lassen.

- Warum hast du dich ausgerechnet hierher gelegt?

- Man hat mich hierher gelegt, meine Gattin und meine Kinder haben mich hierher gelegt, nicht ich. Das Mysterium des Todes! Nie im Leben hätte ich mich neben Sie gelegt; nicht um alles Geld dieser Erde; aber ich liege hier auf eigene Kosten, ganz nach der Preisliste. Ein Grab dritter Klasse kann ich mir allemal leisten.

- Alter Raffke; weil du die Menschen begaunert hast?

- Wie denn das, wo Sie schon seit Januar nicht mehr bezahlt haben? Ihre unbezahlte Rechnung liegt noch immer bei uns im Laden.

- So etwas Dummes! Hier noch Schulden eintreiben zu wollen, finde ich einfach unverzeihlich dumm! Steigen Sie doch hinauf. Halten Sie sich an meine Nichte; sie hat alles geerbt.

- Wie soll ich jetzt noch hinaufsteigen. Wir beide sind am Ende angelangt und stehen beide vor Gottes Richterstuhl. An Sünden gleich.

- An Sünden! - äffte die Verstorbene ihn verächtlich nach. - Unterstehen Sie sich, in solch einem Ton mit mir zu sprechen! -Oh-oh-oh-oh!

- Dieser Krämer hat aber einen Heidenrespekt vor der Dame, Euer Exzellenz.

- Wie sollte er auch nicht?

- Ja nun, Euer Exzellenz, bekanntlich herrscht hier doch eine neue Ordnung.

- Was für eine neue Ordnung?

- Aber wir sind doch, sozusagen, gestorben, Euer Exzellenz.

- Ach so! Aber eine Ordnung herrscht trotzdem...

Sie sind also quitt, und haben ihren Spaß miteinander! Wenn es hier schon dazu kommt, wozu dann noch fragen in den höheren Etagen? Doch um welche Dinge ging es da? Ich horchte also weiter, obschon mit größtem Widerwillen.

iio R M. Dostoevskij

- Nein, ich möchte leben! Nein... Wissen Sie, ich möchte noch leben! - ertönte plötzlich eine neue Stimme, irgendwo zwischen dem General und der reizbaren Dame.

- Hören Sie, Euer Exzellenz, unser Freund fängt schon wieder an. Drei Tage lang schweigt er mucksmäuschenstill, und dann plötzlich: »Ich möchte leben, nein, ich möchte leben!« Und das mit einem Appetit, hihi!

- Und einem Leichtsinn.

- Es überkommt ihn, Euer Exzellenz, und Sie wissen ja, er wird einschlafen, ganz einschlafen, er ist ja schon seit April hier, und dann plötzlich: »Ich möchte leben!«

- Aber es ist ja auch ziemlich langweilig, - bemerkte seine Exzellenz.

- Jawohl, Euer Exzellenz, das schon, aber wir könnten ja Avdotja Ignatjevna ein bißchen ärgern, hihi?

- Oh, nein, bitte nicht. Ich kann diese zänkische Zippe nicht ausstehen.

- Und ich kann Sie beide nicht ausstehen, - gab die Zippe angewidert zur Antwort. - Sie sind beide stinklangweilig und haben so gar nichts Erhabenes zu erzählen. Wohingegen ich von Ihnen, Exzellenz, ein hübsches Histörchen weiß - Sie brauchen sich nichts darauf einzubilden -, ich meine die Geschichte, wie ein Diener Sie eines Morgens mit dem Besen unter einem Ehebett hervorgekehrt hat.

- Ein schreckliches Frauenzimmer, - zischte der General durch die Zähne.

- Matuška, Avdotja Ignatjevna, - heulte plötzlich der Krämer auf, - du meine Gnädigste, sage mir und vergiß den Streit, sind das hier schon die Höllenqualen, oder geschieht hier etwas anderes ?

- Fängt er schon wieder an, ich habe es ja geahnt, ich spüre es an seinem Geruch, dem Geruch: er dreht sich schon wieder um.

- Ich drehe mich nicht um, Matuška, und verbreite auch keinen besonderen Geruch, denn mein Körper ist noch ganz wie er war, Sie dagegen, Gnädigste, haben schon einen Stich, - Ihr Geruch ist wirklich unausstehlich, selbst an einem Platz wie diesem. Ich schweige nur aus Höflichkeit.

Bobok in

- Ekelhafter Verleumder! Selber stinkt er, daß es Gott erbarm, und schiebt es auf mich.

- Oh-oh-ohoh! Wenn unsere vierzig Tage nur schon vorüber wären: ich höre klagende Stimmen, des Weibes Seufzer und der Kinder leises Weinen!...

- Ach, deshalb weint er: die schlagen sich den Wanst voll da oben und fahren dann nach Hause. Ach, wenn doch nur einer aufwachen wollte!

- Avdotja Ignatjevna, - hob der schmeichlerische Beamte erneut zu sprechen an, - warten Sie ein Weilchen, dann fangen die Neuen an zu sprechen.

- Sind auch junge Männer darunter?

-Jawohl, auch junge, Avdotja Ignatjevna. Sogar Knaben.

- Ach, die kämen mir gerade recht!

- Und warum sprechen sie noch nicht? - erkundigte sich seine Exzellenz.

- Es sind noch nicht mal die von vorgestern aufgewacht, Euer Exzellenz, Sie wissen doch, manch einer schweigt eine ganze Woche. Gut, daß sie alle gestern, vorgestern und heute gebracht worden sind. Sonst lägen hier im Umkreis von zehn Schritten nur Leichen vom vergangenen Jahr.

- Ja, das ist interessant.

- Sehen Sie, Euer Exzellenz, heute ist der Wirkliche Geheimrat Tarasevič beerdigt worden. Ich habe es an den Stimmen erkannt. Ein Bekannter von mir ist sein Neffe, er hat den Sarg mit herabgelassen.

- Hm, und wo liegt er?

- Fünf Schritte weiter von Ihnen, Euer Exzellenz, links. Beinahe zu Ihren Füßen... Das, Euer Exzellenz, wäre eine Bekanntschaft für Sie.

- Hm, nein, das geht nicht... Soll ich vielleicht den ersten Schritt tun.

- Er wird von selbst anfangen, Euer Exzellenz. Es wird ihm sogar schmeicheln, überlassen Sie das mir, Euer Exzellenz, ich...

- Ach, ach... ach... was ist bloß mit mir geschehen? - ächzte auf einmal ein verschrecktes neues Stimmchen.

F. M. Dostoevskij

- Ein Neuer, Euer Exzellenz, einer der Neuen, Euer Exzellenz, Gott sei Dank, und so früh schon! Andere schweigen eine ganze Woche.

- Ah, ein junger Mann, wie es scheint! - kreischte Avdotja Ignatjevna auf.

- Ich... ich... ich bin an einer Komplikation gestorben, ganz plötzlich! - stammelte der Jüngling. - Noch am Abend zuvor hat Schulz zu mir gesagt: Sie haben eine Komplikation, und in den Morgenstunden bin ich plötzlich gestorben. Ach! ach!

- Tja, da kann man nichts machen, junger Mann, - bemerkte huldvoll und froh über den Neuankömmling der General, -trösten Sie sich! Willkommen bei uns im Tale Josaphats, sozusagen. Wir sind gute Menschen, Sie werden uns kennen und schätzen lernen. Generalmajor Vasilij Vasiljev Pervoedov, zu Diensten.

- Oh, nein! nein, nein, das halte ich nicht aus! Ich war bei Schulz, wissen Sie, dort kam es zu der Komplikation, zuerst hatte es die Brust befallen, mit Husten, danach habe ich mich erkältet: Schmerzen im Brustkorb, Grippe... und plötzlich, ganz unverhofft ... vor allem so unverhofft.

- Sie sagen, zuerst war es die Brust, - mischte sich in sanftem Ton der Beamte ein, wie um dem Neuling Mut zu machen.

- Ja, die Brust, dann Schleim, und dann auf einmal kein Schleim mehr, ich kann nicht mehr atmen... und wissen Sie...

- Ich weiß, ich weiß. Aber wenn es die Brust war, wären Sie besser zu Eck gegangen, nicht zu Schulz.

- Und wissen Sie, ich hatte immer zu Botkin gehen wollen... und plötzlich...

- Oh, Botkin ist bissig, - bemerkte der General.

- Nein, er ist ganz und gar nicht bissig; ich habe gehört, er sei umsichtig und stelle immer die richtige Prognose.

- Seine Exzellenz meint das Honorar, - korrigierte der Beamte.

- Ach was, drei Rubel im Höchstfall, er untersucht Sie und verschreibt Ihnen ein Rezept... Ich wollte unbedingt zu ihm, weil man mir gesagt hatte... Und zu wem soll ich nun gehen, meine Herren, zu Eck oder zu Botkin?

Bobok 123

- Was? Wohin? - erbebte, von einem angenehmen Lachreiz geschüttelt, die Leiche des Generals. Der Beamte sekundierte mit Fistelstimme.

- Mein Liebling, mein kleiner Liebling, ach, ich liebe dich! -kreischte Avdotja Ignatjevna vor Begeisterung auf. - Ach, wenn du doch neben mir liegen würdest!

Nein, ich kann es nicht glauben! Und das ist ein Toter von heute! Aber hören wir noch ein wenig weiter und ziehen wir keine vorschnellen Schlüsse. Dieser Lausebengel - ich habe ihn eben noch im Sarg liegen sehen - hatte den Gesichtsausdruck eines verschreckten Kükens, den allerwiderwärtigsten der Welt! Aber weiter.

Weiter erhob sich ein solcher Heidenspektakel, daß ich mir nicht alle Einzelheiten merken konnte, denn es erwachten sehr viele auf einmal: ein Beamter, Staatsrat, verwickelte den General sofort und unverzüglich in ein Gespräch über das Projekt einer neuen Unterkommission beim Ministerium für'"""""" Angelegenheiten und die wahrscheinliche, mit Bildung der Unterkommission in Verbindung stehende Versetzung verschiedener Amtsinhaber, wodurch er den General aufs beste unterhielt. Ich muß gestehen, auch ich erfuhr dabei viel Neues, so daß ich mich geradezu wundern mußte, auf welchen Wegen man in dieser unserer Hauptstadt gelegentlich administrative Neuigkeiten erfahren kann. Dann erwachte ein Ingenieur, aber nur halb, und er murmelte noch lange absoluten Unsinn, so daß die anderen nicht näher auf ihn eingingen, sondern ihn links liegen ließen, bis seine Zeit kommen würde. Schließlich begann die heute morgen unter dem Katafalk beerdigte junge Dame Anzeichen von Grabesbelebung zu äußern. Lebezjatnikov (der speichelleckerische und mir verhaßte Hofrat, der neben dem General beerdigt lag, hieß wie sich herausstellte, Lebezjatnikov) tat sehr überrascht und verwundert, daß diesmal alle so rasch erwachten. Ich muß gestehen, verwundert war auch ich; unter den Erwachten waren nämlich einige, die man erst vorgestern beerdigt hatte, wie zum Beispiel ein noch sehr junges Mädchen, von etwa sechzehn Jahren, das unablässig kicherte... widerlich und mannsgeil kicherte.

124 F- M. Dostoevskij

- Euer Exzellenz, Geheimrat Tarasevič geruhen aufzuwachen! -verkündete Lebezjatnikov mit größter Beflissenheit.

- Wie? Was ist das? - stieß angewidert, lispelnd, der erwachende Geheimrat hervor. Im Ton seiner Stimme lag etwas launisch-Gebieterisches. Ich horchte auf, denn einige Tage zuvor hatte ich über diesen Tarasevič etwas Gespenstisches und im höchsten Grade Besorgniserregendes gehört.

- Ich bin es, Euer Exzellenz, bis jetzt bin es nur ich.

- Wohin zielt ihre Bitte und was wünschen Sie?

- Ich will mich einzig und allein nach dem werten Befinden Euer Exzellenz erkundigen; aus mangelnder Erfahrung fühlt sich hier jeder erst einmal wie eingeschnürt... General Pervoedov wünscht die Ehre Ihrer Bekanntschaft zu machen, Euer Exzellenz, und er hofft...

- Pervoedov? Nie gehört.

- Ich bitte Sie, Euer Exzellenz, General Pervoedov, Vasilij Vasiljevič...

- Sie sind General Pervoedov?

- Aber nein, Euer Exzellenz, ich bin nur der Hofrat Lebezjatnikov, zu Ihren Diensten, General Pervoedov dagegen...

- Unsinn! Lassen Sie mich bitte in Ruhe.

- Lassen Sie ihn, - setzte General Pervoedov schließlich würdevoll der ekligen Beflissenheit seines Grabesklienten ein Ende.

- Er ist noch nicht ganz bei sich, Euer Exzellenz, das müssen Sie bedenken; er hat sich noch nicht eingewöhnt; wenn er erst richtig wach ist, wird er Sie anders begrüßen...

- Lassen Sie ihn, - wiederholte der General.

- Vasilij Vasiljevič, he, Sie, Euer Exzellenz! - rief plötzlich laut und herausfordernd direkt neben Avdotja Ignatjevna eine ganz neue Stimme - eine herrische und unverschämt dreiste Stimme mit jener heutzutage Mode gewordenen lässigen Aussprache und in frechem Skandierton, - ich beobachte Sie nun schon seit zwei Stunden; ich liege hier ja schon drei Tage; erinnern Sie sich an mich, Vasilij Vasiljevič? Klinevič, wir sind uns bei den Volkon-skijs begegnet, wo Sie, ich weiß nicht wieso, ebenfalls Zutritt hatten.

Bobok 125

- Ah, Graf Petr Petrovič... das sind doch nicht etwa Sie... und in so jungen Jahren... Mein Beileid!

- Tut mir ja selber leid, ist mir aber auch egal, ich will aus allem nur das Beste herausholen. Übrigens bin ich kein Graf, sondern Baron, nur Baron. Wir sind lausige kleine Barone, die von Lakaien abstammen, wie, weiß ich selber nicht, aber ich pfeif drauf. Ich bin nur ein Lump aus den angeblich höheren Kreisen und zähle zu den »liebenswerten polissons«. Mein Vater ist ein schäbiger General, meine Mutter wurde früher en haut lieu empfangen. Ich selber habe voriges Jahr mit dem Juden Zifel fünfzigtausend Rubel Falschgeld in Umlauf gebracht, ihn dann angezeigt, und das ganze Geld hat Julie Charpentier de Lusignan nach Bordeaux entführt. Und stellen Sie sich vor, ich war schon fest verlobt - mit der Ščevalevskaja, sie hat noch drei Monate bis zu ihrem sechzehnten Geburtstag, geht noch ins Pensionat, neunzigtausend Mitgift. Avdotja Ignatjevna, erinnern Sie sich noch, wie Sie mich vor fünfzehn Jahren als vierzehnjährigen Pagen verführt haben?...

- Ach, du bist das, gemeiner Lump, na, wenigstens dich schickt uns Gott, sonst wäre es hier stinklangweilig...

- Sie haben Ihren Nachbarn, den Herrn Negozianten, ganz grundlos des üblen Geruches bezichtigt... Ich habe nur geschwiegen und mir ins Fäustchen gelacht. Der kommt nämlich von mir, deswegen bin ich auch im zugenagelten Sarg beerdigt worden.

- Igitt, altes Scheusal! Aber froh bin ich dennoch; Klinevič, Sie glauben gar nicht, wie sehr es hier an Leben mangelt, an Leben und Esprit.

- Ja, ja, ich habe auch die Absicht, hier irgendetwas Originelles, Komisches zu arrangieren. He, Euer Exzellenz, - ich meine nicht Sie, Pervoedov, - die andre Exzellenz, Herrn Tarasevič, Geheimer Rat! Antworten Sie! Ich bin Klinevič, der Ihnen damals in den Großen Fasten die kleine m-lle Fury zugeführt hat; hören Sie mich?

- Ich höre Sie, Klinevič, und freue mich sehr, bitte glauben Sie mir...

- Einen Hundsdreck glaube ich und pfeife darauf. Ich möchte Sie

126

F. M. Dostoevskij

lieben alten Herrn einfach abküssen, aber Gott sei Dank kann ich es nicht. Wissen Sie, meine Herrschaften, was dieser würdige grand-pere angestellt hat? Vorgestern oder vorvorgestern ist er gestorben und hat, stellen Sie sich das vor, vierhunderttausend Rubel Fehlbetrag hinterlassen! Eine Summe, bestimmt für die Witwen und Waisen, über die er allein geherrscht hat und mit der er gewirtschaftet hat, daß am Ende ein Revisionsverfahren durchgeführt werden mußte, das acht Jahre lang gedauert hat. Ich stelle mir die langen Gesichter vor, die alle da oben jetzt ziehen, und wofür sie ihn jetzt halten werden. Nicht wahr, welch süßer lüsterner Gedanke! Das ganze letzte Jahr über habe ich mich gewundert, woher ein siebzigjähriger Greis, Podagriker und Chiragriker, die Kraft für solch ein Lasterleben nimmt, -und das ist des Rätsels Lösung! Die Witwen und Waisen - schon allein der Gedanke an sie muß ihn in Liebesglut versetzt haben! ... Ich hab es ja gewußt, ich allein, die Charpentier hatte es mir verraten, und als ich es erfuhr, bin ich, in der Karwoche, zu ihm, in aller Freundlichkeit: »Entweder du gibst mir fünfund-zwanzigtausend, oder es gibt morgen eine Revision«; und stellen Sie sich vor, er hatte nicht mal dreißigtausend in der Kasse, das heißt, er ist genau im richtigen Augenblick gestorben. Grand-pere, grand-pere, hören Sie mich?

- Cher Klinevič, ich bin ganz Ihrer Meinung, aber Sie hätten... nicht so ins Detail zu gehen brauchen. Es gibt im Leben so viele Leiden, so viele Folterqualen - und so wenig Lohn... ich wollte endlich zur Ruhe kommen und hoffe, auch ich werde hier das Beste herausholen...

- Ich wette, er hat Catiche Berestova schon gerochen!

- Wen?... Was für eine Catiche? - ein lüsternes Beben lag in der Stimme des Alten.

- Aah, was für eine Catiche! Na die hier, links, fünf Schritte weiter von mir, zehn von Ihnen. Sie ist schon seit fünf Tagen hier, und, grand-pere, wenn Sie wüßten, was das für ein Luder ist... aus gutem Hause, mit guter Erziehung, aber - ein Monstrum, ein Monstrum letzter Güte! Dort oben habe ich sie niemandem gezeigt, ich habe sie für mich haben wollen... Catiche, antworte!

Bobok 127

- Hi-hi-hi! - antwortete der geborstene Klang einer Mädchen-Stimme, in der jedoch so etwas wie Nadelstiche mitschwang. -Hi-hi-hi!

- Und ist sie ei-ne Blon-di-ne? - skandierte lallend der grand-pere.

-Hi-hi-hi!

- Ich... ich habe schon immer, - lallte ächzend der Alte, - von einer Blondine geträumt... seit fünfzehn Jahren... und in diesem Ambiente...

- Uh, ist das ein Ungeheuer! - rief Avdotja Ignatjevna.

- Schluß jetzt! - entschied Klinevič, - ich sehe schon, das Material ist bestens. Wir werden uns im Nu aufs schönste arrangieren. Hauptsache, wir verbringen die verbleibende Zeit auf die amüsante Art. Nur, wieviel Zeit haben wir? Eh, Sie, dieser Beamte, Lebezjatnikov oder wie, Sie heißen doch so?

- Lebezjatnikov, Hofrat, Semen Evseič, zu Ihren Diensten und sehr, sehr erfreut.

- Ich pfeif drauf, daß es Sie freut, aber Sie scheinen hier alles zu wissen. Sagen Sie, erstens (ich wundere mich schon seit gestern darüber), wie kommt es, daß wir hier sprechen? Wir sind doch tot, und trotzdem sprechen wir; es scheint auch, als ob wir uns bewegten, dabei sprechen und bewegen wir uns nicht. Was sind das für Scherze?

- Dies, Baron, könnte Ihnen, falls Sie es wünschen, Platon Nikolaevič besser erklären als ich.

- Welcher Platon Nikolaevič? Machen Sie kein langes Gerede, zur Sache.

- Platon Nikolaevič, unser Philosoph, Naturforscher und Magister aus eigener Zucht. Er hat etliche philosophische Broschüren herausgegeben, aber seit drei Monaten ist er so gut wie ganz entschlafen, so daß man ihn durch nichts mehr wachrütteln kann. Einmal die Woche murmelt er ein paar Worte, die nicht zur Sache gehören... -Zur Sache! Zur Sache!

- Er erklärt das alles mit einer sehr einfachen Tatsache, nämlich damit, daß wir oben, als wir noch am Leben waren... fälschlicherweise den dortigen Tod für den Tod gehalten haben. Der

128 F. M. Dostoevskij

Körper erwacht hier unten gleichsam nochmals zum Leben, die sterblichen Überreste konzentrieren sich, aber nur im Bewußtsein. Also - ich kann es Ihnen nicht genau erklären - das Leben geht weiter, sozusagen aus Trägheit. Alles, so erklärte er uns immer wieder, konzentriert sich im Bewußtsein und dauert noch zwei bis drei Monate an... manchmal sogar ein halbes Jahr... Es gibt hier zum Beispiel einen, der ist schon beinahe völlig verwest, aber einmal in sechs Wochen stammelt er dennoch ein Wort, ein ganz sinnloses natürlich, er stammelt: »Bobok, Bo-bok«, - also selbst in ihm glimmt noch als unmerklicher Funke das Leben...

- Schöner Blödsinn. Und wie kommt es, daß ich keinen Geruchssinn mehr habe und trotzdem den Gestank rieche?

- Das... he-he... Ja, also hier hat sich auch unser Philosoph im Nebel verloren. Über den Geruchssinn sagte er, daß man hier sozusagen nur den moralischen Gestank wahrnähme - he-he! Gewissermaßen den Gestank der Seele, damit sie während dieser zwei-drei Monate Zeit habe, seiner gewahr zu werden... das sei sozusagen die letzte Gnade... Ich dagegen denke, das ist alles mystisches Gefasel, wenn auch entschuldbar in solch einer Situation...

- Schon gut, auch das übrige, bin ich überzeugt, ist Unsinn. Hauptsache, wir leben noch zwei oder drei Monate, und dann ist- Bobok. Ich schlage vor, daß wir diese zwei Monate so angenehm wie möglich verbringen und daß wir uns dazu allesamt auf neue Grundlagen stellen. Meine Herrschaften, ich schlage vor, daß wir uns ab sofort nicht mehr schämen!

-Ja, ja, ja, wir wollen uns nicht mehr schämen! - waren plötzlich viele Stimmen zu vernehmen, und merkwürdig, sogar ganz neue Stimmen waren zu hören, also solche, die eben erst erwacht waren. Mit besonderer Inbrunst verkündete seine Bereitschaft mit Baßstimme der inzwischen zur Gänze erwachte Ingenieur. Das Mädchen Catiche kicherte freudig.

- Ach, wie gern will ich mich nicht mehr schämen! - rief Avdotja Ignatjevna voll Begeisterung.

- Hören Sie, wenn schon Avdotja Ignatjevna sich nicht mehr schämen will...

Bobok 129

_ Nein-nein-nein, Klinevič, ich habe mich geschämt, ich habe mich dort oben immer geschämt, aber hier will ich mich schrecklich gern nicht mehr schämen, für nichts!

- Ich verstehe, Klinevič, - ließ der Baß des Ingenieurs sich vernehmen, - Sie schlagen vor, das hiesige Leben gewissermaßen auf neue, vernünftige Grundlagen zu stellen.

- Also darauf pfeife ich! Was das betrifft, warten wir auf Kudejarov, der ist gestern gebracht worden. Wenn er aufwacht, wird er Ihnen alles erklären. Er ist eine Persönlichkeit, ein großer Mann! Morgen, glaube ich, wird ein Naturwissenschaftler gebracht, mit Sicherheit auch ein Offizier und, wenn ich nicht irre, in drei bis vier Tagen ein Feuilletonschreiber, ich glaube, sogar zusammen mit seinem Redakteur. Die sind mir übrigens schnurzegal, nur, auf diese Weise kommt eine ganze Meute zusammen, und alles ergibt sich von selbst. Aber bis dahin will ich, daß keiner mehr lügt. Nur das will ich, denn das ist das Wichtigste. Auf der Erde zu leben, ohne zu lügen, ist unmöglich, denn Leben und Lüge sind Synonyme; ja, und hier wollen wir spaßeshalber mal nicht lügen. Hols der Teufel, aber das Grab hat schließlich eine Bedeutung! Wir wollen uns gegenseitig unsere Lebensgeschichten erzählen und uns dabei nicht schämen. Ich werde den Anfang machen. Ich, müssen Sie wissen, habe zu den lüsternen Fleischfressern gehört. Dort oben war alles mit modrigen Stricken eingeschnürt und gefesselt. Nieder mit den Stricken, leben wir diese zwei Monate in der nackten und schamlosen Wahrheit! Entblößen wir uns, ziehen wir uns nackt aus!

- Ziehen wir uns nackt aus! - riefen alle Stimmen.

- Ich möchte mich schrecklich gerne nackt ausziehen! - winselte Avdotja Ignatjevna in höchsten Tönen.

- Ach... ach... Ach, ich sehe, hier wird es gleich sehr lustig; ich will nicht mehr zu Eck...

- Nein, ich will leben, wissen Sie, ich will leben!

- Hi-hi-hi! - kicherte Catiche.

- Das Wichtigste ist, daß es uns niemand verbieten kann, nicht einmal Pervoedov, der sich, wie ich sehe, ärgert, aber seine Hand erreicht mich nicht. Grand-pere, sind Sie einverstanden?

130 F. M. Dostoevskij

- Vollkommen, vollkommen einverstanden, mit dem größten Vergnügen, aber nur, wenn Catiche den Anfang macht mit ihrer Bi-o-gra-phie.

- Einspruch! ich erhebe Einspruch mit aller mir zu Gebote stehenden Entschiedenheit, - stieß General Pervoedov mit Festigkeit hervor.

- Euer Exzellenz, - murmelte in beflissener Erregung, die Stimme gesenkt, der erbärmliche Lebezjatnikov in dem Versuch, den General umzustimmen. - Euer Exzellenz, es ist doch nur für uns von Vorteil, wenn wir uns einverstanden erklären. Da ist dieses Mädchen, wissen Sie... und all die verschiedenen anderen Details...

- Schön, dieses Mädchen, aber...

- Es ist besser so, Euer Exzellenz, es ist wirklich besser! Also nur zum Beispiel, probehalber...

- Nicht einmal im Grabe hat man seine Ruhe!

- Erstens spielen Sie im Grabe Preference, General, und zweitens können wir hier auf Sie pfei-fen, - skandierte Klinevič.

- Mein Herr, ich muß doch bitten, Sie vergessen sich.

- Ha! Sie können mich nicht mal mit einer Hand berühren, ich dagegen kann Sie von hier aus foppen und triezen wie Babkas Bologneserhündchen. Und vor allem, Herrschaften, was ist er hier schon für ein General? Oben war er einer, hier ist er eine Seifenblase, die soeben geplatzt ist!

- Ich bin nicht geplatzt... ich bin auch hier...

- Hier verfaulen Sie in Ihrem Sarg, und von Ihnen übrig bleiben sechs Messingknöpfe.

- Bravo, Klinevič, ha-ha-ha! - wieherten die Stimmen los.

- Ich habe meinem Kaiser gedient... ich habe meinen Degen...

- Mit dem können Sie jetzt die Mäuse abstechen. Außerdem haben Sie den doch noch nie aus der Scheide gezogen.

- Und wenn es so wäre; ich war ein Teil des Ganzen.

- Das Ganze hat viele Teile.

- Bravo, Klinevič, bravo, ha-ha-ha!

- Ich weiß nicht mal, was ein Degen ist, - war der Ingenieur zu vernehmen.

l

Bobok 131

- Wir werden vor den Preußen davonlaufen wie die Mäuse, sie werden uns in den Staub treten! - rief eine entfernte und mir unbekannte Stimme, die sich vor Begeisterung förmlich überschlug.

- Der Degen, mein Herr, ist die Ehre! - rief der General aus, aber nur ich hatte ihn gehört. Es erhob sich ein lang anhaltendes allgemeines und wüstes Geschrei, Gebrüll und Gejohle, aus dem nur das geradezu hysterisch ungeduldige Kreischen von Avdotja Ignatjevna herauszuhören war.

- Los, los! Wann fangen wir endlich an, uns nicht mehr zu schämen!

- Oh-oh-oh-oh! Die Seele durchläuft in Wahrheit alle Marterstadien! - hörte ich die Stimme des Mannes aus dem einfachen Volk, und...

Und hier - mußte ich mit einem Mal niesen. Es kam ganz plötzlich, aus Versehen, aber der Effekt war verblüffend: alles verstummte und schwieg wie auf dem Friedhof, verschwand wie im Traum. Grabesstille trat ein. Ich glaube nicht, daß sie sich vor mir geschämt haben: sie hatten doch beschlossen, sich vor niemandem und für nichts mehr zu schämen! Ich wartete fünf Minuten, aber kein Wort, kein Laut war zu hören. Es ist auch schwerlich anzunehmen, daß sie Angst vor einer Strafanzeige gehabt hätten: was hätte die Polizei hier schon ausrichten können? Also komme ich unweigerlich zu dem Schluß, daß sie doch noch irgendein Geheimnis hatten, das der Sterbliche nicht kennt und das sie vor jedem Sterblichen sorgsam hüten. »Macht nichts, ihr Lieben«, dachte ich, »ich werde euch noch einmal besuchen« - mit diesen Worten verließ ich den Friedhof.

Nein, nein, das kann nicht sein; nein, wirklich nicht! An Bobok kann es nicht liegen, Bobok macht mich nicht stutzig (daher also kommt Bobok!).

Unzucht an einer solchen Stelle, Unzucht mit den letzten Hoffnungen, Unzucht unter hinfälligen und verwesenden Leichen - und das noch dazu in den letzten bewußten Augenblik-ken! Ihnen werden diese allerletzten Augenblicke gegeben,

132. R M. Dostoevskij

geschenkt und... Aber vor allem, an solch einer Stätte! Nein, das darf nicht sein, das kann ich nicht zulassen... Ich bin oft in fremder Umgebung, ich habe meine Ohren überall. Das genau ist es, man muß überall hinhören, und nicht nur irgendwo an einem Ende, erst dann kann man sich einen Begriff machen. Vielleicht stoße ich ja irgendwo auf etwas Tröstliches.

Doch zu ihnen muß ich unbedingt zurück. Sie haben versprochen, sich ihre Lebensgeschichten zu erzählen und allerlei Anekdoten. Pfui! Aber ich werde hingehen, unbedingt; Ehrensache! Ich bringe das Geschriebene zum »Grazdanin«; dort haben sie heute ebenfalls das Bild eines Redakteurs ausgestellt. Vielleicht druckt er es ja.

Ivan Turgenev

Arbeiter und Intellektueller

Ein Gespräch

ARBEITER Was hast du hier zu suchen? Was willst du? Du gehörst nicht zu uns... Verschwinde!

INTELLEKTUELLER Ich gehöre zu euch, Brüder!

ARBEITER Ach ja! Zu uns! Was fällt dir ein? Schau dir meine Hände an. Siehst du, sie sind schwarz. Sie riechen nach Dreck und nach Teer - deine Hände sind weiß. Und riechen wie?

INTELLEKTUELLER hält ihm die Hände hin Riech doch.

ARBEITER riecht an seinen Händen Soll das ein Witz sein? Mir ist, sie riechen nach Eisen.

INTELLEKTUELLER Nach Eisen, richtig. Sechs Jahre habe ich sie in Ketten getragen.

ARBEITER Und warum?

INTELLEKTUELLER Darum, weil ich mich um euer Wohl gesorgt habe, weil ich euch graue, unwissende Menschen habe befreien wollen, aufgestanden bin gegen eure Unterdrücker, mich empört habe... Tja, da haben sie mich eingesperrt.

ARBEITER Eingesperrt? Und wer hat dich gebeten um deine Empörung?

Zwei Jahre später.

DERSELBE ARBEITER zu einem anderen Hör zu, Petra!... Erinnerst du dich noch, wie du geredet hast vorvoriges Jahr, mit so einem mit weißen Händen?

ANDERER ARBEITER Ja... und?

ERSTER ARBEITER Er wird heute gehängt; sie haben ihn verurteilt.

ZWEITER ARBEITER Weil er sich weiter empört hat? ERSTER ARBEITER Weil er sich weiter empört hat.

Ivan Turgenev

ZWEITER ARBEITER Hm... Weißt du was, Bruder Mitrjaj;

vielleicht können wir den Strick ergattern, mit dem sie ihn

hängen; man sagt, der bringt Glück! ERSTER ARBEITER Genau. Das müssen wir versuchen, Bruder

Petra.

Ivan Turgenev Totenschädel

Ein prachtvoller, hell erleuchteter Saal; eine Menge von Kavalieren und Damen.

Die Gesichter sind erregt, die Reden hitzig... Geführt wird ein lebhaftes Gespräch über eine berühmte Sängerin. Man nennt sie göttlich, unsterblich... Oh, wie schön sie gestern ihren letzten Triller dargeboten hat!

Und plötzlich - wie auf den Wink eines Zauberstabes - fiel von allen Köpfen und von allen Gesichtern die zarte Hülle der Haut, und augenblicklich trat die Leichenblässe der Totenschädel hervor, schimmerten wie bläuliches Blei die entblößten Kiefer und Jochbeine.

Mit Entsetzen sah ich, wie diese Kiefer und Jochbeine sich bewegten, wie sich, gleißend im Lichte der Lampen und Kerzen, diese knorrigen knöchernen Bälle drehten und wie sich in ihnen andere, kleinere Bälle drehten - die Bälle der seelenlosen Augen. Ich wagte nicht, mein eigenes Gesicht zu berühren, wagte nicht, in den Spiegel zu schauen.

Die Totenschädel dagegen bewegten sich wie zuvor... und lebhaft wie zuvor, wie rote Lappen hinter den gebleckten Zähnen plapperten die wendigen Zungen, wie wundervoll, wie unnachahmlich die unsterbliche... ja, die unsterbliche Sängerin ihren letzten Triller dargeboten hat!

Vladimir Solovjev

Ich sagte ja, er kann nicht essen

Personen:

DIE GRÄFIN

SOFJA PAVLOVNA DURNOVO, ihre Nichte

BARON ROSENGRAU, Direktor des Departements für nichtde-

klarierte Einnahmen

FÜRST RASTERJAEV, Magnetiseur und Aristokrat VASILIJ SERGEEVIČ ^URAVLEV, leidenschaftlicher, aber dummer

junger Mann ZojA, Stubenmädchen DIE STIEFEL von Sofja Pavlovna

Der Salon der Gräfin. Die Gräfin und Sofja Pavlovna halb sitzend, halb liegend auf dem Divan, der Baron sitzt in einem Sessel, der Gräfin gegenüber steht Zoja.

GRÄFIN riecht an einem Flakon mit Chloroform Gleich dürften unsere klugen jungen Leute kommen. Man braucht schrecklich viel Chloroform, um ihre Anwesenheit zu ertragen.

BARON Ma chere comtesse, ich verstehe Sie nicht ganz. Raster-jaev meinetwegen, er ist Ihr Verwandter und immerhin Fürst, - aber dieser unmögliche Zuravlev, der nicht einmal essen und trinken kann, warum empfangen Sie den?

GRÄFIN Vous savez bien, mon eher Rosengrau, que je puis tout supporter. Man braucht nur ein bißchen mehr Chloroform. Zu Zoja. Hören Sie, Zoja, nehmen Sie bitte dieses Rezept und schicken Sie schnell jemanden in die Apotheke.

138 Vladimir Solovj ev

"Zuravlev tritt ein, geht auf Zoja zu und küßt ihr ehrerbietig die Hand. Allgemeines Gelächter.

ZURAVLEV blickt sich um Entschuldigen Sie bitte: ich dachte, Sie

wären die Gräfin... SOFJA PAVLOVNA Dieu, quel idiot!

Rasterjaev tritt ein, die warmen Galoschen in der Hand. Er küßt der Gräfin schweigend die Hand, tritt aufSofja Pavlovna zu und wirft ihr die Galoschen in den Schoß.

ALLE entsetzt Was? Was ist das?

RASTERJAEV wischt sich die Stirn Ach, bin ich zerstreut! Stellen Sie sich vor, ich war fest davon überzeugt, das wäre die Schachtel Konfekt, die ich Ihnen mitgebracht habe!

GRÄFIN Aber warum werfen Sie sie dann Sonja zu?

ZURAVLEV S-o-n-j-a?

BARON springt auf Mein Herr!

GRÄFIN Lassen Sie ihn! Sehen Sie denn nicht, daß er nicht zurechnungsfähig ist? Betrachtet Zuravlev durch ihr Lorgnon. Wissen Sie, Monsieur Zuravlev, mit Ihren Manieren und Ihrer Stimme erinnern Sie fatal an einen Esel. Nicht wahr, Sonja?

SOFJA PAVLOVNA O nein - das beleidigt die Esel.

GRÄFIN Es gibt selbstverständlich sehr nette Esel. Auf der Krim hatte ich einen kleinen grauen Esel, den ich sehr geliebt habe. Er war alles andere als dumm. Aber es gibt eben auch Esel wie Zuravlev.

SOFJA PAVLOVNA Warum sagen Sie nichts? Erzählen Sie uns etwas, schnell!

ZURAVLEV Sagen Sie, Gräfin, bei welchem Dichter heißt es: o du, mein Freund, du bist es!?

SOFJA PAVLOVNA Ein kompletter Idiot! Geben Sie mir meinen Kimono, er hängt hinter Ihnen über dem Sessel.

"Zuravlev zieht hinter seinem Rücken einen Kimono hervor und zieht ihn sich selbst an.

Ich sagte ja... 139

BARON reißt ihm zornig den Kimono vom Leib und reicht ihn So/ja Pavlovna Ich habe mich nie auf Ihren Kimono gesetzt und ihn mir angezogen!

Anhaltendes Schweigen.

ZURAVLEV Ich las heute, im Gouvernement Rjazan sei ein Bauer auf einmal schwanger geworden und hätte 9 Monate später, nach allen Regeln der Wissenschaft, ein großes Ferkel geboren.

SOFJA PAVLOVNA Das ist zu viel. II faut le chasser!

FÜRST will beschwichtigen, zu Sofja Pavlovna Soll ich Sie magnetisieren? Setzt eine wilde Miene auf und schneidet Grimassen. Breitet die Arme aus, fällt auf die Gräfin und zerschlägt den Flakon mit dem Chloroform.

SOFJA PAVLOVNA Nein, das ist langweilig. Ich fahre lieber ins Theater. Vasilij Sergeevič, sagen Sie Zoja, sie möge mir meine anderen Stiefel bringen.

Auf "Zuravlevs Gesicht zeichnet sich ein geheimer Plan ab. Er geht mit Zoja hinaus und kommt wieder mit ihr herein.

SOFJA PAVLOVNA Schauen Sie mich nicht so an.

Zoja zieht Sofja Pavlovna den einen Stiefel aus und stellt ihn auf den Boden. Zuravlev nimmt leise den Stiefel, versteckt ihn im Ärmel und entfernt sich in die entlegenste Ecke des Raums.

ZojA im Abgehen Wo ist denn der andere Stiefel?

ALLE außer "Zuravlev, neugierig Ja! Wo ist denn der andere

Stiefel? RASTERJAEV voll Ernst Ich glaube, das ist die Wirkung meines

Magnetismus.

Aus der Ecke des Raums dringen wilde Laute, alle drehen sich um und sehen ein schreckliches Bild: Zuravlev steht mit ausgebreiteten Armen und blutüberströmtem Gesicht, aus seinem Mund ragt

140

Vladimir Solovjev

die Spitze des Stiefels, der Absatz hat sich im Rachen verhakt und kann nicht hinunterrutschen. Der Unglückliche stößt ein Todes-röcheln aus und stürzt zu Boden.

SOFJA PAVLOVNA Unverbesserlicher Idiot! Nicht einmal das

kann er! Wer fängt denn mit dem Absatz an? RASTERJAEV Ja, wenn er mit der Spitze angefangen hätte, dann

hätte er ihn sehr wahrscheinlich herunterbekommen. GRÄFIN Der arme Zuravlev; er war so dumm! Übrigens hat er

gut daran getan zu sterben - das vereinfacht alle Beziehungen

sehr. BARON triumphierend, wie von einem höheren Licht erleuchtet

Ich sagte ja, er kann nicht essen!

Alle sind gerührt. Die Klänge eines Trauermarsches ertönen. "Zuravlevs Leichnam wird hinausgetragen.

Vorhang

Anton Čechov Erzwungene Erklärung

Im Jahre 1876, am 7. Juli, um 8¥2 Uhr abends, habe ich ein Theaterstück geschrieben. Wenn es meinen Gegnern gefallen sollte, seinen Inhalt kennenzulernen, hier ist er. Ich übergebe ihn dem Schiedsspruch der Öffentlichkeit und der Presse.

Plötzlicher Tod eines Pferdes

oder Die Großmut des russischen Volkes!

Dramatische Skizze in i Akt

Personen:

LjUBVIN, ein junger Mann

GRÄFIN FINIKOVA, seine Geliebte

GRAF FINIKOV, ihr Ehemann

NlL EGOROV, Droschkenkutscher Nr. 13326

Die Handlung spielt am hellichten Tage auf dem Nevskij Prospekt.

Erster Auftritt

Die Gräfin und Ljubvin fahren in Nil Egorovs Droschke.

LjUBVIN umarmt die Gräfin Oh, wie ich dich liebe! Und dennoch werde ich erst Ruhe finden, wenn wir auf dem Bahnhof sind und im Zugabteil sitzen. Mein Herz fühlt, daß sich dein schurkischer Mann soeben aufmacht, um uns zu

142 Anton Čechov

verfolgen. Mir zittern die Kniebänder. Zu Nil. Fahr schneller,

Teufel! GRÄFIN Schneller, Kutscher! Gib ihm die Knute! Du kannst

nicht fahren, Hundesohn! NIL schlägt auf das Pferd ein Ha! ha, verdammte Pest! Die

Herrschaften geben mir ein Trinkgeld. GRÄFIN schreit Ja, gib ihm, gib ihm! Heiz ihm ein, deinem

Klepper, wir kommen noch zu spät zum Zug! LjUBVIN umarmt sie in Bewunderung ihrer überirdischen

Schönheit Oh, Liebste! meine Liebste! Die Stunde naht, da du

mir allein gehören wirst, und nie mehr deinem Mann! Er blickt

sich entsetzt um. Dein Mann verfolgt uns! Ich sehe ihn!

Kutscher, schneller! Schneller, du Schuft, daß dich tausend

Teufel ...Er schlägt Nil in den Rücken. GRÄFIN Schlag ihn ins Genick! Warte, ich nehme den Schirm.

Sie schlägt auf ihn ein. NlL drischt aus Leibeskräften Ha! ha! beweg dich, Satan! Das

zuschanden gehetzte Pferd stürzt und krepiert. LjUBVIN Das Pferd ist krepiert! Oh, Schreck! Er holt uns ein! NlL Ach du mein armer Kopf, wovon soll ich dich nun ernähren? Er fällt über den Kadaver seines geliebten Pferdes und

schluchzt.

Zweiter Auftritt

Die Vorigen und der Graf

GRAF Ihr mir entfliehen?! Halt! Packt seine Frau am Arm.

Treulose, Verräterin! Habe ich dich nicht geliebt? Habe ich

dich nicht ernährt? LjUBVIN kleinmütig Ich mach mich lieber aus dem Staub! Läuft

unter dem Geschrei der sich sammelnden Menge davon. GRAF zu Nil Kutscher! Der Tod deines Pferdes hat meinen

häuslichen Herd vor dem Gespött bewahrt. Wäre es nicht so

plötzlich gestorben, hätte ich die Flüchtigen nicht eingeholt.

Nimm diese hundert Rubel.

Erzwungene Erklärung 143

NIL großmütig Edler Graf! Ich brauche euer Geld nicht! Als hinreichende Belohnung dient mir das Bewußtsein, daß der Tod meines geliebten Pferdes zur Aufrechterhaltung der Grundlagen des Familienlebens beigetragen hat! Die begeisterte Menge feiert den Kutscher.

Vorhang

Im Jahre 1886, am 30. Februar, wurde dieses mein Theaterstück von einer Truppe von Liebhabern der Bühnenkunst am Ufer des Bajkalsees aufgeführt. Noch am selben Tage bin ich der Gesellschaft der dramatischen Schriftsteller und Opernkomponisten beigetreten und habe vom Kassenwart A. A. Majkov das mir zustehende Honorar erhalten. Weitere Theaterstücke habe ich nicht geschrieben und auch keine weiteren Honorare erhalten. Als Mitglied der vorgenannten Gesellschaft, folglich auch im Besitz der mit diesem Titel verbundenen Rechte, verlange ich im Namen unserer Fraktion kategorisch, i) daß der Vorsitzende, der Kassenwart und das Vorstandskomitee sich öffentlich bei mir entschuldigen; 2) daß alle genannten Ämterinhaber abgewählt und durch Mitglieder unserer Fraktion ersetzt werden; 3) daß aus dem Jahresbudget der Gesellschaft jährlich 25 Tsd. Rubel abgezweigt werden zum Ankauf von Billets der Hamburger Lotterie und daß alle daraus resultierenden Gewinne zu gleichen Teilen auf alle Mitglieder der Gesellschaft verteilt werden; 4) daß auf sämtlichen ordentlichen und außerordentlichen Versammlungen der Gesellschaft eine Militärkapelle spielt und ein anständiger Imbiß serviert wird; 5) daß, nachdem die Gesamteinkünfte der Gesellschaft nur den 30 Mitgliedern zugutekommen, deren Theaterstücke in der Provinz gespielt werden, wohingegen die übrigen Mitglieder leer ausgehen, weil ihre Stücke nirgends gespielt werden, aus Gründen der Gerechtigkeit und Ausgewogenheit an höherer Stelle dafür Sorge getragen wird, daß man diesen 30 Mitgliedern verbietet, ihre Stücke aufführen zu lassen und damit die Ausgewogenheit zu stören, die für einen ordentlichen Geschäftsablauf unbedingt erforderlich ist.

144 Anton Cechov

Abschließend halte ich es für dringend geboten, darauf hinzuweisen, daß ich mich für den Fall, daß auch nur ein einziger der vorgenannten Punkte abschlägig beschieden wird, gezwungen sehe, den Titel eines Mitglieds der Gesellschaft niederzulegen. Das Mitglied der Gesellschaft der dramatischen Schriftsteller und Opernkomponisten

Akakij Tarantulov

Anmerkung der Redaktion: Mit Veröffentlichung der Erklärung des hochverehrten Mitglieds der Gesellschaft der dramatischen Schriftsteller und Opernkomponisten schmeicheln wir uns in der Hoffnung, daß diese ihre Wirkung zumindest auf die Hälfte der ehrenwerten Mitglieder dieser Gesellschaft nicht verfehlen wird, deren Verdienste ebenso groß sind wie diejenigen des Hrn. Tarantulov. Ist doch die russische Dramatik jene gewichtige Gattung der Poesie, die es den Akakij Tarantulovs erlaubt, unsterblichen Ruhm zu erlangen - von den kalten Felsen Finnlands bis zu den flammenden Kulissen, von den erschütterten Fundamenten des Kreml bis zum Getümmel auf den Vollversammlungen der Gesellschaft der dramatischen Schriftsteller und Opernkomponisten ...

Anton Čechov

Schwanengesang

(Kalchas)

Dramatische Etüde in einem Akt

Personen:

VASILIJ VASILJIČ SVETLOVIDOV, Komiker, ein alter Mann von

68 Jahren NlKITA IVANYČ, Souffleur, ein alter Mann

Die Bühne eines Provinztheaters, nachts, nach der Vorstellung. Die leere Bühne eines mittelmäßigen Provinztheaters. Rechts eine Reihe ungestrichener, grob gezimmerter Türen, die zu den Garderoben führen; die linke Seite und der Hintergrund voller Gerumpel. Mitten auf der Bühne ein umgestürzter Hocker. Nacht. Es ist dunkel.

I

Svetlovidov kommt im Kostüm des Kalchas, eine Kerze in der Hand, aus seiner Garderobe und lacht schallend.

SVETLOVIDOV Ist das ein Ding! Ist das ein Witz. In der Garderobe eingeschlafen! Die Vorstellung ist längst zu Ende, alle sind weg, und ich, ich schnarch in aller Seelenruhe vor mich hin. Ach du alter Knacker, alter Knacker! Bist doch ein alter Hund! Hast dir so einen angesoffen, daß du im Sitzen eingeschlafen bist! Großartig! Gratuliere, alter Knabe! Ruft. Egorka! Egorka, Teufel! Petruška! Die schlafen, die Teufel, verdammte Kerle, zur Hölle mit euch und den tausend

146 Anton Čechov

Teufeln! Egorka! Er hebt den Hocker auf, setzt sich und stellt die Kerze auf dem Boden ab. Nichts zu hören... Nur das Echo, das antwortet... Egorka und Petruška haben heute von mir für ihre Dienste jeder drei Rubel bekommen - die spürt jetzt kein Hund mehr auf... Die sind weg, und sicher haben sie auch noch das Theater abgeschlossen, die Schufte... Dreht den Kopf. Betrunken! Uff! Welche Unmengen Wein und Bier ich heute wegen der Benefizvorstellung in mich hineingeschüttet habe, mein Gott! Im ganzen Körper nichts als Sprit, und im Mund ein ganzes Dutzend Zungen... Widerwärtig... Pause. Und dumm... hat sich besoffen, der alte Idiot, und weiß selbst nicht, aus welchem freudigen Grunde... Uff, mein Gott!... Das Kreuz schmerzt, der Schädel brummt, ein Frösteln am ganzen Leibe, und im Herzen ist es kalt und dunkel wie in einem Keller. Wenn es dir schon um die Gesundheit nicht leid tut, denk wenigstens an dein Alter, Narr Ivanyč... Pause. Das Alter... Wie du es auch anstellst, ob du den Tapferen spielst oder den Idioten - dein Leben ist gelebt... achtundsechzig Jahre sind - fft, habe die Ehre! Die holst du nicht zurück... Die Flasche ist leer bis zur Neige... Ein Schluck ist noch drin... Ja... So stehen die Dinge, Vasjuška... Ob du willst oder nicht, es wird Zeit, die Rolle des Leichnams einzustudieren. Gevatter Tod ist nicht mehr weit... Er schaut geradeaus vor sich hin. Da steh ich nun seit fünfundvierzig Jahren auf der Bühne, aber das Theater, scheint mir, seh ich heute nacht zum ersten Mal... Ja, zum ersten Mal... Ist doch komisch, weiß der Geier... Tritt an die Rampe. Nichts zu sehen... Na, der Souffleurkasten ist noch zu erkennen... Da die Freiloge, ein Notenständer... aber alles andere - Finsternis! Ein schwarzes, bodenloses Loch, ein richtiges Grab, in dem sich der Tod selbst versteckt hält... Brr!... ist das kalt! Es zieht aus dem Parkett wie aus einem Ofenloch... Das ist genau der Ort für Geisterbeschwörungen! Unheimlich ist es, der Teufel solls holen... Es läuft einem kalt den Rücken hinunter... Ruft. Egorka! Petruška! Wo seid ihr, Teufel? Herrgott, warum rufe ich ständig den Satan an? Mein Gott, laß diese Wörter, laß das

Schwanengesang 147

Trinken, du bist doch schon alt, du wirst bald sterben... Mit achtundsechzig Jahren gehen andere Menschen zur Frühmesse, bereiten sich auf den Tod vor, und du... Oh, Herrgott! Schmutzige Wörter, versoffene Fratze, dieses Narrenkostüm ... Nicht mitanzusehen! Ich gehe mich schnell umziehen ... Mir ist unheimlich! Hier eine Nacht lang herumsitzen, und man stirbt noch vor Angst... Geht zu seiner Garderobe; in diesem Moment erscheint aus der letzten Garderobe hinten auf der Buhne Nikita Ivanyč in einem weißen Kittel

II

SVETLOVIDOV hat Nikita Ivanyč gesehen, schreit vor Entsetzen auf und fährt zurück Wer bist du? Was willst du? Wen suchst du? Stampft mit den Füßen auf. Wer bist du?

NIKITA IVANYČ Ich bin es!

SVETLOVIDOV Wer bist du?

NIKITA IVANYČ kommt langsam näher Ich bin es... Der Souffleur, Nikita Ivanyč... Vasilij Vasiljič, ich bin es!

SVETLOVIDOV läßt sich erschöpft auf den Hocker sinken, er atmet schwer und zittert am ganzen Körper Mein Gott! Wer ist das? Bist dus ... du, Nikituška? Wa... was willst du hier?

NIKITA IVANYČ Ich übernachte hier in der Garderobe. Nur bitte, seien Sie so gut und sagen Sie es Aleksej Fomič nicht... Ich habe sonst kein Obdach, bei Gott, glauben Sie mir...

SVETLOVIDOV Du bists, Nikituška... Mein Gott, mein Gott! Sechzehn Vorhänge habe ich gehabt, drei Kränze und viele Sachen geschenkt bekommen... alle waren begeistert, aber nicht einer Menschenseele ist es eingefallen, einen betrunkenen Greis aufzuwecken und nach Hause zu bringen... Ich bin ein Greis, Nikituška... Ich bin achtundsechzig Jahre alt... Krank! Es schmachtet mein schwacher Geist... Fällt dem Souffleur in die Arme und weint. Geh nicht weg, Nikituška... Ich bin alt, ich habe keine Kraft mehr, muß sterben... Ich habe Angst, Angst!...

Anton Cechov

NlKITA IVANYČ zärtlich und ehrerbietig Es ist Zeit, daß Sie nach Hause gehen, Vasilij Vasiljič!

SVETLOVIDOV Ich gehe nicht! Ich habe kein Zuhause - nein, nein und nochmals nein!

NlKITA IVANYČ Oh Gott! Sie wissen nicht mehr, wo Sie wohnen!

SVETLOVIDOV Ich will nicht dorthin, ich will nicht! Dort bin ich allein... ich habe niemanden, Nikituška, keine Verwandten, keine Alte, keine Kinder... Ich bin allein wie der Wind auf dem Feld... Ich werde sterben, und niemand wird sich mehr an mich erinnern... Ich habe Angst, so allein... Ich habe niemanden, der mich wärmt, mich umsorgt, mich ins Bett bringt, wenn ich betrunken bin... Zu wem gehöre ich? Wer braucht mich? Wer liebt mich? Niemand liebt mich, Nikituška!

NlKITA IVANYČ unter Tränen Das Publikum liebt Sie, Vasilij Vasiljič!

SVETLOVIDOV Das Publikum ist weg, es schläft und hat seinen Narren vergessen! Nein, niemand braucht mich, niemand liebt mich... Ich habe keine Frau, keine Kinder...

NlKITA IVANYČ Ach, das macht Ihnen Kummer...

SVETLOVIDOV Ich bin doch ein Mensch, ein lebendiger Mensch, in meinen Adern fließt Blut, und kein Wasser. Ich bin Adeliger, Nikituška, aus guter Familie... Bevor ich in dieses Loch hier geriet, habe ich beim Militär gedient, bei der Artillerie... Was war ich für ein Prachtkerl, ein schöner Mann, so ehrenhaft, kühn, voll Feuer! Gott, wohin ist das alles entschwunden? Und dann was war ich für ein guter Schauspieler, Nikituška, hm? Er ist aufgestanden, stützt sich auf den Arm des Souffleurs. Wohin ist das alles entschwunden, wo ist sie, diese Zeit? Mein Gott! Ich habe eben in dieses Loch geblickt - und mich an alles erinnert, an alles! Dieses Loch hat fünfundvierzig Jahre meines Lebens verschlungen, und, Nikituška, was für eines Lebens! Ich blicke wieder in dieses Loch und sehe alles deutlich vor mir, so wie dein Gesicht. Die Begeisterung der Jugend, den Glauben, das Feuer, die Liebe der Frauen! Die Frauen, Nikituška!

Schwanengesang 149

NlKlTA IVANYČ Vasil Vasilijič, Sie müssen jetzt schlafen gehen.

SVETLOVIDOV Als ich ein junger Schauspieler war, ich weiß es noch, als ich eben erst anfing mich zu entwickeln - da verliebte eine sich in mich wegen meines Spiels ... Elegant, schlank wie eine Pappel, jung, unschuldig, rein und flammend wie das Morgenrot im Sommer! Dem Blick ihrer blauen Augen, ihrem wunderbaren Lächeln hätte keine Nacht widerstehen können. Die Meereswellen brechen sich am Stein, aber an den Wellen ihres Haares brachen Felsblöcke, Eisschollen, Schneewehen! Ich weiß es noch, ich stehe vor ihr wie jetzt vor dir... Sie war an diesem Tag schön wie noch nie, sie sah mich an mit einem Blick, den ich selbst im Grabe nicht vergessen könnte... Zärtlichkeit, Samt, Tiefe, der Glanz der Jugend! Trunken, glücklich falle ich vor ihr auf die Knie, bitte sie mir das Glück zu schenken... Fährt mit niedergeschlagener Stimme fort. Und sie... sie sagt zu mir: Geben Sie die Bühne auf! Geben-Sie-die-Büh-ne-auf! Verstehst du? Einen Schauspieler lieben, das konnte sie, aber seine Frau werden - niemals! Ich weiß noch, ich hatte an jenem Abend zu spielen... Eine niederträchtige, eine Narrenrolle... Ich spielte und merkte dabei, wie mir die Augen aufgingen... Damals begriff ich, daß es keine heilige Kunst gibt, daß alles Wahn und Betrug ist, daß ich ein Sklave bin, ein Spielzeug fremden Müßiggangs, ein Narr, ein Possenreißer! Und seitdem ich weder dem Applaus mehr geglaubt, weder den Kränzen noch den Begeisterungsstürmen ... Ja, Nikituška! Jemand applaudiert mir, kauft sich von mir für einen Rubel eine Photographie, aber ich bin ihm fremd, ich bin für ihn - ein Dreck, fast eine Kokotte!... Er sucht aus Eitelkeit meine Bekanntschaft, aber so weit erniedrigen würde er sich nicht, daß er mir seine Schwester, seine Tochter zur Frau gäbe... Ich glaube ihm nicht! Läßt sich auf den Hocker sinken. Ich glaube ihm nicht!

NlKITA IVANYČ Ich erkenne Sie nicht wieder, Vasil Vasiljič! Sie haben mir einen richtigen Schrecken eingejagt... Gehen wir nach Hause, seien Sie großmütig!

SVETLOVIDOV Damals ist mir ein Licht aufgegangen... und das ist mich teuer zu stehen gekommen, Nikituška! Nach dieser

150 Anton Čechov

Geschichte fing ich an... nach diesem Mädchen... fing ich an, sinnlos herumzustromern, ein wüstes Leben zu führen, ohne nach vorn zu schauen... Ich spielte alle möglichen Narren, Witzbolde, Hanswurste, verdarb mir den Verstand, und was war ich doch für ein Künstler, was für ein Talent! Ich habe mein Talent vergraben, meine Sprache verflacht und verhunzt, Gesicht und Ansehn verloren... Gefressen, verschlungen hat mich dieses schwarze Loch! Ich hatte das früher nicht bemerkt, aber heute... als ich aufwachte, habe ich zurückgeblickt und hinter mir liegen achtundsechzig Jahre. Erst jetzt habe ich gesehen, ich bin alt! Das Lied ist aus! Schluchzt. Das Lied ist aus!

NlKITA IVANYČ Vasil Vasiljič! Mein Guter, mein Lieber... Nun beruhigen Sie sich doch... Herrgott! Ruft. Petruška! Egorka!

SVETLOVIDOV Und was für ein Talent, was für eine Kraft! Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine Diktion, wieviel Gefühl und Grazie, wie viele Saiten... er schlägt sich vor die Brust in dieser Brust erklingen! Ersticken könnte ich! ... Hör zu, Alter... warte, laß mich Atem schöpfen... Hier, aus dem »Godunov«:

Der Geist Joanns hat mich zum Sohn erkoren, Dimitry mich genannt aus seinem Grabe, Hat um mich her die Völker aufgewiegelt Und Godunoff zum Opfer mir gelobt. Ich bin Zarewitsch, und ich schäme mich, Daß ich vor einer stolzen Polendirne Mich so erniedrigt.

Na, ist das schlecht? Lebhaft. Warte, hier, aus dem »König Lear«... Verstehst du, der Himmel schwarz, Regen, Donner - rrr!... Ein Blitz - sss!... der gesamte Himmel reißt auf, und jetzt:

Blast, Wind, und sprengt die Backen! Wüthet! Blast! -

Ihr Cataract und Wolkenbrüche, speit,

Bis ihr die Thürm ersäuft, die Hahn ertränkt!

Ihr schweflichten, gedankenschnellen Blitze,

Vortrab dem Donnerkeil, der Eichen spaltet,

Schwanengesang 151

Versengt mein weißes Haupt! Du Donner schmetternd, Schlag flach das mächtge Rund der Welt; zerbrich Die Formen der Natur, vernicht auf Eins Den Schöpfungskeim des undankbaren Menschen. Ungeduldig. Schnell, die Worte des Narren! Stampft mit den Füßen auf. Sag schnell die Worte des Narren! Schnell! NlKITA IVANYČ spielt den Narren »Ach Gevatter, Hofweihwasser in einem trocknen Hause ist besser als dies Regenwasser draußen. Lieber Gevatter, hinein und bitt um deiner Töchter Segen; das ist ne Nacht, die sich weder des Weisen noch des Thoren erbarmt.« SVETLOVIDOV

Rassle nach Herzenslust! Spei Feuer, fluthe Regen; Nicht Regen, Wind, Blitz, Donner sind meine Töchter: Euch schelt ich grausam nicht, ihr Elemente: Euch gab ich Kronen nicht, nannt euch nicht Kinder... Das ist Kraft! Das ist Talent! Ich bin ein Künstler! Noch etwas ... noch so etwas ... das Alter abschütteln ... Nehmen wir was... Er bricht in ein glückliches Lachen aus aus dem »Hamlet«! Also, ich beginne... Aber womit? Ah ja, das... Er spielt den Hamlet. »O die Flöten! Laßt mich eine sehn. - Um euch insbesondere zu sprechen: Zu Nikita Ivanyč. Weswegen geht ihr um mich herum, um meine Witterung zu bekommen, als wolltet ihr mich in ein Netz treiben?« NlKITA IVANYČ »O gnädiger Herr, wenn meine Ergebenheit

allzu kühn ist, so ist meine Liebe ungesittet.« SVETLOVIDOV »Das versteh ich nicht recht. Wollt ihr auf dieser

Flöte spielen?«

NlKITA IVANYČ »Gnädiger Herr, ich kann nicht.« SVETLOVIDOV »Ich bitte euch.« NlKITA IVANYČ »Glaubt mir, ich kann nicht.« SVETLOVIDOV »Ich ersuche euch darum.« NlKITA IVANYČ »Ich weiß keinen einzigen Griff, gnädiger

Herr.«

SVETLOVIDOV »Es ist so leicht wie lügen. Regiert diese Windlöcher mit euren Fingern und der Klappe, gebt der Flöte mit

152 Anton Čechov

eurem Munde Odem, und sie wird die beredteste Musik sprechen. Seht ihr, dies sind die Griffe.«

NlKITA IVANYČ »Aber die habe ich eben nicht in meiner Gewalt, um irgend eine Harmonie hervorzubringen; ich besitze die Kunst nicht.«

SVETLOVIDOV »Nun, seht ihr, welch ein nichtswürdiges Ding ihr aus mir macht? Ihr wollt auf mir spielen; ihr wollt in das Herz meines Geheimnisses dringen, ihr wollt mich von meiner tiefsten Note bis zum Gipfel meiner Stimme hinauf prüfen: und in dem kleinen Instrument hier ist viel Musik, eine vortreffliche Stimme, dennoch könnt ihr es nicht zum Sprechen bringen. Wetter! denkt ihr, daß ich leichter zu spielen bin als eine Flöte? Nennt mich was für ein Instrument ihr wollt, ihr könnt mich zwar verstimmen, aber nicht auf mir spielen!« Er lacht laut und applaudiert. Bravo! Da capo! Bravo! Was zum Teufel heißt hier Alter! Es gibt kein Alter, das ist alles Quatsch, Unsinn! Die Kraft schießt mir wie eine Fontäne aus allen Adern - das ist die Jugend, die Frische, das Leben! Wo Talent ist, Nikituška, da gibt es kein Alter! Bist du sprachlos, Nikituška? Bist du baff? Warte, ich muß mich auch erst konzentrieren... Oh, Herr du mein Gott! Und hör mal hier, was für Zärtlichkeit und Feinheit, für eine Musik! Psst... Stille!

Die Nacht ist still, der Himmel rein

In der Ukräne. Sternenschein

Durchbricht mit zitterndem Gefunkel

In mildem Glanz das leichte Dunkel.

Die müde Luft bewegt noch kaum

Das Silberlaub am Pappelbaum.

Man hört, wie eine Tür auf gestoßen wird. Was war das? NlKITA IVANYČ Da sind sicher Petruška und Egorka gekommen ... Sie sind ein Talent, Vasil Vasiljič! Ein Talent! SVETLOVIDOV ruft, in Richtung Tür gewandt Hierher, meine Falken! Zu Nikita Ivanyč. Komm, ziehen wir uns an... Es gibt kein Alter, das ist alles Quatsch, Galimathias... Lacht fröhlich. Was weinst du denn? Du guter alter Dummkopf, was läßt du die Nase hängen? Das ist nicht schön! Das ist jetzt

Schwanengesang 153

wirklich nicht schön! Komm, komm, Alter, hör auf, so zu schauen! Warum schaust du so? Komm komm... Umarmt ihn unter Tränen. Nicht weinen... Wo die Kunst ist, wo das Talent ist, gibt es kein Alter, keine Einsamkeit, keine Krankheiten, und selbst der Tod ist nur halb so schwer... Weint. Nein, Nikituška, unser Lied ist aus. Was bin ich für ein Talent? Eine ausgepreßte Zitrone, ein Eiszapfen, ein rostiger Nagel, und du - bist eine alte Theaterratte, Souffleur... Gehen wir! Sie geben. Was bin ich für ein Talent? In ernsten Stücken tauge ich höchstens für das Gefolge des Fortinbras ... und auch dafür bin ich schön zu alt... Ja... Erinnerst du dich an die Stelle aus dem »Othello«, Nikituška?

Fahr wohl, des Herzens Ruh! Fahr wohl, mein Friede!

Fahr wohl, du wallender Helmbusch, stolzer Krieg,

Der Ehrgeiz macht zur Tugend! O, fahr wohl!

Fahr wohl, mein wiehernd Roß und schmetternd Erz,

Muthschwellende Trommel, muntrer Pfeifenklang,

Du königlich Panier, und aller Glanz,

Pracht, Pomp und Rüstung des glorreichen Kriegs! -NlKITA IVANYČ Sie sind ein Talent! Ein Talent! SVETLOVIDOV Oder das hier:

Nur fort aus Moskau, fort! Und nie mehr

Ich seh mich nicht mehr um! [wiederkommen!

Ich geh und suche in der Welt

nach einem Ort, wo mein Gefühl,

das so verwundet ist, zur Ruhe kommt!

Holt einen Wagen! Einen Wagen!

Geht mit Nikita Ivanyč ab. Der Vorhang fällt langsam.

Anton Čechov

Über die Schädlichkeit des Tabaks

Monolog in einem Akt

Handelnde Person:

IVAN IVANOVIČ NjUCHIN, Mann seiner Frau, der Inhaberin einer Musikschule und eines Mädchenpensionats.

Die Estrade eines Provinzklubs.

NjUCHIN mit langem Backenbart, ohne Schnurrbart, in einem alten, abgetragenen Frack, kommt würdevoll herein, verbetigt sich und zupft sich die Weste zurecht Meine sehr verehrten gnädigen Frauen und gewissermaßen sehr verehrten gnädigen Herren Kratzt sich den Backenbart. Meiner Frau ist angeboten worden, daß ich hier zu wohltätigen Zwecken irgendeinen populären Vortrag halte. Ja nun? Ein Vortrag, dann eben einen Vortrag - mir ist es vollkommen egal. Ich bin, natürlich, kein Professor und weit entfernt von akademischen Würden, aber nichtsdestoweniger arbeite ich nun bereits seit dreißig Jahren, ohne Unterlaß, man kann sogar sagen, zum Schaden der eigenen Gesundheit undsofort, über Fragen streng wissenschaftlichen Charakters, stelle Betrachtungen an und schreibe manchmal sogar, stellen Sie sich vor, wissenschaftliche Aufsätze, das heißt nicht eigentlich wissenschaftliche, sondern, entschuldigen Sie den Ausdruck, gleichermaßen wissenschaftliche. So habe ich, unter anderem, dieser Tage einen sehr langen Aufsatz geschrieben unter dem Titel: »Über die Schädlichkeit einiger Insekten«. Meinen Töchtern hat er sehr gefallen, besonders das über die Wanzen, ich dagegen habe ihn

156 Anton Cechov

durchgelesen und zerrissen. Es ist doch egal, man kann schreiben, was man will - ohne persisches Pulver kommt man nicht aus. Wir haben sogar im Klavier die Wanzen... Zum Gegenstand meines heutigen Vertrags gewählt habe ich, sozusagen, den Schaden, den der Menschheit die Verwendung des Tabaks zufügt. Ich rauche selbst, aber meine Frau hat befohlen, daß ich heute über die Schädlichkeit des Tabaks lese, da gibt es also keine Widerrede. Über den Tabak, dann eben über den Tabak - mir ist es vollkommen egal, Ihnen jedoch, meine sehr verehrten gnädigen Herren, möchte ich empfehlen, meinem jetzigen Vortrag mit dem gebührenden Ernst zu folgen, andernfalls nichts dabei herauskommt. Wen jedoch ein trok-kener, wissenschaftlicher Vortrag abschreckt, wem es nicht gefällt, der braucht nicht zuzuhören und kann hinausgehen. Zupft sich die Weste zurecht. Besonders um Aufmerksamkeit bitte ich die hier anwesenden Herren Ärzte, die aus meinem Vortrag viele nützliche Kenntnisse schöpfen können, da der Tabak, trotz seiner schädlichen Wirkungen, auch in der Medizin Anwendung findet. So zum Beispiel, wenn man eine Fliege in eine Tabaksdose setzt, krepiert sie, wahrscheinlich an Nervenzerrüttung. Der Tabak ist in der Hauptsache eine Pflanze... Wenn ich einen Vortrag halte, so habe ich gewöhnlich ein Zucken im rechten Auge, aber beachten Sie es nicht weiter; das macht die Aufregung. Ich bin, im allgemeinen, ein sehr nervöser Mensch, und das Zucken im Auge habe ich seit dem Jahre 1889, dem 13. September, dem Tage, an dem meiner Frau, gewissermaßen, die vierte Tochter, Varvara, geboren wurde. Alle meine Töchter wurden an einem 13. geboren. Im übrigen mit einem Blick auf die Uhr, wollen wir, in Anbetracht der kurzen Zeit, nicht vom Gegenstand des Vertrages abschweifen. Ich muß dazu anmerken, meine Frau besitzt eine Musikschule und ein privates Pensionat, das heißt nicht eigentlich ein Pensionat, sondern so in der Art. Unter uns gesagt, meine Frau beklagt sich gern über Mangel an Geld, aber sie hat was beiseite geschafft, so an die vierzig- oder fünfzigtausend, ich dagegen habe keine Kopeke für mich, keinen Groschen - nun ja, wozu darüber reden! In dem

Über die Schädlichkeit 157

Pensionat bin ich Leiter des Wirtschaftsteils. Ich kaufe die Lebensmittel ein, überwache die Dienstboten, führe Buch über die Ausgaben, nähe Hefte, vertilge die Wanzen, führe das Hündchen meiner Frau spazieren, fange Mäuse... Gestern abend oblag es mir, der Köchin Mehl und Öl zuzuteilen, da es Bliny geben sollte. Nun, mit einem Wort, heute, als die Bliny bereits gebacken waren, kam meine Frau in die Küche, um zu sagen, daß drei Pensionatstöchter keine Bliny essen würden, weil sie geschwollene Mandeln hätten. Auf diese Weise stellte sich heraus, daß wir einige Bliny zu viel gebacken hatten. Wohin damit? Zuerst befahl meine Frau, sie in den Keller zu bringen, dann überlegte sie, überlegte und sagte: - »Du ißt die Bliny selber, Vogelscheuche.« Sie nennt mich, wenn sie schlechte Laune hat, immer so: Vogelscheuche, oder Natter, oder Satan. Und was bin ich schon für ein Satan? Sie hat immer schlechte Laune. Und ich habe sie nicht gegessen, ich habe sie runtergeschlungen ohne zu kauen, denn ich habe immer Hunger. Gestern, zum Beispiel, hat sie mir zum Mittag gar nichts gegeben. - »Du«, sagt sie, »Vogelscheuche, brauchst nicht zu essen...« Aber, indessen schaut auf die Uhr, wir sind ins Schwatzen gekommen und ein wenig vom Thema abgewichen. Fahren wir fort. Obwohl Sie jetzt, natürlich, lieber eine Romanze hören würden, oder so eine Symphonie, oder eine Arie... Singt. »Und selbst im heißesten Gefecht zuckt uns die Wimper nicht...« Ich weiß nicht mehr, woraus das ist... Im übrigen habe ich vergessen, Ihnen zu sagen, mir obliegt in der Musikschule meiner Frau, außer der Leitung der Wirtschaft, auch der Unterricht in Mathematik, Physik, Chemie, Geographie, Geschichte, Solfeggio, Literatur undsofort. Für Tanz, Gesang und Zeichnen nimmt meine Frau ein extra Honorar, obwohl Tanz und Gesang ebenfalls ich unterrichte. Unsere Musikschule befindet sich im Pjatisobačje pereulok, Haus Nr. 13. Wahrscheinlich ist mein Leben deshalb so verunglückt, weil wir im Haus Nr. 13 wohnen. Meine Töchter sind alle an einem 13. geboren, unser Haus hat 13 Fenster... Nun ja, wozu darüber reden! Zu Besprechungen ist meine Frau jederzeit zu Hause anzutreffen, und der Prospekt der Schule,

158 Anton Cechov

wenn Sie möchten, beim Portier für dreißig Kopeken das Exemplar erhältlich. "Zieht ein paar Broschüren ans der Tasche. Ich kann ihn aber, wenn Sie möchten, auch hier verteilen. Dreißig Kopeken das Exemplar! Wer möchte?

Pause.

Niemand? Na, zwanzig Kopeken! Pause.

Ärgerlich. Ja, das Haus Nr. 13! Nichts will mir gelingen, ich bin alt geworden, dumm geworden... Hier halte ich einen Vortrag, nach außen hin bin ich heiter, dabei möchte ich nur so schreien, aus vollem Halse, oder irgendwohin fliegen, weit weg über alle Berge. Und niemand, dem ich mein Herz ausschütten könnte, es ist geradezu zum Weinen... Sie werden sagen: Ihre Töchter... Meine Töchter? Ich sage etwas zu denen, und sie lachen nur... Meine Frau hat sieben Töchter... Nein, Pardon, ich glaube, sechs... Lebhaft. Sieben! Die älteste, Anna, ist siebenundzwanzig, die jüngste siebzehn. Meine sehr verehrten gnädigen Herren! Schaut sich um. Ich bin unglücklich, ich bin ein alter Narr, ein Nichts, aber im Grunde steht hier vor Ihnen der glücklichste aller Väter. Im Grunde muß das so sein, ich wage auch gar nichts anderes zu sagen. Wenn Sie nur wüßten! Ich habe dreiund-dreißig Jahre mit meiner Frau gelebt, und ich kann sagen, es waren die besten Jahre meines Lebens, nicht eigentlich die besten, sondern überhaupt. Mit einem Wort, sie sind verstrichen wie ein einziger glücklicher Augenblick, genaugenommen, der Teufel soll sie holen. Schaut sich um. Übrigens, sie ist, glaube ich, noch nicht gekommen, sie ist nicht hier, ich kann also sagen, was ich will... Ich habe entsetzliche Angst... Angst, wenn sie mich anschaut. Ja, und so sage ich immer: Meine Töchter sind noch immer unverheiratet, wahrscheinlich, weil sie schüchtern sind, und weil die Männer sie nie zu Gesicht bekommen. Abendgesellschaften geben will

Über die Schädlichkeit 159

meine Frau nicht, zum Essen lädt sie nie jemanden ein, sie ist eine sehr geizige, boshafte, zänkische Person, und darum verkehrt niemand bei uns, aber... ich kann es Ihnen im Vertrauen sagen... Kommt näher an die Rampe. An großen Feiertagen kann man die Töchter meiner Frau bei ihrer Tante Natalja Semenovna sehen, der, die an Rheumatismus leidet und so ein gelbes Kleid mit schwarzen Tupfen trägt, als wäre es ganz mit Kellerschaben übersät. Da gibt es auch was zu essen. Und wenn meine Frau nicht dabei ist, kann man auch das hier... Schnippt sich an die Kehle. Ich muß dazu anmerken, ich bin schon nach einem Glas betrunken, und davon wird mir so leicht ums Herz und gleichzeitig so schwer, daß ich es gar nicht ausdrücken kann: Irgendwie erinnere ich mich an die Jahre meiner Jugend, und ich möchte weglaufen, och, wenn Sie wüßten, wie sehr ich das möchte! Mit Begeisterung. Weglaufen, alles hinwerfen und weglaufen, ohne mich umzusehen ... wohin? Egal, wohin... nur weg von diesem schäbigen, platten, billigen Leben, das aus mir so einen alten, erbärmlichen Narren gemacht hat, einen alten, erbärmlichen Idioten, weg von dieser dummen, kleinlichen, bösen, bösen, bösen Geizkrake, meiner Frau, die mich dreiunddreißig Jahre lang gequält hat, weg von der Musik, der Küche, dem Geld meiner Frau, von all diesen kleinlichen Gemeinheiten... und irgendwo weit, weit weg davon stehenbleiben, auf dem freien Feld, und dastehen wie ein Baum, ein Pfahl, eine Vogelscheuche, unter dem weiten Himmel, und die ganze Nacht schauen, wie über dir der helle stille Mond steht, und vergessen, vergessen... Sich an nichts mehr erinnern - oh, wie sehr ich das möchte!... Wie möchte ich mir diesen alten, schäbigen Frack vom Leibe reißen, in dem ich vor dreißig Jahren getraut wurde... Reißt sich den Frack vom Leib. In dem ich andauernd Vorträge zu Wohltätigkeitszwecken halte... Da! Trampelt auf dem Frack herum. Da! Ich bin alt, arm, erbärmlich, wie diese Weste mit ihrem zerschlissenen, durchgewetzten Rücken... Zeigt seinen Rücken. Ich brauche nichts! Ich stehe darüber, ich bin sauberer als das, ich war einmal jung, klug, habe studiert, habe Träume gehabt, mich für einen Menschen

160 Anton Čechov

gehalten... Jetzt brauche ich nichts! Nichts, nur Ruhe... Ruhe! Wirft einen Blick zur Seite, zieht schnell den Frack wieder an. Aber hinter den Kulissen steht meine Frau... Sie ist gekommen und wartet dort auf mich... Schaut auf die Uhr. Die Zeit ist um... Wenn sie fragt, dann bitte, ich bitte Sie, sagen Sie ihr, der Vortrag habe stattgefunden... die Vogelscheuche, das heißt ich, habe sich würdig benommen. Er schaut zur Seite, räuspert sich. Sie schaut hierher... Mit erhobener Stimme. Ausgehend von der Tatsache, daß der Tabak das schreckliche Gift enthält, von dem ich soeben sprach, sollte man auf keinen Fall rauchen, und ich erlaube mir, gewissermaßen, zu hoffen, daß mein Vortrag »Über die Schädlichkeit des Tabaks« seinen Nutzen bringen wird. Ich habe gesprochen. Dixi et animam levavi! Verbeugt sich und geht würdevoll hinaus.

Aleksandr Blök Die Unbekannte

Personen:

DIE UNBEKANNTE

DER BLAUE

DER STERNDEUTER

DER DICHTER

KNEIPENBESUCHER UND GÄSTE IM SALON

ZWEI HAUSMEISTER

ERSTE ERSCHEINUNG

Straßenkneipe. Es flackert das mattweiße Licht einer Azetylen-Lampe mit angeschlagenem Schirm. Auf den Tapeten vollkommen gleich aussehende Schiffe mit riesigen Flaggen. Sie durchpflügen mit dem Bug das blaue Wasser. Draußen vor der Tür, die oft geöffnet wird und neue Gäste einläßt, und vor den hohen, von Efeu umrankten Fenstern gehen Passanten in Pelzmänteln und junge Mädchen mit Umschlagtüchern vorbei - über den blauen abendlichen Schnee.

Hinter der Theke, auf der ein Faß steht mit einem Schild und der Aufschrift »Krug � Glas«, stehen zwei, die vollkommen gleich aussehen: beide mit Schmalztolle und Scheitel, in grünen Schürzen; nur hat der Wirt den Schnurrbart nach unten dressiert, sein Bruder, der Kellner, nach oben. An einem Fenster, an einem Tisch, sitzt ein betrunkener alter Mann, der genau so aussieht wie Verlaine; an einem anderen ein blasser, bartloser Mensch -Hauptmann wie aus dem Gesicht geschnitten. Einige angeheiterte Gruppen.

162 Aleksandr Blök

Gespräch in der einen Gruppe

ERSTER Gekauft habe ich diesen Pelz für fünfundzwanzig Rubel. Aber dir, Saška gebe ich ihn auf keinen Fall unter dreißig.

ZWEITER mit Nachdruck, gekränkt Das ist gelogen!... Aber geh doch... Dir werd ich...

DRITTER mit Schnurrbarty schreit Ruhe! Hier wird nicht geschimpft! Noch ein Fläschchen, mein Bester.

Der Kellner kommt gelaufen. Man hört das Bier gluckern. Schweigen. Ein einsamer Gast erhebt sich in seiner Ecke und geht unsicheren Schritts zur Theke. Beginnt, in einer glitzernden Schale mit gesottenen Krebsen zu wühlen.

WIRT Erlauben Sie, mein Herr. Das geht nicht. Daß Sie alle Krebse einzeln anfassen. Dann will sie niemand mehr essen.

Der Gast geht murrend an seinen Platz zurück.

Gespräch in der anderen Gruppe

SEMINARIST Und getanzt hat sie, mein lieber Freund, ich kann dir sagen, wie ein Himmelsgeschöpf. Ich hätte sie am liebsten an den weißen Händen genommen, sage ich dir, und mitten auf den Mund geküßt...

ZECHKUMPAN lacht schrill E-he-he, unser Vaska, träumt, rot wie Klatschmohn ist er geworden! Und was gibt sie dir für deine Liebe, he? Was hast du von der Liebe, he?...

Alle lachen schrill.

SEMINARIST hochrot im Gesicht Und ich, mein lieber Freund, ich sage dir, es ist nicht schön, daß du lachst. So hätte ich sie nehmen mögen und forttragen von all den zudringlichen Blicken, und sie hätte vor mir getanzt auf dem weißen Schnee... wie ein Vogel, geflogen wäre sie. Und egal, woher

Die Unbekannte 163

ich meine Flügel gehabt hätte, ich wäre ihr hinterhergeflogen, über den weißen Schnee...

Alle lachen.

ZWEITER ZECHKUMPAN Nimm dich in acht, Vaska, auf Neuschnee fliegt sichs schlecht...

ERSTER ZECHKUMPAN Bei Frost gehts besser, sonst landest du mit deiner Süßen gleich im Dreck...

ZWEITER ZECHKUMPAN Ein Träumer.

SEMINARIST völlig entrückt Ach, liebste Freunde, die ihr nicht das Seminar besucht habt, ich sage euch, ihr versteht nichts von den zarten Gefühlen. Übrigens, wie war es mit noch einem Bier...

VERLAINE brummelt laut vor sich hin Jedem das Seine. Jedem das Seine...

Hauptmann macht dem Kellner ausdrucksvolle Zeichen. Ein rothaariger Mann und ein junges Mädchen im Umschlagtuch treten ein.

DAS MÄDCHEN zum Kellner Eine Flasche Porter, Miša. Sie fährt fort, dem Mann mit schnellen Worten zu erzählen. Nur, Süßer, kaum war sie aus dem Zimmer�batsch, fällt ihr ein: das Bier für die gnädige Frau. Sie sofort zurück, aber da hatte er schon die Kommode aufgebrochen und wühlt darin rum, alles hat er durch und durchgewühlt, weil er dachte - die kommt so schnell nicht wieder... Sie, mein Süßer, schreit, und er, Süßer, halt ihr den Mund zu. Na, die gnädige Frau kam trotzdem, fing selber an zu schreien und rief den Hausmeister; und so, mein Süßer, haben sie ihn sofort aufs Revier... Sie unterbricht unvermittelt. Gib mir zwanzig Kopeken.

Der Mann holt widerwillig ein Zwanzigkopekenstück hervor.

DAS MÄDCHEN Tut dir wohl leid drum? DER MANN Trink und halts Maul.

164 Aleksandr Blök

Sie schweigen. Trinken. Ein junger Mann kommt hereingelaufen und stürzt freudig auf Hauptmann zu.

JUNGER MANN Kost ja, Freund, sie wartet draußen vor* der Tür!...

HAUPTMANN Na und. Soll sie sich rumtreiben. Komm, trinken wir einen.

VERLAINE brummelt laut Und jedem Menschen seinen Beruf... Und jedem seine eigene Unruhe.

Der Dichter tritt ein. Er winkt den Kellner heran.

DICHTER Darf ich Sie einladen?

KELLNER ein geborener Witzbold Welche Ehre... Von so einem berühmten Mann...

Er läuft Bier holen. Der Dichter zieht sein Notizbuch hervor. Stille. Das Azetylen zischt. Die Brezeln krachen. Der Kellner bringt dem Dichter eine Flasche Bier und setzt ihm gegenüber auf den Stuhlrand.

DICHTER Hören Sie nur. Durch die Straßen streifen, Fetzen unbekannter Wörter auffangen. Und dann hierher kommen und einer Ersatzperson sein Herz ausschütten.

KELLNER Unverständlich, aber sehr feinsinnig...

Er springt von seinem Stuhl auf und folgt dem Ruf eines Gastes. Der Dichter schreibt etwas in sein Notizbuch.

DAS MÄDCHEN singt Wie ich sie lieb', Doch sie hat für die Liebe...

Der Kellner kommt zum Dichter zurück.

DICHTER trinkt Viele Frauengesichter sehen. Hunderte von Augen, große und tiefe, blaue, dunkle und helle. Schmale wie

Die Unbekannte 165

die eines Luchses. Weit geöffnete wie die eines Säuglings. Und sie alle lieben. Sie begehren. Es kann den Menschen nicht geben, der nicht liebt. Auch Sie müssen sie lieben.

KELLNER Zu Befehl.

DICHTER Und inmitten dieses Feuers von Blicken, inmitten eines Wirbelsturms von Blicken, erscheint plötzlich, als erblühe es über dem blauen Schnee - ein Gesicht: das einzig schöne Antlitz der Unbekannten, unter einem dichten, dunklen Schleier... Da wippen die Federn an ihrem Hut... Da hält ihre schmale Hand, in einen Handschuh gezwängt, ihr raschelndes Kleid... Da geht sie langsam vorüber... sie geht vorüber... Er trinkt gierig.

VERLAINE brummelt Alles geht vorüber. Und jedem seine eigenen Sorgen.

SEMINARIST mit schwerer Zunge Getanzt hat sie, sage ich euch, wie ein Engel des Himmels, und ihr, Teufel und Räubergesin-del, seid ihren kleinen Finger nicht wert. Aber, trinken wir.

ZECHKUMPAN Träumer. Darum trinkst du auch. Wir alle sind Träumer. Küß mich, liebster Freund. Sie umarmen sich.

SEMINARIST Und niemand wird sie so lieben wie ich. Und leben werden wir unser trauriges Leben auf dem weißen Schnee. Sie wird tanzen, und ich - den Leierkasten spielen. Und fliegen werden wir. Bis hinauf zum silbernen Mond. Und dort, hols der Teufel, dort, sage ich euch, werdet ihr eure dreckigen Idiotennasen nicht hineinstecken, liebe Freunde. Und trotzdem liebe und schätze ich euch sehr. Zu dritt aus einer Flasche trinken - und dir fehlts an Freunden nicht.

Alle lachen.

ZECHKUMPAN Ach ja, Vaska. Wirklich gut gesagt. Laß mich dich küssen, mein Freund.

DER JUNGE MANN zu Hauptmann Aber jetzt ist es genug. Warum soll sie so lange in der Kälte warten? Sie erfriert doch, Gehn wir, Kos t ja.

HAUPTMANN Laß sie! Wenn man anfängt, den Frauen nachzugeben, bleibt vom Mann nichts mehr übrig - dem kann man

166 Aleksandr Blök

nur noch in die Fresse spucken. Soll sie sich rumtreiben, wir bleiben noch.

Der Junge Mann gehorcht. Alle Gäste trinken und wenden zusehends betrunken. Ein Mann in einem gelben zerschlissenen Mantel, der bislang allein gesessen hatte, steht auf und wendet sich mit einer Rede an die ehrenwerte Gesellschaft.

DER MANN IM MANTEL Meine Herrschaften! Ich habe hier eine Kleinigkeit - eine sehr wertvolle Miniatur. Er holt eine Kamee aus der Tasche. Hier, wenn Sie bitte sehen wollen: auf der einen Seite die Abbildung eines Emblems, auf der anderen Seite - eine angenehme Dame in einer Tunika, die auf dem Erdball thront und über diesem Erdball das Szepter schwingt: unterwerft euch, sagt sie, und gehorcht - das ist alles!

Alle lachen beifällig. Einige treten näher und betrachten die Kamee.

DICHTER angetrunken Das ewige Märchen. Es ist - Sie - die Herrscherin der Welt. Sie hält den Stab und befehligt die Welt. Und wir alle sind von Ihr bezaubert.

DER MANN IM MANTEL Freut mich, der russischen Intelligenz dienen zu können. Ich verkaufe billig, auch wenn ich viel Geld dafür bezahlt habe, aber, wie man so sagt, unter Freunden. Ich sehe, Sie sind ein Liebhaber. Also gut, per Handschlag.

Der Dichter gibt ihm ein Geldstück. Nimmt die Kamee, betrachtet sie. Der Mann im Mantel setzt sich an seinen Platz zurück. Das Gespräch wird fortgeführt, von zweien, die an getrennten Tischen sitzen.

ERSTER greift sich ein Witzblatt Und jetzt wollen wir endlich einmal lachen. Van ja, hör zu - er entfaltet feierlich das Blatt und liest: »Die liebenden Gatten. Ehemann: - Liebste, geh doch heute zu Mutter und bitte sie...« Er muß schon vor der Pointe verzweifelt lachen.

Die Unbekannte 167

ZWEITER Donnerwetter, das ist gut!

ERSTER liest weiter ».. .bitte sie... Katja eine Puppe zu schenken ...« Er lacht schrecklich.

ERSTER liest »Ehefrau: - Aber Liebster! Katja wird bald zwanzig. Er kann vor Lachen kaum weiterlesen. Sie braucht keine Puppe zum Spielen, sondern einen Bräutigam.« Dröhnendes Gelächter.

ZWEITER Donnerwetter, das ist gut!

ERSTER Da sagt man: das hat gesessen!

ZWEITER Teufel noch eins, die können schreiben!...

Und wieder wühlt der einsame Gast in der Schüssel. Er hebt die roten Krebse an den Scheren heraus. Hält sie in die Luft und legt sie wieder zurück. Wieder verjagt ihn der Wirt.

DICHTER betrachtet die Kamee Die ewige Wiederkehr. Wieder umarmt sie den Erdball. Und wieder sind wir Ihrem Zauber Untertan. Da schwingt Sie ihren blühenden Stab. Da dreht Sie mich um mich selbst... Und ich drehe mich mit Ihr... Unter dem blauen... unter dem abendlichen Schnee...

SEMINARIST Sie tanzt... sie tanzt... Ich drehe den Leierkasten, und sie dreht sich dazu... Er macht betrunkene Gesten, als wolle er etwas fangen. Da, nicht gefangen... wieder nicht gefangen... aber ihr Teufel werdet sie auch nicht fangen, wenn ich sie schon nicht fange...

Langsam, langsam beginnen die Wände der Kneipe sich zu drehen. Die Decke neigt sich, während sich eine ihrer Kanten nach oben ins Endlose erstreckt. Die Schiffe auf den Tapeten scheinen näher zu kommen und schwimmen dennoch nicht ganz heran. Durch das dumpfe allgemeine Gerede schreit der Mann im Mantel, der mittlerweile Gesellschaft gefunden hat:

DER MANN IM MANTEL Nein, mein Herr, ich bin ein Liebhaber! Ich liebe scharfen Käse, wissen Sie, diesen runden! Er macht kreisförmige Armbewegungen. Den Namen hab ich vergessen.

168 Aleksandr Blök

GESPRÄCHSPARTNER unsicher Aber haben Sie ihn auch... probiert?

DER MANN IM MANTEL Was probiert? Sie glauben doch nicht, daß nicht? Ich habe Rocquefort gegessen!

GESPRÄCHSPARTNER unter dem der Stuhl zu schwanken beginnt Und wissen Sie... Luxemburger... der stinkt... und wenn er anfängt zu laufen und läuft... Er schmatzt, bewegt die Finger.

DER MANN IM MANTEL steht begeistert <*«/Schweizer!... Das ist es! Er schnalzt mit den Fingern.

GESPRÄCHSPARTNER zwinkert, mißtrauisch Also, damit können Sie keinen Eindruck schinden...

DER MANN IM MANTEL laut, wie eine Gewehrsalve Brie!

GESPRÄCHSPARTNER Na, also das... das... wissen Sie...

DER MANN IM MANTEL drohend Was: wissen Sie?

GESPRÄCHSPARTNER ist vernichtet.

Alles dreht sich, scheint gleich einzustürzen. Die Schiffe auf den Tapeten schwimmen, die blauen Wellen aufwirbelnd. Einen Augenblick scheint alles auf dem Kopf zu stehen.

VERLAINE brummt Jedes hat seine Zeit... Und jetzt müssen wir alle nach Hause...

HAUPTMANN brüllt Eine Schlampe ist sie, also soll sie sich rumtreiben! Wir trinken noch einen!

DAS MÄDCHEN singt dem Mann ins Ohr Leb wohl, du mein Begehrenswerter...

SEMINARIST Der Schnee tanzt. Und wir tanzen. Und der Leierkasten weint. Und ich weine. Und wir alle weinen.

DICHTER Der blaue Schnee. Dreht sich. Fällt weich. Blau die Augen. Dichter Schleier. Langsam geht sie vorüber. Der Himmel steht offen. Erscheine! Erscheine!

Die ganze Kneipe scheint mit einem Mal irgendwohin wegzutau-chen. Die Wände treten auseinander. Die Decke hat sich gesenkt und öffnet dem Blick den Himmel - einen winterlichen, blauen, kalten. Im blauen abendlichen Schnee eröffnet sich die...

Die Unbekannte 169

ZWEITE ERSCHEINUNG

Derselbe Abend. Das Ende einer Straße am Stadtrand. Letzte Häuser, die plötzlich aufboren, geben einen weiten Blick frei: auf eine dunkle leere Brücke über einen breiten Fluß. Zu beiden Seiten der Brücke dämmern stille Schiffe mit Positionslaternen. Jenseits der Brücke erstreckt sich eine endlose pfeilgerade Allee, die von Lichterketten und weiß bereiften Bäumen gesäumt wird. Durch die Luft wirbelt und glitzert der Schnee.

DER STERNDEUTER auf der Brücke Die sternenreiche Nacht ist hell. Der Blick ist wie zwei Flügel schnell. Wer ist es, der die Sterne zählt -Die Milchstraße verschwimmt, Der arme Blick verschwimmt, auch er... Wo kommt dieser Betrunkne her?

Die zwei Hausmeister schleppen den betrunkenen Dichter an den Armen vorüber.

DIE ERBOSTEN HAUSMEISTER Er ist in unsrer Kneipe Gast Und fällt den andren nur zur Last! Eh, Van ja, gib ihm einen Knuff! Eh, Vaska, gib ihm einen Puff!

Sie schleppen den Dichter weiter.

STERNDEUTER

Ein neuer Stern ist aufgegangen. Und er ist heller als die ändern. Das dunkle Wasser reglos steht, Das er als Spiegel sich gewählt. Er fällt, ach! er tritt aus der Bahn... Flieg hierher! hierher! hier heran!

i/o Aleksandr Blök

Am Himmel zieht, einen langsamen Bogen beschreibend, ein heller und schwerer Stern. Einen Atigenblick später geht eine schöne Dame in Schwarz über die Brücke, einen erstaunten Blick in ihren weit geöffneten Augen. Alles wird märchenhaft - die dunkle Brücke wie die dämmernden blauen Schiffe. Die Unbekannte erstarrt am Brückengeländer in ihrem bleichen fallenden Glanz. Der ewig junge Schnee umhüllt ihre Schultern, umwallt ihre Gestalt. Sie wartet wie eine Statue.

So wie sie erscheint aus der dunklen Allee der Blaue auf der Brücke. Ebenfalls vom Schnee umweht. Ebenso schön wie sie. Er schwankt wie eine stille blaue Flamme.

DER BLAUE

Du in Winternacht Vergehende, Wende zu mir dein Gesicht. Du im Schneesturm leise Wehende, Schenke Schnee mir, schenk mir Licht.

Sie wendet ihm den Blick zu.

DIE UNBEKANNTE

Augen sind sterbende Sterne, Die vom Wege abgekommen. Nur für dich bin aus der Ferne Ich hierher herabgeschwommen.

Sein blauer Umhang ist mit Schneesternen übersät.

DER BLAUE

In deinem Blau dem frostigen

Gibt es viele Sterne.

In meiner Hand der eisernen

Ist ein helles Schwert. DIE UNBEKANNTE

Aus deiner Hand der eisernen

Leg das helle Schwert.

Die Unbekannte

In meinem Blau dem frostigen Zählst du die Sterne nicht.

Der Blaue dämmert im blassen Licht. Auf seinen Umhang fällt ein Strahl, so als stütze er sich auf ein Schwert.

DER BLAUE

Jahrhunderte schwammen vorbei wie Träume,

Ich habe dich erwartet auf der Erde. DIE UNBEKANNTE

Jahrhunderte schwammen vorbei wie Blicke.

Als Stern floß ich durch die Räume. DER BLAUE

Du schimmertest aus deiner Höhe

Auf meinen blauen Umhang herab. DIE UNBEKANNTE

Du schautest mir tief in die Augen.

Schaust du oft so zum Himmel hinauf? DER BLAUE

Ich kann den Blick nicht länger heben:

Die gefallene hält ihn gefangen. DIE UNBEKANNTE

Kannst du mir irdische Wörter sagen?

Warum bist du ganz in Blau? DER BLAUE

Ich habe zu lang in den Himmel geschaut:

Daher die blauen Augen und der Umhang. DIE UNBEKANNTE

Wer bist du?

DER BLAUE Ein Dichter. DIE UNBEKANNTE Du singst Lieder?

DER BLAUE

Nur über dich.

DIE UNBEKANNTE Und wartest du schon lang auf mich? DERBLAUE

Jahrhundene. DIE UNBEKANNTE Lebst du oder bist du tot?

172 Aleksandr Blök

DER BLAUE

Ich weiß nicht. DIE UNBEKANNTE

Bist du jung? DER BLAUE

Ich bin schön. DIE UNBEKANNTE

Eine gefallene Sternen-Jungfrau

Will irdische Reden. DER BLAUE

Ich kenne nur geheimnisvolle Wörter,

Ich kann nur feierliche Reden. DIE UNBEKANNTE

Kennst du meinen Namen? DER BLAUE

Ich will ihn auch nicht kennenlernen. DIE UNBEKANNTE

Siehst du meine Augen? DER BLAUE

Ich sehe sie. Sie sind wie Sterne. DIE UNBEKANNTE

Und siehst du meine schlanke Gestalt? DER BLAUE

Ich bin von dir geblendet.

DIE UNBEKANNTE in ihre Stimme mischt sich irdische Leidenschaft

Willst du mich nicht umarmen? DER BLAUE

Ich wage nicht, dich zu berühren. DIE UNBEKANNTE

Meine Lippen darfst du berühren

Der Umhang des Blauen weht leise, während er im Schnee versinkt.

DIE UNBEKANNTE

Und weißt du, was Leidenschaft ist?

Die Unbekannte 173

DERBLAUE leise

Mein Blut ist schweigsam. DIE UNBEKANNTE

Weißt du, was Wein ist? DER BLAUE noch leiser

Der Sterne Trank ist süßer als Wein. DIE UNBEKANNTE

Liebst du mich?

Der Blaue schweigt. DIE UNBEKANNTE

Das Blut in mir singt. Stille.

DIE UNBEKANNTE

Von Gift erfüllt ist mein Herz. Ich bin schlanker als alle eure Mädchen. Ich bin schöner als alle eure Damen. Ich bin leidenschaftlicher als eure Bräute.

Der Blaue dämmert, ganz von Schnee bedeckt, vor sich hin.

DIE UNBEKANNTE

Wie schön ist es bei euch auf der Erde!

Der Blaue ist verschwunden. Eine bläuliche Säule aus Schnee wirbelt, und es hat den Anschein, als habe an dieser Stelle nie jemand gestanden. Dafür lüftet ein an der Unbekannten vorbeigehender Herrr die Melone.

DER HERR

Sie sprachen hier mit jemandem? Und doch ist gar niemand zu sehen. Also klang Ihre schöne Stimme Im leeren Raum...

i/4 Aleksandr Blök

DIE UNBEKANNTE

Wo ist er? DER HERR

Sie haben also ohne Zweifel

Hier jemanden erwartet!

Gestatten Sie die unbescheidene Frage...

Wer war Ihr unsichtbarer Freund? DIE UNBEKANNTE

Schön war er. Im wehenden blauen Umhang. DER HERR

Oh, die Romantik! Seele jeder Frau!

Sie sehen auf der Straße Männer

im wehenden blauen Umhang!

Wie hieß er denn?

DIE UNBEKANNTE Er nannte sich: Dichter. DER HERR

Auch ich bin ein Dichter! auch ich

Bin ein Dichter, zumindest

Wenn ich in Ihre schönen Augen schaue,

Könnte ich singen:

»Dies Bildnis ist bezaubernd schön!« DIE UNBEKANNTE

Willst du mich lieben? DER HERR

O ja, ich hätte nichts dagegen. DIE UNBEKANNTE

Du könntest mich umarmen? DER HERR

Ich wüßte gern, weshalb

Soll ich dich nicht umarmen können? DIE UNBEKANNTE

Und dann berührst du meine Lippen

Und wirst mich streicheln? DER HERR

Komm, meine Hübsche, laß uns gehn!

»Ich tue, was du auch befiehlst«,

Wie schon der alte Shakespeare sagte...

Die Unbekannte 175

Woran du siehst, daß ich der Poesie Durchaus nicht fremd bin!

Die Unbekannte reicht ihm ergeben den Arm.

DER HERR

Wie ist dein Name? DIE UNBEKANNTE Warte.

Ich weiß es nicht. Im Himmel, unter Sternen

Besaß ich keinen Namen.

Hier aber, auf der blauen Erde

Gefällt als Name mir - »Maria« ...

»Maria« - nenn mich so. DER HERR

Gut, meine Hübsche, wie du willst.

Ich muß doch schließlich wissen,

Was ich dir unter Küssen

Des Nachts in weichen Kissen

Zu flüstern hab.

Er führt die Unbekannte untergehakt ab. Ihre Spur verweht im blauen Schnee.

Der Sterndeuter wieder auf der Brücke. Er ist traurig. Reckt die Arme zum Himmel. Hebt den Blick.

STERNDEUTER

Der schöne Stern ist nicht mehr da!

Der blaue Abgrund - leer!

Ich habe den Rhythmus verloren

Für meine astralen Lieder!

Mir stechen jetzt in die Ohren

Die klirrenden Lieder der Lichter!

Heute werde ich auf meinem Turm

Schreiben mit trauernder Hand

In meine Papyrusrolle:

Der hellste Stern ist gefallen...

Und nennen werd ich ihn im Stillen

176 Aleksandr Blök

Mit einem fernen Namen,

Mit einem Namen, der den Ohren schmeichelt:

»Maria« soll sein Name sein.

In der vergilbten Rolle

Wird es geschrieben stehn

Geschrieben von einsamer Hand:

»Maria der Stern ist gefallen.

Er wird mir nicht mehr in die Augen sehn.

Der Sterne Deuter ist ab jetzt allein!«

Er weint still. Durch die Allee kommt der Dichter auf die Brücke.

DER DICHTER

Oh, ich beschwöre Sie bei allem,

Was Ihnen heilig ist! Bei Ihrer Trauer!

Bei Ihrer Braut, sofern Sie eine haben:

War hier nicht eine Frau, recht groß

Und sie trug schwarz? STERNDEUTER

Grob sind die Menschen!

Lassen Sie mir meine Ruhe.

Ich sehe keine Frauen mehr,

Seit er, mein Stern, gefallen ist. DER DICHTER

Ah, ich verstehe Ihren Kummer.

Ich bin so einsam wie Sie.

Und Sie sind ein Dichter wie ich.

Aber haben Sie zufällig nicht

Im dunkelblauen Schnee

Die Unbekannte gesehen? STERNDEUTER

Ich weiß nicht. Hier gingen so viele,

Es tut mir außerordentlich leid,

Daß ich die Ihre nicht erkennen konnte... DER DICHTER

Oh, wenn Sie sie gesehen hätten -

Sie hätten Ihren Stern vergessen!

Die Unbekannte 177

STERNDEUTER

Sie sprechen von Sternen, was soll das;

Sie sind der Leichtsinn in Person,

Und deshalb möchte ich Sie bitten,

Stecken Sie Ihre Nase nicht in meine Dinge. DER DICHTER

All Ihre Kränkungen ertrage ich!

Doch glauben Sie mir bitte nur:

Ich bin nicht weniger gedemütigt als Sie ...

Ach, hätt ich nicht getrunken,

Ich wäre ihr gefolgt!

Zwei Kerle haben mich verschleppt,

Als ich sie eben erst gewahrt...

Dann fiel ich in den Schnee.

Die beiden gingen, fluchend.

Fast hätte mich der Schnee verscharrt...

Ob lange ich geschlafen?

Doch wieder erwacht, war mir klar:

Der Schnee hat verweht

Die Spuren zart. STERNDEUTER

Ich kann mich nur dunkel erinnern

An etwas, das wird Sie bekümmern;

Man hat Sie tatsächlich geschleppt

Und Ihnen Knüffe und Püffe versetzt,

Unsicher, schwankend war Ihr Schritt...

Dann, ja, ich seh es wie im Traum,

Kam eine Dame auf die Brücke,

Ein Herr in Blau trat auf sie zu... DER DICHTER

Oh, nein!... Ein Herr in Blau... STERNDEUTER

Ich weiß nicht, worüber sie sprachen.

Ich sah nicht länger hin zu ihnen.

Dann müssen sie gegangen sein...

Ich war mit meinen Dingen so beschäftigt...

i/8 Aleksandr Blök

DER DICHTER

Der Schnee hat ihre Spur verweht!... Ich werde sie nie wieder sehen! Begegnungen wie diese Gibt es nur einmal im Leben...

Beide weinen im blauen Schnee.

STERNDEUTER

Lohnt es, darüber zu weinen?

Mein Leid ist sehr viel schwerer:

Ich habe den Rhythmus der Sterne verloren! DER DICHTER

Ich habe den Rhythmus der Seele verloren.

Ich will doch meinen, das ist ernster! STERNDEUTER

Mein Kummer wird auf den Papyrus schreiben:

»Gefallen ist der Stern Maria!« DER DICHTER

Ein schöner Name, ja - »Maria«!

Ich werde schreiben, als Gedicht:

»Maria, wo bist du, ich seh dich nicht

Und ich sehe kein Licht.« STERNDEUTER

Bekümmert heute - morgen heiter!

Sie brauchen ja doch nur zu wollen -

Gedichte - schreiben Sie sie, und Ende!

Warum denn weinen! Weinen Sie gern? DER DICHTER

Und Sie, Herr Sternendeuter -

Sie schreiben in die vergilbten Rollen

Zu Nutz und Frommen der Studenten:

»Gefallen ist Maria, der Stern!«

Beide stehen traurig im blauen Schnee. Versinken darin. Auch der Schnee ist traurig. Er hat bereits die Brücke und die Schiffe unter sich begraben. Er hat weiße Wände aufgetürmt - entlang

Die Unbekannte 179

der Baumkronen, entlang der Hausmauern, der Reihe der Telegraphendrähte. Auch die Weite zu Wasser und zu Land hat sich zu weißen Wänden erhoben, so daß alles weiß ist mit Ausnahme der Positionslaternen der Schiffe und der erleuchteten Fenster in den Häusern. Die Schneewände werden kompakt, sie scheinen sich einander zu nähern. Allmählich eröffnet sich die...

180 Aleksandr Blök

DRITTE ERSCHEINUNG

Ein großer Salon mit weißen Wänden, an denen hell elektrische Lampen brennen. Die Tür zum Flur steh t offen. Eine feine Klingel verkündet die Ankunft immer neuer Gäste. Auf Sofas, Sesseln und Stühlen sitzen bereits die Gastgeber und Gäste; die Hausherrin ist eine ältere Dame, die einen Stock verschluckt zu haben scheint; vor ihr steht ein Körbchen mit Biscuits, eine Schale mit Obst und eine dampfende Tasse Tee; ihr gegenüber sitzt ein tauber alter Mann mit einem- dummen Gesicht, der kaut und trinkt. Die jungen Männer, in tadellosen Smokings, unterhalten sich teilweise mit den anderen Damen, teilweise drücken sie sich in den Ecken herum. Das allgemeine Stimmengewirr sinnloser Gespräche. Der Hausherr empfängt die Gäste im Flur und ruft jedem mit hölzerner Stimme zu: »A-a-ak!« Dann sagt er eine Banalität. Im gegebenen Augenblick ist er eben damit beschäftigt.

HAUSHERR im Flur A-a-ah! Sie haben sich aber gut verpackt,

mein Lieber. STIMME EINES GASTS Es ist aber auch eine Kälte, kann ich Ihnen

sagen! Trotz Pelz bin ich beinahe erfroren.

Der Gast schneuzt sich. Da sich die Unterhaltung im Salon aus irgendeinem Grunde erschöpft hat, hört man den Hausherrn, der den Gast vertraulich fragt:

HAUSHERR Wo haben Sie ihn nähen lassen? GAST Bei Chevalier.

Zur Tür herein ragen die Rockschöße des Hausherrn: er betrachtet den Pelz genauer.

HAUSHERR Und was haben Sie bezahlt? GAST Tausend.

Die Hausherrin, bemüht, das Gespräch zu unterbinden, ruft:

Die Unbekannte

181

HAUSHERRIN Cher Ivan Pavlovič! Kommen Sie, schnell! Arka-dij Romanovič hat uns fest versprochen, heute zu singen!

Arkadij Romanovič tritt auf die Hausherrin zu und versucht, ihr durch verschiedene Gesten zu bedeuten, daß er keine allzu hohe Meinung von sich habe. Die Hausherrin versucht, ihm durch Gesten das Gegenteil zu bedeuten.

EIN JUNGER MANN, GEORGES Deine Serpantini ist eine dumme Gans, Miša. So zu tanzen wie sie gestern abend bedeutet, daß man kein Schamgefühl hat.

DER JUNGE MANN MlŠA Georges, du hast einfach keine Ahnung! Ich bin einfach verliebt. Das war etwas für die wenigen Auserwählten. Erinnere dich, sie hat eine vollkommen klassische Figur - die Arme, die Beine...

GEORGES Ich bin da hingegangen, um Kunst zu genießen. Beine ansehen kann ich auch woanders.

HAUSHERRIN Worüber sprechen Sie, Georgij Nikolaevič? Ach, über die Serpantini! Schrecklich, nicht wahr? Erstens, - die Musik interpretieren, - schon das ist eine Frechheit. Ich liebe die Musik, liebe sie leidenschaftlich und werde um nichts in der Welt zulassen, daß man Spott mit ihr treibt. Und dann, -ohne Kostüm zu tanzen, das... das ist, ich weiß nicht, was das ist! Ich habe meine Tochter nach Hause gebracht.

GEORGES Ich stimme voll und ganz mit Ihnen überein. Michail Ivanovič ist anderer Meinung...

HAUSHERRIN Aber ich bitte Sie, Michail Ivanovič! Ich denke, hierüber kann es zweierlei Meinung nicht geben! Ich kann ja verstehen, junge Menschen lassen sich gern hinreißen, aber in einem öffentlichen Konzert... wo Bach mit den Beinen dargestellt wird... ich musiziere selbst... liebe die Musik leidenschaftlich ... Wie Sie wollen ...

Der alte Mann, der der Hausherrin gegenübersitzt, platzt auf einmal unvermittelt los:

ALTER MANN Ein öffentliches Haus!

182 Aleksandr Blök

Er fährt fort, Tee zu trinken und Biscuits zu kauen. Die Hatisherrin errötet und wendet sich an eine der Damen.

MlŠA Ach, Georges, ihr habt doch alle keine Ahnung! Als ob das eine Interpretation von Musik wäre! Die Serpantini ist die verkörperte Musik. Sie schwimmt auf den Wellen der Klänge, und selber glaubt man, man schwimmt ihr hinterdrein. Singen denn nicht ihr Körper, ihre Linien, ihre harmonischen Bewegungen genau so wie die Klänge der Musik? Wer Musik wirklich spürt, den kann das nicht kränken. Ihr habt ein abstraktes Verhältnis zur Musik...

GEORGES Träumer! Du redest ja wie aufgezogen. Stellst irgendwelche Theorien auf und siehst und hörst nichts. Von der Musik zu schweigen, die kann mir gestohlen bleiben! Und alles andere kann ich mir gern in einem chambre separee anschauen. Aber du mußt zugeben, auf dem Plakat nicht mitzuteilen, daß die Serpantini nur mit Fetzen bekleidet auftritt- bringt jeden anderen in eine höchst unangenehme Situation. Wenn ich das gewußt hätte, ich hätte meine Braut nicht mitgenommen. Misa wühlt zerstreut in dem Biscuitkörb-chen herum. Hör zu, laß endlich die Biscuits in Ruhe. Es ist doch ekelhaft, wenn du alle einzeln anfaßt. Schau, wie deine Cousine dich anschaut. Und alles nur, weil du verlegen bist. Ach, ihr Träumer.

Misa geht, verlegen brummelnd, in die andere Ecke.

ALTER MANN plötzlich, zur Hausherrin Nina! Bleib still sitzen!

Dein Kleid ist auf dem Rücken aufgegangen. HAUSHERRIN Jetzt reicht es, Onkel, so vor allen Leuten! Sie

sind... zu offenherzig...

Sie versucht, unbemerkt das Kleid zuzuknöpfen. Eine junge Dame kommt hereingerauscht, gefolgt von einem hünenhaften rothaarigen Herrn.

DAME Ach, guten Abend! Darf ich vorstellen: mein Bräutigam.

Die Unbekannte 183

ROTHAARIGER HERR Sehr angenehm. Er geht mürrisch in eine

Ecke. DAME Bitte, achten Sie gar nicht auf ihn. Er ist sehr schüchtern.

Ach, stellen Sie sich vor, was passiert ist...

Sie trinkt schnell einen Schluck Tee und erzahlt der Hausherrin flüsternd eine Pikanterie, was daraus zu schließen ist, daß beide auf dem Sofa hin- und herrutschen und kichern.

DAME wendet sich plötzlich an ihren Bräutigam Hast du nicht mein Taschentuch?

Der Bräutigam zieht mürrisch ein Taschentuch aus der Tasche.

DAME Tut dir wohl leid drum?

ROTHAARIGER HERR unvermittelt mürrisch Trink und halts Maul.

Sie schweigen. Trinken. Ein junger Mann kommt hereingelaufen und stürzt freudig auf einen anderen zu. In ihm ist unschwer derjenige zu erkennen, der die Unbekannte weggeführt hat.

JUNGER MANN Kostja, Freund, sie wartet draußen vor der Tür...

Er unterbricht sich. Alles wird auf einmal sehr merkwürdig. So, als erinnerten sich plötzlich alle, daß diese Worte schon einmal und in derselben Abfolge gesprochen worden sind. Michail Ivanovič schaut den Dichter merkwürdig an, der in diesem Augenblick eintritt. Der Dichter, blaß, begrüßt die Anwesenden mit einer allgemeinen Verbeugung von der Schwelle des stillgewordenen Salons.

HAUSHERRIN mit gezwungenem Ausdruck Wir haben nur auf Sie gewartet. Ich hoffe, Sie werden uns etwas vortragen. Heute ist ein sehr merkwürdiger Abend! Unsere harmlose Unterhaltung will einfach nicht in Gang kommen.

Aleksandr Blök

ALTER MANN platzt heraus Als ob jemand gestorben wäre. Den

Geist aufgegeben hätte. HAUSHERRIN Ach, Onkel, hören Sie auf! Sie bringen nur noch

alle in Verlegenheit... Meine Herrschaften! Nehmen wir

unser Gespräch wieder auf... Zum Dichter. Sie werden uns

etwas vortragen, nicht wahr?

DICHTER Mit Vergnügen... Wenn es interessiert... HAUSHERRIN Meine Herrschaften! Ich bitte um Ruhe! Unser

schöner Dichter wird uns eines seiner schönen Gedichte

vortragen, wie ich hoffe, wieder eines über die schöne

Dame...

Alle verstummen. Der Dichter nimmt an der Wand Aufstellung, die der Tür gegenüber ist, und rezitiert:

DICHTER

Vom Trottoir der Schnee - geflohn, Es glänzte nackt das nasse Dach, Als in der Sakristei, im Dom, Erstrahlten Ihre Perlen - ach! Und vom Altar, in Rosen zart, Stieg langsam, langsam Sie herab...

Das feine Klingeln im Flur. Die Hausherrin faltet flehentlich die Hände in Richtung des Dichters. Er unterbricht den Vortrag. Alle schauen voller Neugierde zur Flurtür.

HAUSHERR Einen Augenblick. Ich bitte vielmals um Entschuldigung.

Er geht hinaus in den Flur, ruft dort aber nicht sein: »A-a-ah!« Schweigen.

STIMME DES HAUSHERRN Womit kann ich dienen?

Ihm antwortet eine Frauenstimme. Der Hausherr erscheint auf der Schwelle.

Die Unbekannte 185

HAUSHERR Ninočka, eine Dame. Ich werde aus ihr nicht schlau. Wahrscheinlich für dich. Entschuldigen Sie, meine Herrschaften, entschuldigen Sie...

Er lächelt verlegen nach allen Seiten. Die Hausherrin geht in den Flur und schließt hinter sich die Tür. Die Gäste tuscheln.

DER JUNGE MANN Das kann nicht sein... DER ANDERE versteckt sich hinter ihm Aber klar... das gibt einen Skandal! Ich habe ihre Stimme erkannt...

Der Dichter steht regungslos der Tür gegenüber. Die Tür geht auf. Die Hausherrin geleitet die Unbekannte herein.

HAUSHERRIN Meine Herrschaften, welch angenehme Überraschung. Meine bezaubernde neue Bekannte. Ich hoffe, wir werden sie mit Freuden in unseren Freundeskreis aufnehmen. Maria, pardon... ich habe nicht gehört, wie heißen Sie?

DIE UNBEKANNTE Maria.

HAUSHERRIN Ich meine... wie weiter?

DIE UNBEKANNTE Ich heiße: Maria.

HAUSHERRIN Also schön, Liebste, Ich werde Sie Mary nennen. Sie sind ein wenig exzentrisch, nicht wahr. Aber um so amüsanter wird der heutige Abend mit unserem reizenden Gast. Nicht wahr, meine Herrschaften?

Alle sind verlegen. Peinliches Schweigen. Der Hausherr bemerkt, daß jemand in den Flur entwischt ist und geht ihm nach. Man hört entschuldigendes Geflüster, die Worte: »nicht ganz wohl...« Der Dichter steht regungslos.

HAUSHERRIN Ja nun, vielleicht wird unser schöner Dichter seinen unterbrochenen Vortrag fortsetzen? Liebste Mary, als Sie kamen, hat unser berühmter Dichter gerade etwas vorgetragen ... vorgetragen.

DICHTER Verzeihung. Erlauben Sie mir, Ihnen ein andermal vorzutragen. Ich bitte um Entschuldigung.

186 Aleksandr Blök

Niemand erhebt Einspruch. Der Dichter tritt auf die Hausherrin zu, die eine Zeitlang flehentliche Gesten macht, aber bald damit aufhört. Der Dichter setzt sich still in eine entfernte Ecke. Er schaut die Unbekannte nachdenklich an. Das Dienstmädchen serviert, was verlangt wird. Aus dem allgemeinen sinnlosen Gerede hört man Gelächter, einzelne Wörter und ganze Sätze:

- Nein, wie sie getanzt hat!

- Aber hör doch mal zu!

- Die russische Intelligenz...

JEMAND besonders laut Sie werden es nie verstehen! Sie nie!

Den Dichter haben alle vergessen. Langsam erhebt er sich von seinem Platz. Er führt die Hand über die Stirn. Macht einige Schritte vor und zurück. Seinem Gesicht ist anzusehen, daß er qualvoll versucht, sich an etwas zu erinnern. Währenddessen hört man aus dem allgemeinen Gerede die Wörter: »Rocquefort, Camembert.« Plötzlich springt ein dicker Mann, in wildem Enthusiasmus, kreisförmige Bewegungen vollführend, in die Mitte des Raumes und ruft:

Brie!

Der Dichter bleibt augenblicklich stehen. Einen Augenblick lang hat es den Anschein, als habe er sich an alles erinnert. Er geht einige Schritte auf die Unbekannte zu. Aber der Sterndeuter, in blauer Uniform, vertritt ihm, aus dem Flur kommend, den Weg.

STERNDEUTER Entschuldigung, ich bin in Uniform und komme zu spät. Direkt von einer Sitzung. Ich haben einen Vortrag halten müssen. Die Astronomie... Er hebt den Zeigefinger.

HAUSHERR nähertretend Wir sprachen eben über die Gastronomie. Ninočka, wie wäre es jetzt mit dem Essen?

HAUSHERRIN steht auf Meine Herrschaften, darf ich bitten? Zu Tisch!

Die Unbekannte 187

Alle folgen ihr hinaus. In dem verdunkelten Salon blieben nur die Unbekannte., der Sterndeuter und der Dichter. Dichter und Sterndeuter stehen in der Tür, im Begriff hinauszugehen. Die Unbekannte verweilt im Hintergrund vor einem dunklen, halbgeöffneten Fenstervorhang.

STERNDEUTER So begegnen wir uns also wieder. Sehr erfreut. Aber die Umstände unserer ersten Begegnung sollten unter uns bleiben.

DICHTER Ich möchte Sie um dasselbe bitten.

STERNDEUTER Ich hatte eben einen Vortrag in der Astronomischen Gesellschaft - und zwar über etwas, dessen unfreiwilliger Zeuge Sie waren. Ein verblüffendes Ereignis: ein Stern erster Größe...

DICHTER Ja, das ist sehr interessant.

STERNDEUTER hingerissen Und ob! Ich habe einen neuen Paragraphen eingefügt: »Gefallen ist der Stern Maria!« Erstmals ist die Wissenschaft... Aber entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht nach den Ergebnissen Ihrer Nachforschungen gefragt...

DICHTER Sie sind ergebnislos geblieben.

Er wendet sich ab in den Hintergrund des Salons. Schaut hoffnungslos. In seinem Gesicht � Sehnsucht, in seinen Augen � Leere und Finsternis. Er schwankt vor schrecklicher Anspannung. Aber er hat alles vergessen.

HAUSHERRIN auf der Schwelle Meine Herrschaften! Kommen Sie ins Eßzimmer! Aber ich kann Mary nicht finden... Sie droht ihnen mit dem Finger. Ach, die jungen Leute! Sie haben meine Mary wohl versteckt? Sie schaut suchend in den Raum. Wo ist Mary? Wo ist Mary?

Vor dem dunklen Vorhang steht niemand mehr. Im Fenster brennt ein heller Stern. Blau fällt der Schnee, blau wie die Uniform des verschwundenen Sterndeuters.

Fedor Sologub Lieben

Drama in zwei Akten

Personen:

REATOV, 44 Jahre ALEKSANDRA, 20 Jahre

DUNAEV, 26 Jahre

ERSTER AKT

Zimmer im Hause Reatov. Aleksandra in Trauer, mit einer gerahmten Photographie in der Hand. Reatov tritt auf.

REATOV Meine Tochter ist in angenehmer Gesellschaft.

ALEKSANDRA zuckt zusammen, läßt das Porträt fallen Oh, Papa! Du hast mich erschreckt, - ich war in Gedanken.

REATOV Und der Herr Bräutigam liegt auf dem Boden, -großartig! Laß dich noch einmal anschauen. Schön bist du geworden.

ALEKSANDRA Ach, Papa!...

REATOV Und rote Augen, das ist nicht schön. Warum weinst du dauernd. Komm, heben wir lieber deinen Bräutigam auf und stellen ihn auf den Tisch.

ALEKSANDRA So ein Kummer, Vater, so ein Kummer!

REATOV Laß es gut sein, Kind, hör auf zu weinen. Mama ist glücklicher als wir: sie hat keine Wünsche mehr, unerfüllbare, wahnsinnige... Aber wie schön du geworden bist! Wie lange haben wir uns nicht gesehen! Sechs Jahre. Du warst ein kleines Mädchen, damals, ein plumper junger Kuckuck, und jetzt, sieh einer an, hat sie schon eine Art Bräutigam.

190 Fedor Sologub

ALEKSANDRA Eine Art! Er ist ein lieber, guter Mensch.

REATOV Liebe Briefe hast du mir geschrieben, früher, vor seiner Zeit.

ALEKSANDRA Ich dachte, es sei dir langweilig und du hättest keine Zeit, mein Geplapper zu lesen.

REATOV Nein, Sanečka. Setzen wir uns, hier, in diese Ecke, und reden wir miteinander, über alles und lange. Erzähle mir von dir. Ist noch alles wie früher, nicht wahr? Die flackernden Lichter vor den Ikonen, die Bitten an jemanden um etwas, die merkwürdigen Gesten, und diese langen Gebete auf den Knien?

ALEKSANDRA Wir leben hier in der Einöde. Was soll ich sagen? Das ist mein Bräutigam - nicht wahr, er ist lieb? Warum bist du so blaß und so finster? Gefällt er dir nicht? Du hast ihn früher gekannt... Du hast viel gesehen, bist weit gereist... Warum schweigst du? Erzähl mir ein Märchen, wie du es mir, als ich klein war, erzählt hast, damals - erinnerst du dich? -vor langer Zeit... Worüber denkst du nach?

REATOV Verzeih, mein Kind. Ich muß ausruhen... Meine Wanderjahre sind zu Ende - und ich beginne ein neues Leben. Ich freue mich an dir, schaue in dein schönes Gesicht, und mich packt der Ärger...

ALEKSANDRA Über was?

REATOV Aleksandra, hast du ihn dir zum Mann gewählt?

ALEKSANDRA Was ist daran so merkwürdig? Er ist ein guter Mensch.

REATOV Wer möchte schon böse sein!

ALEKSANDRA Wir werden glücklich sein... Du wirst ihn ja sehen, ihn näher kennenlernen - und liebgewinnen. Nicht wahr, du wirst ihn liebgewinnen?

REATOV Liebgewinnen? Nein, Kindchen, dich liebe ich, das ist wahr, ihn dagegen habe ich nicht die Absicht in verwandtschaftliche Arme zu schließen. Hat er wirklich so weiße Hände? Kann er wirklich seinen Kopf an meine Brust lehnen, und hat er wirklich solche Augen ? Und mich ärgert, daß er dich nehmen wird, meinen Schatz. Er ist deiner Liebe nicht wert.

ALEKSANDRA Oh, doch!

Lieben 191

REATOV Übrigens... Er ist ein guter Mensch, ja, nicht wahr?

ALEKSANDRA Aber ja, er ist nicht so wie du.

REATOV Das ist gut. Ich freue mich für dich. Er wird dich auf Händen tragen, so, wie ich dich trage, ja? Dich tragen, in die Luft werfen, dich hin und her wiegen? Dich auf die Lippen und Wangen küssen und wieder in die Luft werfen, so! Ja?

ALEKSANDRA Hör auf, hör auf, laß mich herunter. Wie stark du bist! Dein Atem geht ruhig, und mir ist, als wäre ich eine Verst weit gelaufen... Aber was tun wir, tollen herum wie die Kinder und lachen - in dieser Zeit.

REATOV In was für einer Zeit?

ALEKSANDRA Wie lange ist es her, daß ich Mama verloren habe?

REATOV Ach, Kindchen, wer wird um etwas trauern, was man nicht zurückholen kann! Und er hält sich zurück, in diesen Trauertagen, und wiegt mein Töchterchen nicht in den Armen?

ALEKSANDRA Wo denkst du hin, - er würde es nicht wagen.

REATOV Er liebt, und wagt es nicht! Er liebt, und weiß nicht, welche Seligkeit es ist, den bebenden Körper der Geliebten im Arm zu halten!

ALEKSANDRA Es hat auch nicht jeder so eine Riesenkraft, mit einem Menschen zu spielen wie mit einem Spielball.

REATOV Ich verstehe, mein Kind, ich verstehe. Und weiß deinen zarten Geschmack zu schätzen: er, dein Bräutigam, ist nicht so grob wie ich, - er ist elegant, fein. Er liebt dich ritterlich, er liegt dir zu Füßen, so, und singt dir von seiner Liebe und erzählt dir wundersame Legenden, wie unsere Großväter unsere Großmütter liebten.

ALEKSANDRA Er kann nicht singen und ist auch kein Ge-schichtsprofessor.

REATOV Wirklich? Also wieder falsch! Ja, ich weiß, er führt in deinem Salon nur wohlanständige Gespräche und spricht von seiner Liebe nicht anders als nach dem Lehrbuch des guten Tons.

ALEKSANDRA Ich kenne so ein Lehrbuch nicht.

REATOV Lassen wir das. Oder nein, sag mir, und du... liebst du ihn sehr?

192

Fedor Sologub

ALEKSANDRA Oh, ja!

REATOV Die Glücklichen! Und weißt du, wie Küsse brennen können?

ALEKSANDRA Brennen? Oh, ja, er küßt mir die Hände, aber das brennt nicht.

REATOV Nur die Hände?

ALEKSANDRA Einmal - aber das bleibt unser Geheimnis - hat er mich hier auf diese Stelle geküßt.

REATOV Auf diese bleiche Wange, die jetzt so bezaubernd errötet?

ALEKSANDRA Aber da bin ich sehr böse geworden und habe ihm erst verziehen, als er sagte, er würde es nicht wieder tun...

REATOV Bis zur Hochzeit! Ihr Kinder! Ein Romeo, der es nicht wagt, seiner Julia vom süßesten Nektar der Liebe zu trinken zu geben ohne die Erlaubnis des Alten im Brokatrock!

ALEKSANDRA Papa, was sagst du da!

REATOV Ich freue mich, mein Kind, ich freue mich. Du hast dir die Unschuld bewahrt und kennst die Liebe nicht. Ich freue mich darüber, weil ihr einander nicht lieben werdet.

ALEKSANDRA Oh, nein, ich liebe ihn, und er liebt mich.

REATOV Kind, merke dir, daß Liebe, die nicht durch die letzten Opfer besiegelt ist, - ein kleines Wölkchen ist, das sich auflöst unter den Küssen eines mächtigen Lichtes. Liebe kennt keine Hindernisse und Verbote, Liebe wagt alles, darf alles. Wer liebt, ist stark wie Herkules - er ist froh, die Welt auf seinen Schultern zu tragen, die für ihn nur aus der Geliebten besteht. Wer liebt, ist genial wie Shakespeare, und Liebe ist etwas Schöpferisches. Wer liebt, ist ein Wahnsinniger und Maniak und Rasender zugleich: nur ein Gedanke verbrennt sein Hirn, nur ein Bild beherrscht seine Seele, und alles geht unter im Wirbelsturm seiner ungestümen Wünsche. Er nimmt die Geliebte als ihm zustehende Beute in seine starken Arme...

ALEKSANDRA Oh, du läßt mich fallen! Laß mich los. Deine Augen brennen. Ich verstehe nicht, was du meinst.

REATOV Wenn die Schönheit von ihm Besitz ergriffen hat, fallen alle Mauern und Wände vor ihm, und es gibt das Hindernis nicht, das vor der Anstrengung seines leidenschaftlichen

Lieben 193

Willens nicht zerreißen würde, so wie das zarte Gewebe

deines Trauerkleides. ALEKSANDRA Vater! was tust du! Wahnsinniger, du hast mir das

Kleid zerrissen! Wozu das ? REATOV Nicht er wird dich die Liebe lehren. Verzeih, Kind. Ich

habe dich so lange nicht gesehen, und es tut mir leid um dein

Herz, das du in den feuchten Keller des Familienglücks

fortgeben willst. ALEKSANDRA Ich muß gehen, mich umziehen, sonst sieht noch

jemand mein zerrissenes Kleid... REATOV Warte. Laß mich dich umarmen... Die Blitze in

deinen Augen, die schwarz sind wie die Nacht... Sag mir, hat

der, dein bescheidener Herr Bräutigam, je diese wunderbare

Brust gesehen, und diese Stelle hier unter dem goldenen

Amulett? ALEKSANDRA Die hat er natürlich nicht gesehen. Laß mich. Sie

geht ab.

ZWEITER AKT

Derselbe Raum. Einige Tage später. Aleksandra und Dunaev unterhalten sich leise. Reatov tritt auf.

REATOV Die zwei unzertrennlichen Tauben. Ihr gurrt?

ALEKSANDRA Wir gurren.

REATOV Dann gurrt weiter, meine Kinder, und werdet glücklich.

DUNAEV Oh, ja, ich gebe mir alle Mühe Aleksandra Apollonov-na glücklich zu machen.

REATOV Geben Sie sich Mühe, mein Freund, nur achten Sie auf Ihre Gesundheit, vergeuden Sie Ihre Kräfte nicht unbedacht, wie dieser kleine Italiener, Romeo, der Wahnsinnige, der in nur einer Nacht über seiner Gattin das ganze Eden der Genüsse ausgießen wollte. Seien Sie bedachtsam und vernünftig, wie Gogols Schiller, und Sie werden sich des patentierten und wasserdichten Glückes erfreuen.

194 Fedor Sologub

DUNAEV Natürlich werden wir glücklich werden.

REATOV »Wie die Götter im unzugänglichen Himmel« ?

DUNAEV Wie die Götter? Oh, nein! Wir alle sind Menschen. Und wieso unzugänglicher Himmel? Wir wollen hier auf Erden glücklich sein, Menschen sehen und gesehen werden. Unser Paradies wird allen Freunden offenstehen.

REATOV Allen Freunden? Nett gesagt.

DUNAEV Sie scheinen heute irgendwie ungehalten zu sein?

REATOV Nein.

DUNAEV Sie sind so blaß. Ist Ihnen vielleicht nicht ganz wohl? Wir sollten einen Arzt holen.

REATOV Nein, mein Freund, ich danke Ihnen, ich bin vollkommen gesund. Ich bin nur ein wenig zerstreut. Merkwürdig, die Dinge... Mit einem Wort, ich habe gefunden, was ich nicht erwartet habe.

ALEKSANDRA Er sitzt immer mehr im Zimmer und liest. Was für schreckliche und verlockende Bücher es gibt!

REATOV Ich würde Ihnen, Aleksej Sergeič, gern zwei Worte unter vier Augen sagen, wenn Sie gestatten.

DUNAEV Ich höre.

REATOV Es ist unser Geheimnis, Sanečka, unser strenges Geheimnis.

ALEKSANDRA Ich werde es niemandem verraten.

REATOV Wir werden es dir auch nicht verraten.

ALEKSANDRA Er darf keine Geheimnisse vor mir haben.

REATOV Es wird trotzdem unser Geheimnis bleiben.

ALEKSANDRA Ich bin hier also überflüssig! Das ist aber nett!

REATOV Sei nicht böse, Kind: ich gebe ihn dir in kürzester Zeit wieder, aber jetzt laß uns allein.

ALEKSANDRA Na gut, was kann ich machen! Das ist wie damals, als ich klein war, wenn du zu tun hattest und ich kam und dich störte, dann hast du mich hinausbegleitet wie jetzt.

REATOV Ja, und du warst darüber böse und hast verkündet, daß du mich nie wieder besuchen kommen würdest.

ALEKSANDRA Auf Wiedersehen, Aleksej Sergeič, - ich lasse Sie bei Ihrer Heimlichtuerei allein.

REATOV Und laß es dir nicht einfallen zu horchen, mein Kind.

Lieben 195

ALEKSANDRA Ja natürlich, das werde ich nicht. Ich bin nicht so neugierig. Sie geht ab.

REATOV Setzen Sie sich, Aleksej Sergeič, wir wollen miteinander reden. Um gleich zur Sache zu kommen. Sie wissen, was Ihre Braut besitzt?

DUNAEV Apollon Maksimovič! das interessiert mich nicht im geringsten!

REATOV Nicht im geringsten?

DUNAEV Natürlich sind meine Mittel nicht groß, und die Gewohnheiten von Aleksandra Apollonovna...

REATOV Mit einem Wort, eine Mitgift würde nicht schaden?

DUNAEV Ich bin nicht auf Geld aus, aber wenn Aleksandra Apollonovna Geld besitzt, - um so besser für sie. Ich habe mich erkühnt, um ihre Hand anzuhalten, nur weil ich sie liebe, und es wäre mir gleichgültig, auch wenn sie nichts besäße.

REATOV Mein Freund, gestatten Sie mir, Sie zu umarmen. Jetzt bin ich, was Aleksandra betrifft, beruhigt. Gott sei Dank, jetzt weiß ich ihr Schicksal in guten und treuen Händen. Aber wenn Sie wüßten, wie qualvoll die letzten Tage für mich waren, da ich mich von unserer wahren Lage habe überzeugen müssen!

DUNAEV Ach ja?

REATOV Mein Lieber, wir sind ruiniert.

DUNAEV Wirklich?

REATOV Ja, die mir Angetraute hat leider über ihre Verhältnisse gelebt. Ich war auf Reisen, während hier... Während man hier, in meiner Abwesenheit, riskante Neuerungen in der Wirtschaft eingeführt hat. Dazu die alten Schulden, die beglichen werden mußten.

DUNAEV So ist das also!

REATOV Aber das alles wäre halb so schlimm. Das Schlimme ist, daß man das ganze Kapital in die Hände eines Spekulanten gelegt hat, der plötzlich bankrott gegangen ist.

DUNAEV Das alles ist sehr unangenehm. Ich werde Aleksandra Apollonovna nicht all das bieten können, was sie zu besitzen gewöhnt ist.

196 Fedor Sologub

REATOV Was also tun! Ich werde Aleksandra alles geben, was ich kann, fürchte aber, daß von unserem Besitz nicht mehr als kleine Brocken übrigbleiben. Aleksandra ist vom Leben vielleicht verwöhnt. Liebe ist etwas Schönes, mit dem Geliebten hat man das Paradies auch in der kleinsten Hütte, nur manchmal enden Liebesehen auch mit dem Betrug der Ehegatten. Besser, man unterdrückt die zärtlichen Gefühle, als daß man später ein Leben lang über sein Schicksal weint. Deshalb sollten auch Sie sich überlegen, ob Sie nicht von dieser Ehe lieber Abstand nehmen, bevor es zu spät ist.

DUNAEV Nein, Apollon Maksimovič, wenn Aleksandra Apol-lonovna einwilligt, die Armut mit mir zu teilen, so werde ich mich glücklich schätzen, sie meine Ehefrau zu nennen. Gott mit ihm, all dem Reichtum! Ich glaube, das ist alles nur zum Besseren.

REATOV Sogar zum Besseren?

DUNAEV Ja, natürlich: zumindest wird man mir nicht nachsagen können, ich hätte um des Geldes willen geheiratet, und auch meine Frau wird wissen, daß ich sie nicht der Mitgift wegen nehme, sondern aus Liebe.

REATOV Ach! Sie vollbringen eine Art gute Tat?

DUNAEV Aber Apollon Maksimovič, ich bitte Sie, im Gegenteil, ich werde mich glücklich schätzen, wenn Aleksandra Apollonovna einwilligt...

REATOV Ja ja, ich glaube an Ihre edlen Gefühle. Und trotzdem, mein Freund, - ohne Geld ist kein Leben. Um so weniger, als die Zukunft, so wie ich sie sehe, nicht die geringste Hoffnung bietet.

DUNAEV Ich verlasse mich auf mich selbst, auf meine eigene Kraft, - das reicht.

REATOV Meine Frau hatte einen Onkel, Sie wissen das?

DUNAEV Ist er gestorben?

REATOV Nein, er lebt noch. Aber ich sage: hatte, denn wenn er früher gestorben wäre, dann hätte meine Frau alles geerbt, aber jetzt...

DUNAEV Jetzt ist Aleksandra Apollonovna die Erbin.

REATOV Aleksandra die Erbin? Wie kommen Sie darauf?

Lieben 197

DUNAEV Das ist doch klar! Ihre Frau hätte alles geerbt, wenn sie nicht gestorben wäre, - warum also jetzt nicht Saša?

REATOV Warum nicht?... Ich sehe, - Sie wissen es also noch nicht... Ich hatte gedacht...

DUNAEV Was hat das zu bedeuten? Ich verstehe gar nichts mehr.

REATOV Also hat meine verstorbene Frau Ihnen nichts gesagt?

DUNAEV Nein.

REATOV Merkwürdig. Aber das sieht ihr ähnlich. Immer nur Phantasien, Geheimnisse, Überraschungen, Launen... Und Aleksandra weiß es selbst nicht... Sie ist in unserer Familie mit diesen Vorstellungen aufgewachsen...

DUNAEV Sie heißt also nicht Aleksandra Apollonovna?

REATOV Ja, mein Freund, - aber Sie hätten die Wahrheit so oder so bald erfahren... Meine Frau wollte immer eine Tochter haben, - und da...

DUNAEV Was soll das bedeuten? Und ich habe nichts gewußt! Man hat es mir verschwiegen?

REATOV Sie lieben sie so, daß es Ihnen gleichgültig ist, wie sie wirklich heißt.

DUNAEV Ja, schon, aber...

REATOV Und ist es nicht gleichgültig, ob sie eine Reatova ist oder Aleksandra Trofimovna Vodochlebova, ein Bauernmäd-chen? Der Name ist natürlich ein wenig vulgär...

DUNAEV Ja, aber...

REATOV Aber sie erhält den Familiennamen des Mannes, oder? Die bäuerliche Verwandtschaft hat uns nicht allzu sehr belästigt.

DUNAEV Aber sie ist ab und an erschienen?

REATOV Ach, wissen Sie, ohne das geht es nicht. Die verwandtschaftlichen Gefühle...

DUNAEV Ja, natürlich...

REATOV Und die dörflichen Gastgeschenke, Sie wissen schon, Kokorki, Kalitki, Gartentore aus Schwarzbrotteig mit Sauerquark ... Als ob Aleksandra sie hätte essen können! Natürlich hätte sie sich darüber gestürzt, mit vollen Backen verschlungen, aber die Erziehung, wissen Sie...

198

Fedor Sologub

DUNAEV Ja, natürlich.

REATOV Das Ärgerliche ist nur, daß dieser Umstand sie des Rechtes beraubt, das Erbe der Verwandten meiner verstorbenen Frau anzutreten...

DUNAEV Nun ja, wir brauchen es nicht.

REATOV Aber wäre es nicht besser für Sie, mein Lieber, von der Ehe zurückzutreten? Hm? Solange es nicht zu spät ist. Sie werden sehr leicht eine reiche Braut finden. Wirklich, das wäre doch besser, oder?

DUNAEV Nein, wieso denn? Ich verstehe nicht.

REATOV Sie sollten lieber nachdenken, mein Freund, ehe Sie sich binden.

DUNAEV Ja, natürlich werde ich nachdenken...

REATOV Na, wunderbar.

DUNAEV Aber nein, übrigens, wieso! Es ist mir egal, und so wie Aleksandra Apollonovna, es hängt von Aleksandra Apollono vna ab.

REATOV Das war, was ich Ihnen zu sagen hatte. Wenn Sie wollen, schicke ich jetzt Aleksandra zu ihnen.

DUNAEV Ja ja, natürlich, Aleksandra Trofimovna...

REATOV Nur, wissen Sie was, mein Freund, nennen Sie sie vorläufig noch nicht Aleksandra Trofimovna, - lassen Sie es vorerst bei Aleksandra Apollonovna. Sie ist es so gewohnt, -es könnte sie kränken, wenn sie es so plötzlich hörte, Sie verstehen.

DUNAEV Ja ja, ich verstehe, das war nur ein Versehen, es ist mir so herausgerutscht. Ich warte hier auf sie.

REATOV Ich schicke sie sofort zu Ihnen.

Er geht ab. Dunaev tritt von einem Fuß auf den anderen. Er nimmt seinen Hut. Ist sehr durcheinander. Geht auf und ab. Wirft einen Blick in den Spiegel. Geht zur Tür rechts. Steht dort eine Weile. Zuckt die Achseln. Geht schnell dem Ausgang zu, der sich im Hintergrund befindet. Hält schon den Türgriff in der Hand. Die Tür läßt sich nicht öffnen. Er hantiert am Türgriffy tritt gegen die Tür. Geht mit rotem Kopf von der Tür weg, verärgert. Murmelt.

Lieben 199

DUNAEV Hols doch der Teufel!

£r tritt zum Fenster. Klettert aufs Fensterbrett. Aleksandra tritt auf.

ALEKSANDRA Was tun Sie da? Was wollen Sie auf dem Fensterbrett?

DUNAEV springt herunter Ach, Sie sinds, Aleksandra Apollo-novna!... Ich, wissen Sie, ich... ja, das heißt, ich habe mein Taschentuch verloren, es ist zum Fenster hinaus.

ALEKSANDRA Ach, Ihr Taschentuch! Sind Sie komisch! Sie hätten jemand danach schicken können.

DUNAEV Sehen Sie, von hier war es näher...

ALEKSANDRA Hatten Sie Angst, Ihr Taschentuch könnte gestohlen werden? Sie Geizhals! Zeigen Sie mir Ihr wertvolles Taschentuch. Schaut zum Fenster hinaus. Ich sehe es nicht.

DUNAEV Der Wind hat es fortgetragen, Aleksandra Apollo-novna.

ALEKSANDRA Ach hören Sie auf, Wind - um diese Zeit!

DUNAEV Das heißt nein, sondern eben, als ich mit Ihnen sprach, ist ein Junge vorbeigekommen, hat das Tuch aufgehoben, und dann war es weg. Jetzt fällt mir ein, hier war so ein Junge, weißblond, abgerissen, mit Schorf am Knie.

ALEKSANDRA Ein weißblonder Junge hat Ihr Taschentuch gestohlen, und Sie wollten ihm nach, durchs Fenster? Sehr löblich!

DUNAEV stammelt Ja, na und.

ALEKSANDRA Legen Sie Ihren Hut aus der Hand, und setzen Sie sich. Und werfen Sie nicht vorher Taschentücher aus dem Fenster, und fliehen Sie nicht übers Fensterbrett, - dafür gibt es Türen.

DUNAEV Entschuldigen Sie, Aleksandra Apollonovna, aber ich muß jetzt gehen. Wenn Sie erlauben, komme ich heute abend wieder, aber jetzt...

ALEKSANDRA Warten Sie. So einfach geht das nicht. Erklären Sie mir, was soll das bedeuten? Worüber haben Sie mit meinem Vater gesprochen? Was ist Ihnen? Warum sind Sie so verlegen?

Fedor Sologub

DUNAEV Es ist gar nichts, Aleksandra Apollonovna, wirklich nicht - es wird sich alles aufklären, zur rechten Zeit und zur allgemeinen Freude.

ALEKSANDRA Aber was soll sich aufklären? Was ist geschehen? Warum haben Sie aus dem Fenster springen wollen? Ich glaube, Sie machen mir mit dem Taschentuch etwas vor.

DUNAEV Wirklich, ich weiß nicht, wie ich sagen soll...

ALEKSANDRA Und wenn Sie hätten gehen wollen, ohne mir zu begegnen, dann hätten Sie doch durch diese Tür dort gehen können.

DUNAEV Aber diese Tür ist abgeschlossen.

ALEKSANDRA Abgeschlossen? Merkwürdig! Und Sie haben es versucht? Ja, tatsächlich, sie ist abgeschlossen. Sie drückt auf den Knopf der elektrischen Klingel. Geht langsam zu der Tür rechts. Sagt etwas, leisey nachdem sie die Tür geöffnet hat. Kommt zurück. Was bedeuten diese Scherze, wollen Sie mir das endlich erklären?

DUNAEV Gut, Aleksandra Apollonovna, wenn Sie es unbedingt wollen, werde ich offen sein. Ich hatte gedacht, es sei besser, wenn wir uns heute nicht mehr begegnen. Apollon Maksimo-vič wird Ihnen erklären, daß Ihre Lage heute eine andere ist, das heißt, in Hinsicht auf Ihr Vermögen... das heißt... daß Ihre Mittel heute nicht mehr die sind... das heißt, ich kann nicht sagen, der Ruin...

ALEKSANDRA Das heißt, das heißt! Was zögern Sie es hinaus? Sagen Sie doch gleich, daß Ihnen mein Geld zu wenig ist...

DUNAEV Nein, das meine ich nicht. Aber meine Mittel sind derart begrenzt, ich kann Ihnen nicht bieten, was Sie gewöhnt sind, und ich habe gedacht, daß Sie, wenn Sie den wahren Stand der Dinge erfahren, von selber zurücktreten würden...

ALEKSANDRA Von der Ehre, Ihre Frau zu werden?

DUNAEV Glauben Sie mir...

ALEKSANDRA Genug. Ich habe verstanden. Sie sind frei. Gehen Sie.

DUNAEV Glauben Sie mir Aleksandra Trofimovna...

ALEKSANDRA Wie bitte?

DUNAEV Entschuldigung, das war ein Versehen.

Lieben 201

ALEKSANDRA Sie wollen sagen, Sie sind schon im Begriff zu vergessen, wie ich heiße? Komisch! Er denkt sich einen neuen Namen für mich aus, - Trofimovnal .

DUNAEV Pardon, ich dachte... mir war, als hätte ich gehört... Apollon Maksimovič hat gesagt...

ALEKSANDRA Sie dachten, Ihnen war, als hätten Sie gehört, jemand hat Ihnen gesagt, - und ich verstehe überhaupt nichts mehr.

DUNAEV Aber ich dachte, Sie wüßten es. Pardon, ich habe da etwas durcheinandergebracht.

ALEKSANDRA Sie haben mich mit einer Trofimovna verwechselt? Ist das ihre neue Braut? Ja? Leben Sie wohl.

Sie geht schnell zur Tür rechts. Dunaev geht unschlüssig auf und ab, - dann still und leise, verstohlen zur Ausgangstür und verschwindet.

ALEKSANDRA kommt zurück Er ist weg...

Sie steht schweigend am Fenster. Reatov tritt auf.

REATOV Ist er weg? Aleksandra, was hast du für kalte Hände?

Laß dich umarmen. Sag mir, was dich bedrückt... ALEKSANDRA Der erbärmliche Kerl... ist weg... Er hat mich

Trofimovna genannt... REATOV Tut es dir leid um ihn? ALEKSANDRA Um meine Liebe tut es mir leid! So einen zu

lieben! Eine Schande! REATOV Verzeih mir, Kind, was ich getan habe. Ich habe ihn

gezwungen, die Maske fallen zu lassen, - um deine Illusionen

zu zerstören. Ich kenne dich: du hast ein stolzes Herz, du

würdest dich eher für Todesqualen entscheiden als für die süße

Lüge. ALEKSANDRA Ja, ich danke dir... Aber es ist grausam, was du

getan hast.

REATOV Nur ein grausamer Wille bringt Freiheit. ALEKSANDRA Was hast du zu ihm gesagt?

2O2 Fedor Sologub

REATOV Nicht viel. Ich habe ihm gesagt, wir seien ruiniert, du würdest nichts erben, weil du unsere Adoptivtochter bist, ein Bauernmädchen.

ALEKSANDRA Ist das wahr?

REATOV Wir sind reich. Das wird er bald erfahren und zu dir zurückkehren.

ALEKSANDRA Aber ich nicht zu ihm. Und warum hast du ihm das gesagt?

REATOV Um ihm ein für alle Male die Maske vom Gesicht zu reißen. Ich will nicht, daß er dich bekommt, weil ich dich liebe, ich bin es, der dich liebt, und ich liebe dich nicht wie eine Tochter, sondern ich liebe dich mit der lodernden unbesiegbaren Liebe. Schau mich nicht so entsetzt an aus deinen blitzenden Augen. Die Liebe ist keine Sünde, die Liebe ist ein Naturgesetz. Nicht wir haben sie in uns entfacht, - ein unabwendbarer Wille hat sie uns eingegeben, - und wir müssen glücklich werden, koste dieses Glück auch das ganze Leben. Wir, du und ich, fahren weit weg, in fremde Gegenden, wo uns niemand kennt, - und werden das stürmische und heiße Glück erleben, Schwester meiner Seele, du überhebliche und schüchterne... Wer will uns unser Glück nehmen, ehe wir nicht selbst, seiner überdrüssig, es von uns werfen, zusammen mit dem nutzlosen Leben?

ALEKSANDRA Es ist schrecklich, was du sagst. Das ist Sünde.

REATOV Die Liebe ist keine Sünde.

ALEKSANDRA Du hast ihm gesagt, ich wäre ein Adoptivkind, ich wäre nicht deine Tochter. Ist das vielleicht wahr? Sag mir, bin ich deine Tochter oder nicht?

Reatov schweigt.

ALEKSANDRA Wenn ich nicht deine Tochter wäre!

REATOV Gut, Aleksandra, ich werde dir die Wahrheit sagen,

aber beantworte mir vorher zwei Fragen. Versprich, daß du

mir die Wahrheit sagen wirst. ALEKSANDRA Ja, ich werde dir die Wahrheit sagen. REATOV So schwer sie auch fällt?

Lieben 203

ALEKSANDRA So schwer sie mir auch fällt, ich werde dir die Wahrheit sagen. Ich sage die Wahrheit auch dann, wenn ich diese Wahrheit selbst noch gar nicht wissen kann. Ich werde mein Herz entblößen und aus seinem tiefsten Grunde die Wahrheit emporholen. Und dann wirst du mir sagen, ob ich deine Tochter bin oder nicht.

REATOV Ja. Sage mir: ob ich dein Vater bin oder nicht, - das wirst du mit Sicherheit sofort erfahren, - aber im einen oder im anderen Falle - wird dein Gefühl mir gegenüber das gleiche bleiben ? Wird dein Herz nicht verbrennen wegen eines Wortes, das, im übrigen, ein Wort über die Vergangenheit ist, die ferne Vergangenheit?

ALEKSANDRA Meinem Herzen ist gleichgültig, ob du mein Vater bist oder nicht.

REATOV Jetzt sag mir: liebst du mich? Willst du die Meine werden? Du wirst blaß und schweigst, - aber du hast mir versprochen, die Wahrheit zu sagen. Ich warte... Welch langes Schweigen! Ja, antworte nicht zu schnell, prüfe dein Herz, - du wirst die Wahrheit sagen.

Langes Schweigen. Aleksanära gebt einige Schritte von ihm weg. Steht. Kommt zurück.

REATOV Welches Geheimnis bringst du mir? Du hast Angst, es

zu sagen. Sage mir nur ein Wort: wenn du mich liebst, wenn

du mir gehören willst, dann sag mir: ja. Wenn nicht, sag:

nein.

ALEKSANDRA schnell Ja. REATOV Ich habe mein Ziel erreicht. Aber wie schwer es war!

Fast freut es mich nicht mehr. Ja, jetzt ist die Reihe an mir, das

letzte, schicksalhafte Wort zu sagen. ALEKSANDRA Sag, bin ich deine Tochter oder nicht? REATOV Ich liebe dich.

ALEKSANDRA Bin ich nicht deine Tochter? Ja? Ich bin es nicht? REATOV Nein, du bist nicht meine Tochter. Ich habe ihm die

Wahrheit gesagt, die noch niemand kennt. Und wenn man sie

erfährt, wird niemand sie glauben.

204 Fedor Sologub

ALEKSANDRA Mein Geliebter! Was kümmern mich die bösen, verlogenen Leute, die die Wahrheit nicht glauben. Wir wissen sie, - wir sind glücklich.

REATOV Du bist meine Tochter!

ALEKSANDRA Also doch!... Dann verbrennen wir die abgenutzten Wörter, die uns bisher getrennt haben. Ich will es ...

j

Velimir Chlebnikov Frau Lenine

Handelnde Personen:

STIMME DES GESICHTS. STIMME DES GEHÖRS. STIMME DES VERSTANDES. STIMME DER AUFMERKSAMKEIT. STIMME DER ERINNERUNG. STIMME DER ANGST. STIMME DER TASTSINNE. STIMME DES WILLENS.

Zeit der Handlung: 2 Tage aus dem Leben der Frau Lenine, zwischen ihnen liegt eine Woche.

Dämmerung. Die Handlung verläuft vor einer nackten Wand.

ERSTER AKT

STIMME DES GESICHTS Eben erst hat der Regen aufgehört, an den geduckten Enden des dunkel gewordenen Gartens hängen Regentropfen.

STIMME DES GEHÖRS Still. Ich höre jemanden die Zauntür öffnen. Jemand kommt die Gartenwege entlang.

STIMME DES VERSTANDES Wohin geht er?

STIMME DER ÜBERLEGUNG Hier kann man nur in einer Richtung gehen.

STIMME DES GESICHTS Die Vögel sind vor jemandem erschrok-ken, sie sind aufgeflogen.

STIMME DER ÜBERLEGUNG Vor dem, der die Zauntür aufgemacht hat.

STIMME DES GEHÖRS Die Luft ist erfüllt von erschrockenem Pfeifen, laute Schritte erschallen.

206 Velimir Chlebnikov

STIMME DES GESICHTS Ja, er nähert sich in seinem langsamen Gang.

STIMME DER ERINNERUNG Der Arzt Loos. Er war damals hier, vor gar nicht allzu langer Zeit.

STIMME DES GESICHTS Er ist ganz in Schwarz. Den Hut tief in seine blauen lachenden Augen gezogen. Heute wie immer schon erheben sich seine roten Schnurrbartenden zu den Augen, und sein Gesicht ist rot und selbstbewußt. Er lächelt, es ist, als ob die Lippen irgend etwas sagten.

STIMME DES GEHÖRS Er sagt: »Guten Tag, Frau Lenine!« Und dann: »Finden Sie nicht, daß heute sehr schönes Wetter ist?«

STIMME DES GESICHTS Seine Lippen lächeln selbstbewußt. Auf seinem Gesicht liegt die Erwartung einer Antwort. Sein Gesicht nimmt eine strenge Miene an. Sein Gesicht und der Mund nehmen einen lachenden Ausdruck an.

STIMME DES VERSTANDES Es erweckt den Anschein, als entschuldige es mein Schweigen. Aber ich werde ihm nicht antworten.

STIMME DES GESICHTS Seine Lippen nehmen einen schmeichelnden Ausdruck an.

STIMME DES GEHÖRS Er fragt nochmals: »Wie steht es mit ihrer Gesundheit?«

STIMME DES VERSTANDES Antwort: »Ausgezeichnet.«

STIMME DES GESICHTS Seine Augenbrauen haben sich fröhlich bewegt. Die Stirn ist gerunzelt.

STIMME DES GEHÖRS Er sagt: »Ich hoffe...«

STIMME DES VERSTANDES Hör nicht hin, was er sagt. Er wird sich bald verabschieden. Er wird gleich gehen.

STIMME DES GEHÖRS Er sagt immer noch etwas.

STIMME DES GESICHTS Seine Lippen hören nicht auf, sich zu bewegen. Er schaut weich, bittend und höflich.

STIMME DER VERMUTUNG Er spricht von etwas Notwendigem.

STIMME DES VERSTANDES Laß ihn doch. Er bekommt keine Antwort.

STIMME DES WILLENS Er bekommt keine Antwort.

STIMME DES GESICHTS Er ist verwundert. Er macht eine Handbewegung. Eine mutlose Bewegung.

J

Frau Lenine

207

STIMME DES VERSTANDES Ich muß ihm unbedingt die Hand geben, eine unerträgliche Zeremonie.

STIMME DES GESICHTS Seine schwarze Melone schwimmt durch die Luft, sie hat sich erhoben und sich wieder auf seine roten Locken herabgesenkt. Er hat die schwarzen geraden Schultern abgewandt, auf ihnen hat die Bürste weiße Stäubchen zurückgelassen. Er entfernt sich.

STIMME DER FREUDE Endlich!

STIMME DES GESICHTS Er ist im Dunkeln, hinter den Bäumen verschwunden.

STIMME DES GEHÖRS Ich höre Schritte am Ende des Gartens.

STIMME DES VERSTANDES Der kommt nicht wieder.

STIMME DES GEHÖRS Das Gartentor hat geklappt.

STIMME DES VERSTANDES Die Bank ist naß, kalt, und alles ist still nach dem Regen. Der Mensch ist gegangen, und endlich wieder Leben.

STIMME DES GESICHTS Ein verregneter Garten. Irgend jemand hat hier einen Kreis gezeichnet. Fußspuren. Feuchte Erde, nasses Laub.

STIMME DER VERNUNFT Hier wird gelitten. Das Böse ist da, aber niemand kämpft dagegen an.

STIMME DES BEWUSSTSEINS Das Denken wird siegen. Du, Einsamkeit, Gefährtin des Denkens. Man muß die Menschen meiden.

STIMME DES GESICHTS Herbeigeflogene Tauben. Weggeflogene Tauben.

STIMME DES GEHÖRS Die Tür hat sich wieder geöffnet.

STIMME DES WILLENS Ich schweige, ich meide die ändern.

ZWEITER AKT

STIMME DES BEWUSSTSEINS Meine Arme haben sich bewegt, meine Finger treffen auf einen kalten Hemdknoten. Meine Arme sind in Gefangenschaft, meine Füße sind nackt, ich spüre die Kälte des Steinfußbodens.

STIMME DES GEHÖRS Still. Ich bin hier.

r

208 Velimir Chlebnikov

STIMME DES GESICHTS Blaue und rote Kreise. Sie kreisen, wandern von Stelle zu Stelle. Dunkelheit. Kerzenleuehter.

STIMME DES GEHÖRS Schon wieder Schritte. Einer, zwei. Sie sind laut, weil es ringsumher so still ist.

STIMME DER ANGST Wer ist da?

STIMME DER AUFMERKSAMKEIT Sie waren dorthin gegangen. Sie haben die Richtung geändert. Sie kommen.

STIMME DES VERSTANDES Sie kommen hierher, direkt auf mich zu. Sie kommen zu mir.

STIMME DES GEHÖRS Sie halten inne. Alles ist still.

STIMME DES ENTSETZENS Gleich geht die Tür auf.

STIMME DES GEHÖRS Der Schlüssel klappert.

STIMME DER ANGST Der Schlüssel dreht sich im Schloß.

STIMME DES VERSTANDES Das sind sie.

STIMME DES BEWUSSTSEINS Ich habe Angst.

STIMME DES WILLENS Aber ich werde das Wort trotzdem nicht sagen. Nein.

STIMME DES GESICHTS Die Tür steht sperrangelweit offen.

STIMME DES GEHÖRS Das sind ihre Worte: »Gnädige kranke Frau, seien Sie so gut und kommen Sie herüber, der Herr Arzt hat es befohlen.«

STIMME DES WILLENS Nein.

STIMME DES BEWUSSTSEINS Ich werde schweigen.

STIMME DES GESICHTS Sie haben mich umzingelt.

STIMME DES TASTSINNS Eine Hand hat meine Schulter gestreift.

STIMME DER ERINNERUNG ... meine ehemals weiße.

STIMME DES TASTSINNS Meine Haare den Fußboden.

STIMME DER ERINNERUNG ... die schwarzen und langen.

STIMME DES GEHÖRS Sie sagen: »Haltet sie am Kopf, nimm sie an den Schultern! Hast du sie? Gehn wir!«

STIMME DES BEWUSSTSEINS Sie tragen mich fort. Alles ist verloren. Das Böse der Welt.

STIMME DES GEHÖRS Eine Stimme: »Ist die Kranke immer noch nicht überführt?« - »Nein, keineswegs.«

STIMME DES BEWUSSTSEINS Alles ist gestorben. Alles stirbt.

Velimir Chlebnikov Weltvomendeher

POLJA Denk dir nur: mich, einen Mann von nunmehr 70 Jahren, wollen sie hinlegen, einpacken und verschnüren, mit Mottenpulver bestreuen. Bin ich etwa eine Puppe?

OLJA Gott steh dir bei! Wieso denn Puppe!

POLJA Die Pferde in schwarzen Laken, mit traurigen Augen, hängenden Ohren. Der Wagen, ganz in Weiß, setzt sich langsam in Bewegung, und ich in ihm wie ein Gemüse: soll still liegen und schweigen, mir meine Bekannten anschauen und zählen, wie oft die lieben Verwandten gähnen, auf dem Kopfkissen Vergißmeinnichtsträuße aus Ton, Passanten laufen hin und her. Natürlich bin ich aufgesprungen, - Gott hab sie alle selig! � habe mir eine Droschke genommen und bin hierhergeflogen, ohne Hut und Mantel, und sie: »haltet ihn! haltet ihn!«

OLJA Und bist ihnen auf- und davongefahren ? Nein, sieh doch nur, was du für ein Prachtkerl bist! Ein Adler, wirklich ein Adler!

POLJA Nein, du mußt mich zur Ruhe bringen, versteck mich hier in dem Schrank. Die Kleider hier, wir nehmen sie heraus, warum sollen sie hier hängen? Den hier habe ich getragen, als ich - noch unter Egor Egorovič - hm! hm! Gott schenke ihm das Himmelreich - zum Staatsrat befördert wurde, ihn trug ich, als ich der Obrigkeit vorgestellt wurde, da ist auch noch die Stelle, wo der Stern das Tuch zerdrückt hat, ein gutes Tuch, so etwas bekommt man heute nicht mehr, und da ist auch die Stelle, die der Säbel des Zivilbeamten hinterlassen hat, ein wunderbarer Mensch damals der Schneider in der Morska-ja, ein wunderbarer Schneider. Oh, eine Motte! Da sitzt sie, fang sie! Sie machen auf sie Jagd, hüpfend und in die Hände

Velimir Chlebnikov

klatschend. So ein freches Tier! Sie setzen beide die Jagd fort, fangen sie. Er sagte immer: »Hierhin nähe ich Ihnen das Portemonnaie aus dem stärksten Leinen, das wird nie reißen, und mir machen Sie meines so voll, gebs Gott, daß es reißt!« Eine Motte! Und das ist der Hochzeitsschmuck, Liebste, weißt du noch, Kreuzeserhöhung? Also, da streuen wir überall Machorka drauf und das Dreckzeug, das so stinkt, daß man weinen möchte, und legen es in die Truhe, weißt du, schließen sie fest zu und hängen ein gutes Schloß davor, ein großes; und hier hinein, weißt du, ein paar Kissen, nimmt Federkissen - weißt du, ich bin sehr müde, - damit ich hier schlafen kann, mein Herz ist irgendwie bedrückt, weißt du, dauernd kommen so Katzen und bohren mir ihre Krallen ins Herz, du weißt schon, all diese Unannehmlichkeiten: der Wagen, die Blumen, Verwandten, der Chor - du weißt, wie schwer das ist! Er flennt. Also wenn sie kommen, sag: er war nicht hier, eine Krähe hat seine Knochen auch nicht gebracht, und er hätte auch gar nicht kommen können, denn der Arzt hat gesagt, er sei gestorben, und diesen Zettel halt ihnen unter die Nase und sag, sie hätten ihn schon zum Friedhof gefahren, die Verfluchten, und daß du damit nichts zu tun hättest und selber froh wärst, daß sie ihn weggebracht haben, das Papier hier ist die Hauptsache, weißt du, wenn sie das sehen, gehen sie von allein, während ich... hier - er lächelt - erst mal ein Nickerchen mache.

OLJA Mein Liebster, ganz verweint sind deine Äugelchen, sie haben dich beleidigt, komm, ich trockne dir die Tränen mit diesem Tüchlein! Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und wischt ihm die Tränen ab. Komm zur Ruhe, Liebster. Komm zur Ruhe, es lohnt doch nicht, sich über sie aufzuregen, die Verfluchten, lächle doch, lächle! Komm, ich schenke dir ein Schnäpschen ein: das trinkst du, es hilft, hier sind Pfefferminzhütchen, und nimm die Kerze in dem schwarzen Halter, er ist schwerer.

Es klingelt.

Weltvomendeher

pOLJA Und schütte Mottenpulver in die Truhe. Er hüpft, den Kerzenhalter in der Hand, in den Schrank. Sie schließt mit Siegermiene hinter ihm ab, blickt sich um und geht, die Arme in die Hüften gestemmt, in den Flur.

STIMME IM FLUR Guten Morgen! Hm-m ä-äh! Aber... Niemand ... ä-äh?

OLJA Gott schenke ihm das Himmelreich! Ja... schnief, schnief... Sie weint. Sie haben ihn weggebracht, versteckt. Sie haben ihn weggebracht, und er, der Gute - ist doch noch am Leben!

STIMME AUS DEM FLUR Wa-as? Ä-äh! - ist nicht bei Trost, die Alte, ist total übergeschnappt! Wie? - ein Wunder, äh, das ist ein Fall, kann man wohl sagen!

OLJA Er ist tot, lieber Herr, gestorben, vor einer halben Stunde erst, nun, was soll ich alte Frau schwören, mit beiden Beinen schon im Grab... Er ist gestorben, Ehrenwort, aber Sie haben es vielleicht eilig, ja? Sonst setzen Sie sich, ruhen Sie sich aus, wenn Sie müde sind, ich gehe nur rasch eine Kerze aufstellen, Sie wissen ja, das ist Sitte, ruhen Sie sich aus, setzen Sie sich in den Salon, rauchen Sie, aber den Schlüssel gebe ich nicht her, nicht für tausend Tode: Sie können mich erstechen, zerschneiden, mich vierteilen lassen von Pferdeschwänzen, nur: den Schlüssel gebe ich nicht her, das ist, was ich zu sagen habe. Setzen Sie sich in den Salon, nur keine Angst...

ER Hm...

OLJA Haben Sie es nicht eilig, wo wollen Sie denn hin? Er ist weg... Ein merkwürdiger Fall, sagt er. Sie klopft mit dem Schlüsselan den Schrank. Er ist weg, der verfluchte Schnüffler, ich hab es so und so versucht...

POLJA Was ist? Ist er weg?

OLJA Ja, Liebster.

POLJA Na Gott sei Dank! Und Dank auch ihm, daß er weg ist. Und ich sitze hier und denke: wo und wie wird das enden, und es wendet sich alles zum Besten.

OLJA Ich sage zu ihm: »Haben Sie es nicht eilig, vielleicht, wo wollen Sie denn hin?« Aber er kapiert nichts, Gott vergib mir! Aber komm jetzt raus, Liebster. Da klingelt es schon wieder!

Velimir Chlebnikov

Ich werde gar nicht aufmachen: ich sage einfach - ich bin auf den Tod krank! Wer ist da? Undeutliche Antwort. Ich bin krank, mein Herr, ich bin krank.

STIMME DES UNBEKANNTEN Ich bin Arzt.

OLIJA Und ich, mein Herr, habe die Krankheit, daß mir, wenn ich einen Arzt sehe, der Besen in die Hand springt, der Feuerhaken, die Wasserkaraffe oder noch etwas Schlimmeres.

STIMMEN HINTER DER TÜR

- Was?

- Offensichtlich! Was tun?

- Gott mit ihr! Was geht das uns an?

- Soll sie auf dem Besenstiel reiten?

OLJA Sie sind weg, mein Kühner, sie sind weg.

POLJA Ich bin ein wenig taub...

OLJA Ich habe ihnen mit dem Besen, wer geht da nicht weg? Sie schließt die Tür auf, deckt den Tisch. Laß uns aufs Land fahren... das ist alles nicht schön: Trauerchor, fremde Menschen, Pferde mit Hüten.

Ein altes Landgut. Hundert jähre alte Eichen, Birken, ein Teich. Truthühner, Hühner. Sie kommen als Paar.

POLJA Wie schön, daß wir gefahren sind! Was hätten wir nicht alles erleben müssen: sich im eigenen Hause verstecken... Hör zu, du färbst dir doch nicht die Haare?

OLJA Wieso? Und du?

POLJA Ich - nein, aber ich erinnere mich, sie waren weiß, und jetzt sind sie auf einmal richtig schwarz.

OLJA Stimmt aufs Haar. Du hast einen schwarzen Schnurrbart, du bist wie gerade 40, und deine Wangen wie im Märchen: Milch und Blut. Und die Augen - deine Augen sind das reine Feuer, wirklich! Ein Bild von einem schönen Mann, wie die Großväter in ihren alten Liedern sagten! Was ist das für eine Geschichte?

Weltvomendeher

POLJA Siehst du, a propos, unser Nachbar ist gekommen und unterhält sich mit Nadja über die natürliche Auslese. Sei auf der Hut, daß da nichts passiert.

OLJA Ja, ja, ich habe es auch bemerkt. Und Pavlik stiehlt dem lieben Gott den Tag, es ist Zeit, daß er studiert.

POLJA Er muß unter Gleichaltrige: soll er sich die Hörner abstoßen und trocken werden hinter den Ohren. Da sei Gott vor, daß aus ihm ein Muttersöhnchen wird.

OLJA Also ich bitte dich! Erinnere dich an die Flucht ohne Hut, die Droschke, die Freunde, Verwandten... damals ist er erwachsen geworden... und der Pferdebusch wehte über dem ehernen Helm, und finstere Augen blickten aus dem düsteren Gesicht des Kriegers, bekümmert den Liebsten funkelnd, und jetzt hat er schwarzen Flaum auf der Lippe, der eben erst durchdringt, wie Salz durch den Lehm, - ein gefährliches Alter: einmal nicht aufgepaßt - und schon ist es zu Ende!

Petja kommt, ein Gewehr und eine Krähe in Händen.

PETJA Ich habe eine Krähe geschossen.

OLJA Wozu? Wozu? Für wen war das nötig?

PETJA Sie hat über mir gekrächzt.

OLJA Du wirst heute allein zu Mittag essen. Merke dir: wenn du

eine Krähe getötet hast, so hast du etwas in dir selbst getötet. PETJA Ich habe keinen Hunger: ich habe bei Maša Sahne

getrunken.

OLJA Bei Maša?... Morgen verläßt du das Haus! POLJA Jawohl, mein Herr, und zwar früh, sehr früh! PETJA Und einen Bissen Schwarzbrot hat sie mir gebracht. POLJA Er muß jetzt in den Dienst! PETJA An wem, wozu? Den Dienst an mir - in Ordnung, und

auch an denen, die ich liebe. POLJA Sehr angenehm zu hören! Ah, die Entstehung der Arten!

Herzlich willkommen! Ninusa, Ivan Semenovič ist da! Nicht

wahr, es stimmt doch, den Affen fehlt da so ein Knochen? Wir

sind keine Gelehrten, aber das Alter liebt die Weisheit der

Belesenen.

214 Velimir Chlebnikov

OLJA Sie sind irgendwo hingegangen.

POLJA Ich glaube, in die Laube. Die Laube klingt nach Haube!

OLJA Die Laube, hm, - es wird Zeit, es wird Zeit!

Die strahlende Ninusa kommt.

NlNUŠA Er, er! Beantwortet die stumme Frage selbst. Ja, ja!

NlNA Er fing mit Darwin an, und hörte so unschuldig auf: »Am Himmel hoch die Sonne steht, und dann - habe die Ehre, wenn es geht«... und war plötzlich ein ganz anderer und küßte mir schleimig die Hand.

POLJA Ich freue mich, freue mich sehr, sei fröhlich, munter und gesund, sei klug, sei schön und grausam.

NlNA Ich wußte es schon damals, als wir im Garten saßen auf der Bank, in deren grüne Farbe unser Name eingeritzt stand, und wir gemeinsam folgten der Sternschnuppen herrlichem Schwärm - die Schwalbe sang in der Ferne, verstummt der irdische Harm - und wir, wir hatten uns gerne.

POLJA Vor langem wir, jetzt sie, dann ihr - so ändert sich alles.

NlNA Aber sieh doch, er steht unter dem Baum, ich werde ihm sagen: »Ich will die deine werden.« Einverstanden? Sie faßt ihn bei der Hand.

POLJA M-m-m.

Boot, Fluß. Er ist Freiwilliger.

POLJA Wir sind nur die zärtlichen Freunde und schüchternen Sucher nach einem Nachbarn für uns selbst, und Perlenfischer im Meer des Blickes, wir sind zärtlich, und das Boot schwimmt dahin, Schatten werfend in die Strömung; wir, über den Rand gebeugt, sehen unsere Gesichter in den fröhlichen Wassern des Flusses, im Netz der Fluten gefangen, aus fernen Himmeln gefallen; und der Mittag flüstert uns zu: »Oh, Kinder!« Wir, wir - sind die Frische der Mitternacht.

Weltvomendeher

2I5

Mit einem Bündel von Büchern geht Olja vorbei, ihr begegnet Polja. Er steigt eine Treppe hinauf und spricht ein Gebet.

OLJA Griechisch? POLJA Der Grieche. OLJA Wir haben Russisch.

Einige Stunden später begegnen sie sich wieder.

OLJA Wieviel?

POLJA Pfahl, aber ich habe, wie Mucius und Scevola, das Meer der Vieren durchschifft und mich, wie Manlius, den Pfählen geopfert, indem ich sie auf meine Brust gerichtet.

Olja und Polja mit Luftballons in den Händen, fahren, schweigsam und ernst, in Kinderwägen vorüber.

j

Vlaäimir Majakovskij Vladimir Majakovskij Tragödie

Personen:

VLADIMIR VLADIMIROVIČ MAJAKOVSKIJ,

Poet 20-25 Jahre

SEINE BEKANNTE VON ZWEIBISDREI KLAFTERN, redet nicht KATZENMANN EINAUGENBEIN EINOHR

MANNOHNEKOPF KLEINTRÄNE TRÄNENFRAU GROSSTRÄNE MANNMITZWEIKÜSSEN LANGGESICHT

GEWÖHNLICHERJUNGERMANN ZEITUNGSVERKÄUFER, KINDERKÜSSE u. a.

PROLOG

VLADIMIR MAJAKOVSKIJ Wie sollt ihr begreifen Warum der Ruhige sich Ein Gewitter aus Hohn meine Seele Präsentiere auf dem Tablett Die Mahlzeit der kommenden Jahre Von der Wange der Plätze Schlecht rasiert Ablaufend als nutzlose Träne Bin vielleicht ich Der letzte Poet

218 Vladimir Maj akovskij

Habt ihr gesehn

Mit schraffiertem Gesicht

Schaukelt die Trübsal am Strick

Im Takt der Betonalleen

Die Brücken nehmen das Genick

Der Ströme in ihren

Eisernen Würgegriff

Der Himmel heult

Rotz und Wasser

Eine Wolke

Schneidet Grimassen

Wie eine Schwangre

Von Gott beschert

Mit einem schiefen Idioten

Mit Wurstfingern rosa behaart

Hat wie ein Fliegenschwarm euch

Zärtlich die Sonne punktiert

Wachgeküßt in euren

Seelen ist der Sklave

Ich ohne Angst

Meinen Haß auf das tägliche Licht

Schleppe ich durch die Zeiten

Wie die Nerven des Telegrafendrahts

Gespannt meine Seele

Ich Zar der Glühbirnen

Kommt alle zu mir

Wer das Schweigen brach

Und gewürgt von den Schlingen

Der Mittage heult

Aufschlagen werde ich euch

Mit Worten einfach wie ein Gemuh

Unsre neuen Seelen

Surrend wie die Elektrizität

Ich brauche nur

An eure Schädel zu tippen

Und euch wachsen Lippen

Für Küsse und Zungen

Vladimir Majakovskij

219

Von allen Völkern geliebt

Aber ich hinkende Seele

Begebe mich auf meinen Thron

Unter der schäbigen Wölbung

Von Sternen gesiebt

Ich werde mich hinlegen leuchtend

In Kleidern aus Trägheit

Auf mein Lotterbett aus Stallmist

Und sanft

Und küssend das Knie der Eisenbahnschwelle

Umschmiegt meinen Hals das Lokomotivenrad

Vladimir Majakovskij

I

Fröhliche Szene Stadt im Spinnenstraßennetz Bettlerfeiertag V Majakovskij allein Vorübergehende bringen Essen Eisernen Hering von einem Ladenschild Goldene Riesenbrezel Falten von gelbem Samt

VLADIMIR MAJAKOVSKIJ Genossen Herrschaften Wer stopft mir die Seele Meine Leere tropft Wenn sie mich anspein wer Spuckt auf wen Ich stehe trocken Versteintes Idol Die Kuh ist gemolken Genossen Herrschaften Mit ihrer Erlaubnis Tanzt jetzt vor Ihnen

Auftritt Katzenmann Streichelt Ganz Bart Der bemerkenswerte Poet Kitzelt die Satten aus ihrer Verschalung Intoniert auf den Bäuchen euren Krawall Greift an den Beinen die Tauben und Blöden Macht ihre Ohren zu Blasinstrumenten Schlagt den Fässern der Bosheit die Böden aus Ich schlucke den heißen Stein der Gedanken Und heute zu eurem schreienden Trinkspruch Vermähle mich mit meinem Wahnsinn Szene füllt sich allmählich Einohr Mannohnekopf u a Stumpfsinnige Stehen ordentlich chaotisch Essen weiter Ich Zeilenschinder barfüßiger Juwelier Betten aufschlitzend in fremdem Quartier Lege das Feuer für den Weltfeiertag Der bunten Chlochards und der edlen Lumpen

Vladimir Majakovskij

KATZENMANN

Braucht der Weise die Kinderklapper

Ich tausendjähriger Greis

Ich weiß es du bist

Ans Kreuz des Gelächters geschlagen

Ein fünffach gefolterter Schrei

Ein Schmerz liegt riesig über der Stadt

Und zahllose hundert Wehwehchen

Und Kerzen und Lampen im Wettbewerb

Ersticken das Flüstern des Abendrots

Aber die weichen Monde haben

Keine Macht über uns

Den kälteren Chic

Hat der Glanz der Laternen

Aus dem Grund der Städte kriecht an die Macht

Uns auszurotten das tote Gewimmel der Dinge

Und vom Himmel herab

Auf das Heulen der menschlichen Horde

Glotzt ein Idiot

Rauft sich den lumpigen Bart

Vom Staub der Straßen zerfressen

Und schreit nach Vergeltung

Und in eurer Seele

Nimmt ein verblichener Seufzer Platz

Vergeßt ihn streichelt die Katzen

Prahlt mit euren weitläufigen Bäuchen

Blast eure schimmernden Backen auf

Nur mit den Katzen

Im rabenschwarz glänzenden Fell

Fangt ihr den Augenblick der Blitze

In das Muskeinetz der Energie

Springen werden die Straßenbahnen

Das Feuer der Lampen wird glühn in der Nacht

Wie siegreiche Banner

Die Welt wird erwachen

Mit Freude geschminkt

Die Blumen schlagen ein Pfauenrad

Vladimir Majakovskij

In allen Fenstern

Die Menschheit rollt auf den Schienen Gefolgt von dem schwarzen Geleitzug der Katzen Wir heften die Sonne Unsern Geliebten ans Kleid Aus den Sternen schmieden wir Silberne Broschen Heraus aus den Häusern Geht streichelt die Katzen Die dürren die schwarzen EINOHR

Das ist die Wahrheit

Über der Stadt

Im Reich der Wetterfahnen

Tanzt eine Frau

Schwarz ist die Welt ihrer Augenbrauen

Spuckt auf den Bürgersteig ihren Geifer

Und der Geifer schwillt zu riesigen Krüppeln

Rache kommt über die Stadt

Für die Schuld eines Jemand

Die Menschen gerinnen zur Herde und fliehn

Aber unten zwischen Tapeten

Im Schatten des Weins

Weint ein runzliger Greis

Auf das Piano

Wird umzingelt Redet weiter

Über der Stadt macht sich breit

Die Legende der Folter

Du schlägst einen Ton an

Deine Finger bluten

Der Pianist kann die Hand nicht befrein

Aus dem weißen Gebiß

Der tobenden Klaviatur

Szene in Aufruhr 'Weiter

Und heute seit früh

Hat in meine Seele sich

Vladimir Majakovskij

223

Der Machide-Tanz verbissen

Ich hopste herum meine Arme gespreizt

Überall auf den Dächern

Tanzten die Schornsteine mit

Und ihre Knie schrieben zweimal die 4

Genossen Herrschaften

Haltet die Luft an

Ist es die Möglichkeit

Selbst die Gassen krempeln die Ärmel auf

Zur Straßenschlacht

Doch meine Trübsal vermehrt sich

Ohne Sinn und Verstand

Wie auf der Hundenase eine Träne

Aufruhr steigert sich KATZENMANN

Da sehen Sie selbst

Die Dinge müssen zerschlagen werden

Immer habe ich den Feind gewittert

In ihren Vertraulichkeiten LANGGESICHT

Vielleicht muß man die Dinge lieben

Vielleicht hat das Ding eine andere Seele EINOHR

Viele Dinge sind linksgestrickt

Ihre Herzen kennen keinen Zorn

Taub sind sie für das Böse LANGGESICHT

Stimmt freudig ein

Und wo der Mund in den Menschen geschnitten ist

Haben viele Dinge ein Ohr VLADIMIR MAJAKOVSKIJ

Geht zur Mitte der Stadt

Schmiert nicht eure Herzen mit Bosheit

Euch meine Kinder lehre ich

Unbeugsam und streng ihr alle seid nur

Die Schellen an Niemands Narrenkappe

Ich mit geschwollenem Fuß

224 Vladimir Majakovskij

Habe durchquert euer Festland

Und andre irgend welche Länder

In Mantel und Maske der Finsternis

Ich habe sie gesucht

Sie die von niemand gefundene Seele

Um ihr Heilkraut zu pflanzen

In die Wunde der Münder

Pause

Und wieder

Ein Sklave

In blutigem Schweiß

Schaukle ich meinen Wahnsinn

a propos

Einmal habe ich sie gefunden die Seele

Sie kam heraus im blauen Morgenmantel

Nehmen Sie Platz Ich habe Sie lange erwartet Tee

Pause

Ich ein Poet

Habe den Unterschied aufgegeben

Zwischen Gesichtern mir nah und mir fremd

Im Eiter der Leichenschauhäuser

Habe ich meine Schwestern gesucht

Geküßt die Pockenkranken und heute

Im Brand der gelben Scheiterhaufen

Tiefer verbergend die Tränen der Meere

Will ich aufbahren die Schande der Schwestern

Und die Runzeln der schlohweißen Mütter

Dann von den Tellern der glatten Salons

Werden wir essen das Fleisch des Jahrhunderts

Reißt Hülle herunter Riesenfrau furchtsam daneben

Herbeirennt Gewöhnlich er jungermann

Hektisch Majakowski redet weiter

Damen und Herren

Man sagt

Irgendwo

In Brasilien wahrscheinlich

Lebt ein glücklicher Mensch

Vladimir Majakovskij

225

Gewöhnlich er jungermann rennt herum und packt jeden an den Kleidern

GEWÖHNLICHERJUNGERMANN

Damen und Herren

Warten Sie

Damen und Herren

Sir Sir

Sagen Sie schnell

Ist das der Platz wo man verbrennt

Die Mütter

Herrschaften Gentlemen Messieurs

Der Mensch hat Verstand

Aber vor den Mysterien der Welt

Versagt er

Euer Scheiterhaufen verbrennt

Die Schätze der Wissenschaft und der Bücher

Ich habe eine Maschine erfunden

Sie hackt Koteletts

Ich bin nicht der Dümmste

Ein Bekannter von mir

Arbeitet seit fünfundzwanzig Jahren

An einem Fangeisen für Flöhe

Ich habe eine Frau

Bald wird sie niederkommen

Mit einem Sohn oder mit einer Tochter

Und ihr redet von Monstern

Das ist die Intelligenz

Wirklich es ist eine Schande EINOHR

Junger Mann

Begeben Sie sich auf die Kiste STIMMEN

Auf das Faß EINOHR

Man sieht Sie nicht

226 Vladimir Majakovskij

GEWÖHNLICHERJUNGERMANN

Was gibts da zu lachen

Ich habe einen Bruder

So klein und ihr

Kommt und nagt an seinen Knochen

Wollt ihr euch alles einverleiben

Alarm Autohupe STIMMEN

Die Hosen Die Hosen VLADIMIR MAJAKOVSKIJ

Schluß damit

Umringen Gewöhnlichen jungenmann

von allen Seiten

Hätten Sie Hunger und Hunger wie ich

Sie kauten die Weiten des Ostens und Westens

Wie die geräucherte Fratze der Fabrik

Den Knochen des Firmaments benagt GEWÖHNLICHERJUNGERMANN

Was denn

Die Liebe ist ohne Bedeutung

Kein Blutvergießen liebe Leute

Auf die Knie

Kein Scheiterhaufen meine Lieben

Tumult steigert sich Schuß Stimmt langgezogenen Ton an Wasserrohr D ach eisen

LANGGESICHT

Hätten Sie geliebt wie ich

Töten würden Sie die Liebe

Oder auf einem hohen Schafott

Schänden den rauhen schweißtriefenden Himmel

Und die milchig unschuldigen Sterne EINOHR

Eure Frauen sind nicht begabt für die Liebe

Aufgequollen wie Schwämme von Küssen

Vladimir Majakovskij

Einfallen Tritte Tausender Füße auf den prallen Bauch des Platzes

LANGGESICHT

Aber aus meiner Seele kann man schneidern Kleider a la mode

Tumult platzt aus allen Nähten

Leute umringen die Riesenfrau Heben sie

auf die Schultern Schleppen sie zum Ausgang

Schreien

ALLE

Gehn wir dorthin wo gekreuzigt wurde

Wegen Heiligkeit ein Prophet

Dort ergeben wir unsere Körper

Einem nackten Tanz

Und auf dem schwarzen Granit

Der Sünde und des Lasters

Errichten wir ein Denkmal

Dem roten Fleisch

Schleppen sie bis zum Tor aber der Wahnsinn

ist gebrochen Schritte Einaugenbein im Blute

freudig Leute werfen Riesenfrau in die Ecke EINAUGENBEIN

Halt

Auf den Straßen

Wo jeder des ändern Gesicht trägt

Wie eine Last

Hat soeben die Alte die Zeit

Geworfen einen enormen

Schiefmäuligen Aufstand

Was für ein Gelächter

Was da herauskroch die Schnauzen der Jahre

Verschlugen die Sprache den Rentnern der Welt

Und auf den Stirnen der Städte

Schwoll die Wut an zum Stromnetz

228 Vladimir Majakovskij

Von Adern tausend Meilen lang

Langsam

Im Schrecken

Aufstanden die Zeiger der Haare

Am kahlen Scheitel der Zeit

Und im Nu

Setzten sich in Bewegung die Dinge zerrissen

Das Maul sich

Und warfen die Lumpen ihrer verschlissenen Namen ab

Die Fenster der Weinläden gössen auf eigene Faust

Wie auf Satans Kommando

Splitternd sich in die Flaschen ein

Dem erschrocknen Schneider liefen die Hosen weg

Und spazierten allein ohne menschliche Schenkel

Betrunken und aufreißend den schwarzen Rachen

Brach die Kommode aus dem Schlafzimmer hervor

Vorsichtig stiegen die Mieder hernieder

Von den Ladenschildern ROBEN UND MODEN

Die Galoschen bleiben streng und zugeknöpft

Mit den Augen flirten

Strümpfe wie Koketten

Ich flog wie ein Fluch

Mein zweites Bein ist noch hinter mir her

In der Nebenstraße

Wer schreit hier

Daß ich ein Krüppel bin

Ihr Feinde

Verfettet

Vertrottelt

Vergreist

In der ganzen Welt

Heute

Werdet ihr nicht einen Menschen finden

Der zwei identische Beine hat

Vorhang

Vladimir Majakovskij

229

II

Eintönig Platz in neuer Stadt Majakovskij jetzt in Toga Lorbeerkranz Einaugenbein beflissen Hinter Tür viele Füße

EINAUGENBEIN

Poet

Poet

Man hat Sie zum Fürsten ernannt

Ihre Schranzen

Stauen sich hinter der Tür

Lutschen am Daumen

Und vor jeder Schranze auf dem Boden steht

Ein drolliges Gefäß VLADIMIR MAJAKOVSKIJ

Von mir aus

Laßt sie herein

Schüchtern Frauen mit Bündeln Verneigen sich vielmals

KLEINTRÄNE

Hier meine Träne

Für Sie

Ich brauche sie nicht mehr

Bitte schön

Das ist sie

Weiß und am seidenen Faden

Aus Augen die ganz Trübsal sind VLADIMIR MAJAKOVSKIJ beunruhigt

Sie nützt nichts

Was soll das

2ur zweiten

Haben Sie auch geschwollene Augen TRÄNENFRAU leichthin

Larifari

230 Vladimir Majakovskij

Mein Sohn stirbt

Es macht nichts

Hier noch eine Träne

Eine hübsche Schnalle

Majakowski entsetzt GROSSTRÄNE

Tun Sie als ob Sie nicht merken

Daß ich ein Dreckhaufen bin

Ich werde mich waschen

Und beinahe sauber sein

Hier auch von mir eine Träne

Diesmal eine ganz enorme

Sie ist gratis VLADIMIR MAJAKOVSKIJ

Es reicht

Das ist ja schon ein Berg

Und die Zeit drängt

Wer ist der charmante Brünette ZEITUNGSVERKÄUFER im Gänsemarsch

FIGARO FIGARO GAZETTE ALLE

Seht euch den an

Ein Wilder

Machen Sie ein wenig Platz

Es ist finster

Lassen Sie mich durch

Junger Mann

Hören Sie auf zu rülpsen MANNOHNEKOPF

I i i i i i i i i i Aäääääääää MANNMITZWEIKÜSSEN

Die Wolken geben sich dem Himmel hin Sie sind alt und ausgelaugt Der Tag ist gestorben Auch die Mädchen der Luft Sind auf Gold scharf

Vladimir Majakovskij

VLADIMIR MAJAKOVSKIJ

Was MANNMITZWEIKÜSSEN

Geld wollen sie Geld STIMMEN

Leiser Leiser

Lochballtanz MANNMITZWEIKÜSSEN

Einem großen und schmutzigen Menschen

Hat man zwei Küsse geschenkt

Der Mensch war ungeschickt

Er wußte nichts damit anzufangen

Oder wohin damit

Die Stadt war in Feiertagslaune

Sang Halleluja in den Kirchen

Die Leute flanierten im Sonntagsstaat

Aber unser Mensch

Stand in der Kälte

Seine Schuhsohlen waren

Mit ovalen Löchern dekoriert

Er wählte den größeren Kuß

Und zog ihn an wie eine Galosche

Aber der Frost ließ sich nicht lumpen biß

In seine Finger

Wenn das so ist

Sagte wütend der Mensch

Werde ich diese nutzlosen Küsse wegwerfen

Und er warf sie weg

Aber plötzlich

Wuchsen Ohren einem der Küsse

Und er begann sich zu drehn und mit dünnem

Stimmchen

Rief MAMA

Da erschrak unser Mensch

Wickelte in die Lumpen seiner Seele

232 Vladimir Maj akovskij

Den kleinen zitternden Körper

Trug ihn nach Hause um ihn einzurahmen

Hell blau

Lange kramte er im Staub seines Koffers

Als er sich umsah lag der Kuß auf dem Diwan

Riesig feist und erwachsen

Lachte und tobte

Mein Gott weinte unser Mensch

Nie hätte ich gedacht daß ich so müde werden könnte

Man wird sich aufhängen müssen

Und als er da hing abscheulich und trist

Apportierten die Frauen

Fabriken ohne Schornstein und Rauch

Küsse am Fließband

Alle Sorten groß oder klein

Mit dem Fleischhebel der Lippen KINDERKÜSSE

Wir sind Massenware

Nehmt nehmt

Gleich kommt der erste Ausstoß

Jetzt sind wir acht

Ich bin Mit ja

Tränen vor dem Poet Majakovskij

Bitte schön VLADIMIR MAJAKOVSKIJ

Hören Sie Herrschaften

Ich kann nicht mehr

Ihr habt gut reden aber wer

Küßt mich DROHENDE STIMMEN

Reden Sie nur so weiter

Wir machen Sie zu Gulasch

Wie ein Kaninchen MANNMITGERUPFTER KATZE

Du allein kannst singen

Zeigt auf Tränenberg

Bring das deinem gut aussehenden Gott

Vladimir Majakovskij

VLADIMIR MAJAKOVSKIJ Laßt mich sitzen Auch gut Platz da

Ich dachte mein Los Wird die Freude sein Mit strahlenden Augen Mein Platz auf dem Thron Als feingliedriger Grieche Nein Niemals

Geliebte Straßen Werde ich vergessen Eure dürren Beine

Und das Grauhaar der nördlichen Flüsse Und heute werde ich die Stadt durchqueren Mit dem Skalp meiner Seele Dekorierend die Blitzableiter Locke um Locke Neben mir wird der Mond gehn Dorthin wo das Firmament Aus den Nähten platzt Im Gleichschritt und meinen Hut Aufsetzen einen Augenblick lang Ich mit meiner Last Gehe stolpre krieche Weiter in den Norden Wo im Schraubstock unendlicher Trauer Mit den Fingern der Wellen der fanatische Ozean Ewig seine Brust zerreißt Dahin werde ich mich schleppen Ausgepumpt Im letzten Fieber Werde ich eine Träne opfern Dem dunklen Gott der Stürme Für die Religion der Tiere

234 Vladimir Majakovskij

EPILOG

VLADIMIR MAJAKOVSKIJ Ich schrieb all das Über euch Arme Ratten

Ich habe keine Brüste sonst Hätte ich euch genährt Wie eine Amme Ich bin eine Wüste Ein seliger Leichnam Aber wer hat vor mir Den Menschen geschenkt Die Gedanken des Ozeans Ich wars der den Himmel ins Schwarze traf Mit dem Zeigefinger Schreiend Das ist der Dieb Manchmal kommt es mir vor Als war ich ein Hahn aus der Tief see Oder der Schneemensch von Pskow Aber manchmal gefällt mir am besten Im Osten und Westen Mein eigener Name VLADIMIR MAJAKOVSKIJ

Deutsche Fassung: Heiner Müller

Velimir Chlebnikov Der Fehler des Todes

Der dreizehnte Gast

Personen:

FRÄULEIN TOD 12 BESUCHER DER 13. BESUCHER

Ort der Handlung: das Wirtsbaus Zum Fröhlichen Leichnam mit dem Dudelsack zwischen den Zähnen

FRÄULEIN TOD Meine Freunde! Der Ball des Todes beginnt.

Fassen wir uns an den Händen und tanzen wir im Kreis. VORSÄNGER

Schelme schleichen schlau im Schal,

Der Frost knirscht unter allen,

Es biegt der Boden sich im Saal,

Es hüte, wer schleicht, seine Krallen.

Lassen wir wieder die Schädel klingen,

Fleischlose Masse der Trinker.

Wo sich wanden Garn und Winden

Zärtlich um Schläfe und Stirn,

Werden ab jetzt die Würmer singen

Lieder mit dünner Stimm.

Mein Schädel platze in der Naht

Wie eine Walnuß, ihm wird enge,

Wie eines Freundes Namens glas

Erhebe ihn der Leichen Menge.

Ob Leiche, ob lebendig - trink!

236 Velimir Chlebnikov

Es lebe, wer schwungvoll den Schädel schwingt!

Dem Schelm ist Spielzeug hier der Schädel,

Und mitten drin ein altes Mädel,

Mit Säuferfratze Herr des Frohseins

Fröstelt der Fürst des neuen Wohnheims!

Alles, Träne, Biene, Bein -

Alles Irdische wird »i-i-i«.

Aus dem Nicht-Sein

Unsrer Nicht-Eins

Wollen wir die Wurzel ziehn.

Das reicht. Er stoppt den Reigen. 12 GÄSTE Und was nun, Fräulein Tod? FRÄULEIN TOD

Bist du die Uhr? Wir sind die Uhr!

Wozu willst du schon taugen?

Stell die Schnurrbartspitzen auf

Und schließe für immer die Augen!

Dort, wo der Mond hängt überm Dach,

Stell den Zeiger des Herzens auf Mitternacht

Und sage ihm: bleib stehn!

Irdisches, du warst so schön.

Es kracht die Tür

Alt wie die Nacht,

Trink aus, verdirb

Und stirb

Stirb schnell und sacht.

Wie Nebelschwaden

die Träume von Tagen

Verscheuch

Und schweig,

Werd bleich.

Noch bleicher, dir schwindelt...

Beenden wir den Ball des Todes, meine Herren! Ich bin müde. Ich muß mich setzen.

Wir flogen viel,

Die Lungen voll,

Die Lüfte fahl,

Der Fehler des Todes 237

Am Leib den Schal,

Wie Vögel, in den Schnee gefallen,

Brach Lust und Lachen aus uns allen,

Hatten wir doch nicht vergessen,

Daß es Liebe gibt zum Essen.

Er, der Herr -

ist einer, der besser

jenseits der Grabeszauberwolke war.

Sie nimmt einen Strohhalm und trinkt Kirschsaft aus einem gläsernen Glas.

Die 12 Gäste tun das gleiche. Ein langer Tisch, weiß gedeckt. In den Gläsern etwas Rotes, Dunkles.

Das Gelage

FRÄULEIN TOD saugt rotes Zuckerwasser; in ihren Lippen golden, schmal der Strohhalm Ich hätte gern den Kopf von Oleg -so ein lieber, tapferer Junge. Sie trinkt und verfällt in Nachdenken. He, gebt mir Eis!

Einige Totenköpfe haben schwarze Lippen.

FRÄULEIN TOD gähnt He! Die Becher sind weiß! Zu Tisch, meine Herren, das Abendbrot! Sie steht langsam auf und geht zur Tür. Mir scheint, da draußen vor der Tür steht dieser Junge.

Sie zieht langsam die Hülle von ihrem Strohhalm. Und geht, ganz in Weiß, die Peitsche in der Hand, unter den Gästen auf und ab. Die Gäste haben Trinkschalen mit lehmgelben Augenbögen und grauen Jochbeinen in Händen. Es klopft an die Tür.

FRÄULEIN TOD

Wer da, wer da zu dieser Stunde? Wer drängt da noch in unsre Runde?

238 Velimir Chlebnikov

Freundchen, öffnen Sie die Tür, - Sie stehen am nächsten; und Sie reichen mir bitte meine Peitsche, - da ist sie.

Wer ist das, der im Wahnsinn rast,

Wer klopft an unser finstres Glas?

Hat ihn der Sturm getragen

An unser helles Fenster? STIMME He! Aufmachen! FRÄULEIN TOD

Schon wieder klopft er bei uns an, .

Schon kommt er hier herein J

Zu uns... drei, vier, fünf Mann...

Er ist der Dreizehnte - oh, nein!

Entweder sagt der Stumme: »Ich«,

Oder er sagt: »Ich kann es nicht«,

Er kommt herein, steht auf der Schwelle,

Stoß ihn zurück, Freund, schneller! DER NEUE GAST

Ha, Hökerweib des Todes!

Ich weiß von keiner Stadt Drei-Eichen,

Doch hier, hier seh ich viele Leichen.

Sie sind so lieb, sie sind so weich

In deinen Krallen, Gaunerweib.

Ihre Lippen schießen gleich,

Und die Gesichter - kreidebleich.

Sie schweigen, sie sind tot wie Feuer, das man in den Schnee wirft, und ihre Gesichter sind weiß wie die Kreideflecken an der Wand. Ja, das ist das Wirtshaus der toten Strolche. Hier bin ich also gelandet. Ich will alles essen, was diese Weißen, diese Kreidebleichen da an den Wänden gegessen haben. Einige bewegen sich noch: so sterben die Fliegen auf der Blume - träge und widerwillig. Hör zu! Er biegt seinen Säbel. Ich, der Dreizehnte, ich will Totenbier trinken! Mir gefällt dieser Wachtraum.

Der Schlaf senkt sich hernieder: die einen legen sich hin und flüstern »Njanja«y die anderen »Brüderlein« und brabbeln und murmeln vor sich hin.

Der Fehler des Todes

DREIZEHNTER GAST Hör zu! Ich will das Totenbier: Alle diese Weißen, diese Kreidebleichen an den Wänden haben sich daran betrunken. Sie verströmen ihre Kleider wie zerlaufene Kerzen, und alle haben eine Halbnuß in den Händen! He! Das ist ein Befehl!

FRÄULEIN TOD Zu Befehl, mein Herr; aber ich weiß nicht wie -es ist kein freies Glas mehr da.

DREIZEHNTER GAST Das ist nicht meine Sache. Ich habe befohlen, ich kaufe im Wirtshaus Zum Leichnam einen Schluck aus dem Becher des Todes.

FRÄULEIN TOD Quälgeist! Soll ich deinetwegen etwa auf den Markt gehen?

DREIZEHNTER GAST Von mir gibt es keine Schneeflocke Rat und Hilfe.

FRÄULEIN TOD Du bist ein sehr mißtrauischer Mensch, das bist du.

DREIZEHNTER GAST Ja. Oder du begibst dich des Rechts, Handel mit dem Tod zu treiben, für immer und überall.

FRÄULEIN TOD Und auch noch so streng. Sie wirft sich ein Tuch über. Es ist wirklich schlimm. Und, was schaust du so, Verfluchter? Im Wirtshaus Zum Leichnam darf man nicht aus fremden Gläsern trinken.

Unter den Toten eine gewisse Bewegung, bei einigen flackert hinter der Kreidemaske das Feuer des Lebens. Sie bewegen die Augenbrauen, die Mundwinkel.

FRÄULEIN TOD nimmt die Peitsche Zurück, Verfluchte! Zurück in den Tod! Sie knallt mit der Peitsche. Wem soll ich sie in der Zwischenzeit anvertrauen? Sitzt ruhig! Sitzenbleiben!

Sie geht hinaus.

Die Zwölf, die es sich an der Wand auf der Bank der Toten bequem gemacht hatten, leben auf; einige zünden Streichhölzer an: »Darf ich Ihnen Feuer geben.« - »Vielen Dank.« Andere räkeln sich genüßlich und gähnen: »Ob-oh-oh!«

240 Velimir Chlebnikov

FRÄULEIN TOD Die Nachbarin ist nicht zu Hause. Und hier tanzen die Mäuse auf dem Tisch. Scherst du dich da fort! Was willst du? Er bringt mich noch um.

DREIZEHNTER Ich habe keinen Funken Mitleid. Ich bin ganz aus Grausamkeit.

FRÄULEIN TOD läuft zwischen den Zwölfen hin und her und drückt sie auf die Bank zurück Sitzenbleiben, ihr Geier. Ich habe ganz den Kopf verloren.

DREIZEHNTER Und ich, der Dreizehnte, frage - war der Kopf leer?

FRÄULEIN TOD Leer wie ein Glas.

DREIZEHNTER Dann ist er das Glas für mich. Gib mir deinen Kopf.

FRÄULEIN TOD Ich weiß nicht, was ich tun soll; wenn etwas drin wäre, wüßte ich es.

DREIZEHNTER Abgemacht? Das ist der Preis der Dummheit des Todes.

FRÄULEIN TOD Abgemacht.

DREIZEHNTER Du hast einmal an der Wandtafel gestanden, kluge, elegant gekleidete Ärzte um dich herum, und durch deine Knochen lief Draht, der an den Händen, mit Spinnweben bedeckt, herauskam, und dein Kopf war mit lateinischen Aufschriften bedeckt. Nun?

FRÄULEIN TOD schlägt die Augen nieder Ja, wir waren drei an einer Kette.

DREIZEHNTER Schraub deinen Schädel ab, genug jetzt! Er ist der Becher für den dreizehnten Gast. Nimm du dafür mein Taschentuch. Es ist noch nicht sehr schmutzig und parfümiert. Er entfaltet es.

FRÄULEIN TOD Gebieter! Du bist noch schrecklicher als Razin. Schön. Aber laß mir den Unterkiefer. Was willst du mit dem? Sie reißt sich die Haare vom Kopf, schraubt den Schädel ab, gibt ihn ihm. Nichts für ungut, mein Lieber, sehr zum Wohle.

DREIZEHNTER Nichts für ungut, Liebste.

FRÄULEIN TOD Aber man sieht schlecht mit dem Taschentuch. Schenk dir selber ein. In dem schwarzen Fäßchen, in dem schwarzen ist das Wasser für dich. Hör zu! Daß du mich nicht

Der Fehler des Todes 241

betrügst! Wie die Frau, die im Kerker die Beine des Henkers umarmt, so umarme und küsse ich die deinen. Ich bin erblindet. Ich sehe nicht. Mein Schädel ist in deiner Hand, Gewaltiger.

DREIZEHNTER Zum ersten Mal im Leben rührt mich solch ehrliche Reue. Der Tod liegt mir zu Füßen.

ZWÖLF GÄSTE Du wirst sie nicht betrügen, sondern wir: wir, die Gefangenen an der Wand, in deren Augenhöhlen bald Würmerstaaten entstehen, wir beschwören dich: betrüge sie!

FRÄULEIN TOD Nie mehr werd ich weiße Mäuse sehen, nie mehr ein Gelage hier: wehe, ich bin blind, ich umarme Beine; du hast es gewollt, hast gedroht, hast den Totenkvas verlangt. Er ist in dem Fäßchen, meiner ist in dem blauen. Verwechsle sie nicht. Siehe, die Tochter der Gräber, gleich einem Bündel Birkenreisig, liegt dir zu Füßen, - ich flehe dich an, ich beschwöre dich. Bist du ein Pendel zwischen »Ja« und »Nein«, - dann habe ein Herz!

DREIZEHNTER Du wirst die Getränke selber einschenken.

FRÄULEIN TOD Aber wo ist mein Schädel? Wo meine Augen? Hör mich an, ich weiß, du hast gesiegt - sie sucht ihren Kopf. Was befiehlt mir jetzt mein Taschentuch zu tun? Nicht! Habe ich gesiegt oder sterbe ich? Sie springt auf. Lauter, mehr Pfiffe auf den Schienbeinen des Menschen! Lauter das Krachen der Wirbel! Schläge auf die Beckenknochen! Mehr Lautenklänge aus den Fingerknöcheln! Ihr flüstert, ihr Zwölf, ihr führt etwas im Schilde. Ich bin unter euch gewandelt mit der Peitsche. Reißt auch ihr mich jetzt nicht in Stücke! Fort! Sehen euch fort!

Schädel, schlagt die Laute! Knöchelchen, schlagt an die Balalajka!

Ich schenke ein: zwei Gläser- das des Lebens, das des Todes -und werde eine andere, geschmacklos, Tollkraut am Wegrand. Jetzt wähle.

DREIZEHNTER Wähle du.

FRÄULEIN TOD Ich bin blind.

DREIZEHNTER Deshalb sollst du wählen.

242 Velimir Chlebnikov

FRÄULEIN TOD Ich trinke - es schmeckt scheußlich. Ich falle ich zerfalle. Das war »Der Fehler des Todes«. Ich sterbe. Sie fällt in die Kissen.

Die Zwölf werden ruckartig lebendiger, je näher sie dem Ende kommt. Fröhliches Gelage der Befreiten.

FRÄULEIN TOD hebt den Kopf Gebt mir mal den »Fehler des Todes« - sie blättert ihn durch. Ich bin mit meinem Text zu Ende - springt auf- jetzt kann ich mit euch trinken. Sehr zum Wohle, meine Herren!

Velimir Chlebnikov Die Götter

Dorthin, dorthin,

Wo Isanagi

Perun Monogatori vorlas,

und Eros Schang-ti auf den Knien saß,

und der graue Schöpf auf der Glatze des Gottes

an Schnee erinnert;

wo Amor Maa Emu küßt,

wo Ti-en mit Indra plaudert;

wo Juno und Zintekuatl

Correggio betrachten

und Murillo begeisternd finden;

wo Unkulunkulu und Thor

in aller Ruhe Schach spielen,

den Kopf in die Hände gestützt,

und Astarthe von Hokkusai entzückt ist -

dorthin, dorthin!

Wo UNKULUNKULU ein Holzblock mit den Augen eines verwunderten Fisches ist. Von einem Messer zerstochen und ausgekratzt. Ein eckiger und grober Holzklotz, und die Ringe der ausgestochenen Augen.

Tl-EN: ein Greis mit kahlem Schädel, mit buschigen Strähnen über den Ohren, als versteckten sich zwei Hasen dahinter. Seine schmalen schrägen Augen - an den Schwänzen aufgehängte Vögel.

Und MA-A EMU - eine Meeresjungfrau mit dunklen Augen von der Farbe eines Abends am Meer, eine mächtige Göttin, Schrek-ken aller Fischer, einen jungen Meeres-Wels an die Brust drük-kend.

244

Velimir Chlebnikov

SCHANG-TI - ein Graubart, der sich ständig in seinem Barte verheddert oder über ihn stolpert.

INDRA - eine mächtige Jungfrau mit dem Morgenrot der Wolken in den Haaren. Sie trägt einen schwarzen Gürtel aus Waldblumen um den Körper.

Die Himmelsgroßmutter - JUNO - hat sich die Füße mit einer grauen Wolke zugedeckt, dem Rosenkranz der Morgenwonnen der Wolken.

THOR - ein Greis mit schneeweißem Bart, aus schwärmenden Bienen. Gletscherbienen sind die Locken seines Bartes, ein Bienenkorb sein Gesicht, zwei Fluglöcher seine Augen.

JUNO, angetan mit einer Hopfenrebe, beschabt mit einer Feile ihre schneeweißen Füße.

UNKULUNKULU lauscht dem Bohren eines Holzblocks, der seine Gänge durch den Klotz des hölzernen Gottes nagt. ZlNTEKUATL/isc&t nachdenklich eine Stechmückenlarve aus der Pfütze, die sich im Kopf der durchlöcherten Gottheit befindet. VENUS setzt einen frischen Flicken auf ihre steinweiße Schulter, nachdem sie ihre Zeit der Reparatur des weißen Steines der Liebe gewidmet hatte.

SCHANG-TI wischt sich eine Rußwolke vom Schädel. Wie Hasen hängen ihm zwei schneeweiße Haarbüsche über die Ohren. Tl-EN glättet mit einem Bügeleisen seine langen, wallenden, bis zum Boden reichenden Haare, die zu seiner Bekleidung geworden sind.

ASTARTE steht am Wasserfall und hält einen jungen Wels an die Brust gedrückt.

ISANAGI legt sich einen Kranz aus silbernen Fischen um die Schultern.

EROS

Juntschi, entschi, pipogaro! Schuri kiki: ssin ssonega, aps sabira miljutschi! Er setzt eine Wespe in die grauen, bis zum Boden reichenden Haare des Greises Schang-ti. Pjantsch, pjett, beck, piroisi! schaburi!

Die Götter 245

AMOR kommt mit einer Biene an einem Faden herbei, einem

grauen Haar ans der Bekleidung Schang-tis

SSinoana - zitziritz!

Und fliegt mit dem Bienchen davon, wie ein vornehmer Herr

mit seinem Rassehund.

Pitschiriki - tschiliki. Ems, ams, ums!

JUNO streicht mit einer gelben Wiesenblume über die schneeweißen Haare

Geli guga gramm ramm ram.

Muri-guri rikoko!

Ssippl, zeppl bass! EROS schlägt ihr mit einer langen Seggenähre auf die weiße

Schulter

Hahijuki! hihoro! echi, achi, chi!

Imtschiritschi tschull bul gull!

Muri mura murr! JUNO

Tschagesa!

Sie entfernt ihn wie eine müde Fliege. UNKULUNKULU

Tscheppr, meppr, tschoch!

Gigogage! grororo!

Von seinen Lippen fließt der wilde Honig, den er soeben

gegessen hat. In seinem Haar befindet sich, aus dem geronnenen Blut eines erschlagenen Feindes gebaut, das Nest goldener

Wespen. Ihre Leiber - goldene Schalmeien � kriechen dem

alten Gott über die Wangen. JUNO

Gestern hab ich einen Kuß bekommen.

Muri guri rikoko.

Sie druckt Woche und Datum auf die hölzernen Schultern des

Gottes.

Und hier ist auch sein Name: Si-si-risi.

Schnitzt ihn mit einem Messer ein.

Ssijokuki - ssississi!

UNKULUNKULU

Pertsch! Hartsch! Sortsch!

246

Velimir Chlebnikov

Er schnauft und geht weg. Das Notizbuch der großen schönen Göttin, in strengen Buchstaben Spuren der Liehe in diesem Buch. Schneeflocken fallen.

JUNO

Hansioppo! Mir ist kalt!

Perun gibt ihr den Pelz eines Schwarzhären aus den sibirischen Wäldern. Die Göttin hüllt sich fröstelnd in ihn ein. Schneeflocken.

VENUS

En-kentsčhi! Ich habe den Arm von Osiris gefunden, auf den

Steinen am Wasserfall.

En-kentschi. Sibgar, sorgam! Dsug sag!

Mentsch! Mantsch! Niju!

Küßt euch! Seff siew diobe. Zitzilitzi tzi!

Küsset euch!

Kämmet mit dem Kamm des Mundes das Haar des Leidens!

Ssikikichi hasadero!

Omr, bromm, meu, zitziricki, zatza!

Zugi budi norm!

Barg! Brack! Brrr!

Arrakaro dsugo dsi! bsdreck!

Streichelt sie mit den Wimpern und großen Vögeln mit

erschrockenen Flügeln � weinet!

Omre, imre, umre!

Hala hala hitti ti.

Churm, churm!

Mioge! Mioge! ANTSCHE PANTJAJ seinen ewigen Bienenkorb im Mund, lutscht

seinen honigtriefenden grauen Schnurrbart ab

Barchar kuko pso pso! EROS setzt sich ihm auf die Schultern

Flage fliege kull kull kull!

Amso omsa migoantsch!

Ssio eltschi bull tschuljur!

Schlägt mit seinen Scbneeflügelny auf dem Oberarm des

anderen sitzend.

Die Götter 247

TSCHOMPAS ein göttlicher Greis mit göttlichen Augen

Gdrack rariro riroro!

Huff, haff, heff!

Zieht sich das schwarze Fell über die Ohren.

Der Knochen eines Bären taugt zum daran Saugen und zum

Schreiben von Namen. JUNO

Gib ihn wieder her.

Mara rama bibabull -

Uks kuks eil!

Sijohassa thschitschidi!

Redididi dididi!

KALI in schwarzer Schlangenhaut Das Wasser fließt, und niemand trinkt - hier ist der Trinkschädel.

Der schöne Feind schaute auf zu den Sternen und Göttern,

und die Götter befahlen, ihn zu töten, mit Seide wurde ihm

das Rückgrat gebrochen. Weht, ihr Schlangen des Todes!

Jagsa, pertschi, bebsi oj!

Sergsa uli loj moj toj!

Groj emtsch amtschi pairi!

Siriju gor a, pitschiri! THOR im Schnee, wie ein Eisbärfell

Rtepp nagogi pilitschili?

Pali toschtschi tschipolotsch!

Brug gawewo rigorapp!

Ramigoma sabsarag!

Muro baba buro ptschech!

Gagagoja �gigagas!

Giji! Gick!

Zu Unkulunkulu.

Alter, geh mir aus dem Weg!

Holz - Ehre dem Eisen!

- Ich schwitze bleiernen Schweiß! KALI

Gib mir die Hand, laß dich umarmen!

Hab keine Angst vor den Schlangen!

Aber ihr Biß, mein Gott, ist tödlich!

Velimir Chlebnikov

EROS packt eine Schlange und fliegt, die Schlange hinter sich

herschleifend

Bigu gu bars, bers, gitschitschi!

Pipsi opi, paga gu

Tschotschi guga, geni gan!

111, eil, eil!

All, eil, ill!

Ada, eda, oda!

Tschirtsch, tschartsch, ssmul, nosi! zika!

Muli, moli, moll!

Ek ak uji! kajn joki pini jik!

Gamtsch, gemtsch! kirokiwi wero!

Er dreht sich mit der Schlange im Kreis, wie eine Nachtschwalbe mit den Flügeln schlagend. DIE GÖTTER

- Etscha utschi otschi!

- Kechsi nechsi sagsarak! -Nisarisi osiri!

- Meaumura simore! KALI

Den Wind des Todes über sie! Den Todesgeist! Masatschitschi tschimporo! PERUN

Ich habe einen neuen Gott mitgebracht, Unduri. Macht euch miteinander bekannt.

Eros schlägt die Schlange an den steinernen Fingern von 'Zinte-kuatl tot.

KALI

Gljuptsch! Pentsch! Dsero.

Er schleppt sich zu der toten Schlange, die aus Haaren besteht.

Verzeih mir, Schlange. ZlNTEKUATL

Mapp! Mapp!

Bragawiro zigaro

du machst Witze, Kleiner! Mach keinen Quatsch!

Die Götter 249

EROS

Lelga, onga, echamtschi!

Ritschi tschitschi tschitschitschi!

Brodadudo biraro!

Pulsi pelsi pipapo.

Er versteckt sich im Haar der Juno. JUNO

Jungchen, was willst du denn?

Makarao kiotscherk?

Asche der Götter fällt von oben.

Loluaga duapogo! VELES der Gott des Viehs

Bruwururu rururu.

Pitze zape sse-sse-sse!

Bruwururu - rururu.

Ssitzilitzi tzitzitzi!

Pjans, pjens, pans! EROS

Lelga, onga, echamtschi!

Ritschi tschitschi tschitschitschi!

Leni nulli elli alli!

Batschikako kikako.

Nakikako kukake!

Kikeriki kikiku.

Papa pupi pipigi!

Hurru, hurrur, miutschali

kapa, kapa, kapp!

Emtsch, amtsch, umtsch!

Dumtschi, damtschi, doltschi!

Er faßt Veles bei der Hand, verfällt in Begeisterung.

Makarao kiotscherk!

Zitzilitzi tzitzitzi.

Wrakuloki kaka kämm!

Tschukuriki tschock! STRIBOG riecht an einer roten Blume, schaut in die Berge

Biruri sirora! nelli mali kiliko!

Pigogaja panani; wuru tury piroro!

250

Velimir Chlebnikov

PERUN

Tarch paraka prak tak tak!

Pirirara purururu!

Toho dago porororo! prokrokro!

Prokrokrapti!

UNDURI

Scharsch, tscharsch, sarsch!

Heute hat mich ein Ostjak verprügelt und mir keinen

Lebertran gegeben.

Rtschi tschakuru kumyball! JUNO

Leolola buarq! Witzeolex ssessesse!

Ljunululja isaso

winawiwa meltsch i ultsch.

Ssitzotzara grosasa! morochoro rattattati

kosomoso miogeni hirakuki szitzili!

Serakikika kukuri! AMUR

Bjej bajuro! Lioeli!

Mani esa, p Juki oki, pell, pell pell!

Pintschiopi turturtu!

Pintsch, pentsch, pantsch!

Ssollollolo morami. ZlNTEKUATL

Prug, buktr, rkirtsch.

Praktf, brackf, schamm!

Schrapp, gawrt, tiwt!

Marsch bsor mertsch!

Gigogago! gro ro-ro!

Bsup, bsoj. Tscherptsch schirch!

Rappr grappr apr!

Persi orsi tschiwiri.

Ljaja ulja nolsi

moni kino ro.

Bslomm!

Kukakoka apps tschimeh!

Laschd naschd kaschd schachd! Zirri!

Die Götter 251

Pum tarn tkurt! Schepps, meppr tschoch!

Er brät einen Hirsch, nachdem er Zweige in die steinernen

Hände des Froschgottes gelegt hat. LEL

Lewiopi, liparutschi, tschisele!

Muri guri rikoko!

Buch, bach, hoch, burr, berr, barr,

Ech, gill och!

Zitzili! JUNO

Baidur, komm mal her!

Sam, gag, samm! UNDURI

Dech, mech, dsupl.

Tuki, paki sitzioro

migoantschi, metschepi!

Rsbuk Iwakada kwakira! Chljemm! Tl-EN

Ssijo-ukin ssississi.

Ssijokuki ssitzoro!

Chrjurjurjuri zitzatzo.

Petsch, pitsch, patsch!

Hawihoho hrumm dur porr!

Amts gulp, pelp!

Hapri epri hamti uksi.

Zock! Bjeck! Gipp! Suipp -

Ißt Blätter von einem Baum. LOKI

Und hier ist auch das Messer des Mörders!

Stößt das Messer in Baldurs Hals.

Meserese boltschitscha!

r

Daniil Charms

Die Komödie der Stadt Petersburg

ERSTER AKT

PETER

Ja, ich erinnere mich an den Tag. Es rauschte die Neva ins Meer die leere leichte ungezügelte Neva da kam und warf mit seinem Blick die Wolke nieder der große Zar und dachte nach an jenem trüben Mittag und zärtlich ein Gedanke zog Falten über seine Stirn hinflatternd über der Neva den Ufern flatternd flog auf gen Himmel flügelschlagend überm öden Wald trieb fort ein fernes Segel auf dem wunderbaren Meer. Die Stadt erbaute ich an Finnlands Küste ich sprach Hier wird die Hauptstadt sein. Im Nu im Schlaf gerodet war der dichte Wald bis auf die Wurzeln und laute Kutschen stießen oft nun an der Hütten Fenster.

NIKOLAUS n.

Du Peter warst der Zar.

O Ruhm vergangner Tage!

Flieg auf als Flamme lodernd in die Höhe. Ich

ich gehe. Gehe fort von hier den grausen Sümpfen,

o Rußland lebe wohl! leb wohl für immer!

Doch nein hier bin ich hier wie der Kanonenofen wie der

schlag zu! schieß nieder tausend Bajonette stecht! [Teufel

Gib frei den Weg. Und ich der Erbe Gottes

besteige Hand aufs Herz den Thron

und lange Jahre eines eisernen Monarchen

vergehn unter den Leben von Nomadenstämmen

gesegnet seist du Staat der Russen

ich bin dein Zar dein Gott dein Herrscher.

254 Daniil Charms

Ja, Peter. Ja, ich lebe. Du bist lachhaft und erbärmlich mir

du seelenloses Denkmal Reiterstandbild Springer

sieh, mir zu Füßen liegen alle Völker. Und die Zarin

gebiert mir einen Sohn wie eine Buche stark.

Nur, ich hab keine Kraft mehr Peter keine Kraft

ob ich den Dom durchschreite den Palast

stets sehe ich den Reiter auf dem wilden Felsen

du Peter fühllos Denkmal - du bist der Zar!!! KOMSOMOLZE VERTUNOV zeigt auf Nikolaus II. Fesseln, den

da. ŠČEPKIN

Machen Sie die Tür zu. Der Durchzug ist unmöglich. Der Zar

könnte sich erkälten. Er lacht. DIE SUITE Ha ha ha ha ha ha ha ha... BALALAJKASÄNGER

Ging ein Mädchen in den Wald

riß den Rock entzwei alsbald

trank vom wilden Honig

trank für Mütterchen Zarin. KOMSOMOLZE VERTUNOV Aha, das Uniförmchen aus feinstem

Tuch. Zar, ist dir kalt? NIKOLAUS II. Lassen Sie mich in Frieden, Komsomolze Vertu-

nov, lassen Sie mich! KOMSOMOLZE VERTUNOV Was? Auch noch widersprechen?

Man will doch nur dein Bestes, Schwachkopf. Hat Mitleid mit

dir. Da sieht mans wieder, verwöhnt der Herr. Sag mal, du

hast wohl auch nur auf Samtkissen gespuckt, wie? ŠČEPKIN Aber machen Sie doch die Tür zu. Er erkältet sich

noch. KOMSOMOLZE VERTUNOV Nein, erst sagst du mir, ob du auf

Samtkissen gespuckt hast. Wie? NIKOLAUS n. gleichgültig Ja. KOMSOMOLZE VERTUNOV Siehst du! Und was hast du sonst

noch so gemacht? Komm Junge nur zu sags ehrlich hast du

sonst noch was gemacht? NIKOLAUS II. gleichgültig Ja hab ich. Er hebt die Stimme. Ich

will nicht mit Ihnen reden, tanzen will ich. He, Musik!

Komödie der Stadt Petersburg 255

BALALAJKASÄNGER Tanzt der Zar Bläst der Wind Menschen weinen Tränen fließen Trotzdem tanz ich Bläst der Wind Zar tanzt nicht Geht voll Ingrimm.

NIKOLAUS n.

O Peter, wo ist dein Rußland?

Wo deine Stadt, wo ist dein bleiches Petersburg?

Wo bin ich hingeraten - nach Kostroma im Himmel oder in

Das sag mir Peter deinem Enkel. [ein Parlament?

Man fragt mich: habe ich gespuckt auf Kissen

aber ich weiß nicht keine Ahnung ich hab es vergessen.

Vergessen, mein Gedächtnis läßt im Stich mich Peter,

Peter sag mir: wohin spucken alle Zaren?

PETER In den Spucknapf oder unter den Tisch.

NIKOLAUS ll. Man rufe den Komsomolze Vertunov.

HÖFLING Zu Befehl Euer Majestät!

KOMSOMOLZE VERTUNOV Sie wünschen Euer Majestät?

NIKOLAUS II. Wie ist es draußen auf der Straße warm oder kalt?

KOMSOMOLZE VERTUNOV Warm Euer Majestät.

NIKOLAUS n. Und ich kann unter den Tisch spucken!

KOMSOMOLZE VERTUNOV Sehr interessant E. M.

NIKOLAUS ll. Soll ich dirs zeigen?

KOMSOMOLZE VERTUNOV Na mach schon!

NIKOLAUS n. Tpffu!

KOMSOMOLZE VERTUNOV Geht doch prima!

NIKOLAUS n. Tpffu!

KOMSOMOLZE VERTUNOV Hervorragend!

SČEPKIN kommt hereingestürzt Herrschaften, aber machen Sie die Tür zu. Tauwetter ist die allergefährlichste Jahreszeit! Meine Tante hat mir Handschuhe geschenkt, und Papa hat gesagt, mein Bart und Schnurrbart und die Augenbrauen und alles, alles wäre noch viel röter als bei der Lehrerin.

256 Daniil Charms

KOMSOMOLZE VERTUNOV Scher dich doch nach Moskau, verdammter Kerl! ŠČEPKIN singt

Lauf ich hoch das Bein ich springe

in den Himmel wie ein Löwe

Leute riefen: halt dich tapfer

zieh den Säbel aus der Scheide

schwenk ihn überm nackten Stumpf

still dein Schlag ist wie von Seide

streckt den Deutschen in den Sumpf. KOMSOMOLZE VERTUNOV Lauf schneller, lauf! f

ŠČEPKIN singt l

Träumt der Falk im weißen Himmel * i

;*.i

Flieh ich Vogel in die Nacht 1[

Tiere betten sich am Berghang :

Fische schlummern ein am Ufer

Du nur, meine Herrin Zarin

du blickst rings ins schwarze Rund

Zarin mein du läßt den Kopf

niedersinken und bist traurig. KOMSOMOLZE VERTUNOV Vanja Vanja beeil dich! Noch ein

bißchen. Spring über den Graben. Da glitzert Moskau schöner

als ein See, die kleinen Häuschen schwimmen. Die kleinen

gehorsamen Kirchlein tauchen auf. Beeil dich Vanja! VANJA ŠČEPKIN singt

Ich bin am verheißnen Ziel

Moskau herrlich und erbaulich

Menschen die sich um mich kümmern

Ringsum ist es traurig traurig.

NIKOLAUS II. Herrgott was für ein verfluchtes Leben! KOMSOMOLZE VERTUNOV

Komm zur Vernunft, Zar!

Darfst du den Mut verlieren, klagen!

Darfst etwa du verzagen, heulen! Hör zu mit dem gequälten

vergiß das Leben das vergangen ist auf ewig. [Ohr

Dir bleibt zum Leben nur noch wenig Zeit. Und du

wozu hast du den Vanja Ščepkin aufgeschreckt

Komödie der Stadt Petersburg 257

wozu hast du nach mir gerufen und bist lachend

im Feld an unserm Unterstand vorbeigejagt als Ratte?

Gott hat den Lohn dafür geschickt. Nimm ihn an im jüngst

[vergangnen Sarg.

Und die Wangen eingefallen wie Locken des Vertrocknens. NIKOLAUS n.

Sei still. Es lohnt darüber nicht zu reden.

Ich weiß es alles. Hier an dieser Wand

erhängte sich der große Feldherr

als Marija die Schöne Trauer trug

des Flügels Tasten unter ihrer Hand

hier schmachtete nach Land der ewige Bismarck

doch seine Tochter schien uns anders

Schau wie der Damhirsch Wagen Kreischen

die Treiber laufen. Schau

wie unter Klirren flinke Krüppel drängen

wie eine Flamme züngelnd seit dem Morgen

und da und dort hin fliegt das Flügelschwert.

Und über dem Palast der stürzte - schau

die Harnische in stiller Trauer

sie hängen da wie eherne Winde

ich weiß es alles... KOMSOMOLZE VERTUNOV

Erinnerst du dich an den Tag? Es war im Winter und der Schneesturm trieb um sich unter Moskaus Wäldern die Hütte ächzte und das Haus hielt stand die Vögel fielen starr in mitleidlose Wehen und fremder Stiefel Spuren flimmerten im Schnee französisch war der Rede Klang wo kommt ihr her? von weit von fern als Reisende wollt ihr das Land durchquern? Napoleon, erinnerst du dich, Zar? Forderung aus Granit er für dich war der Feind hat Moskau abgebrannt erinnerst du dich noch daran? NIKOLAUS II. Nein hab ich vergessen.

258 Daniil Charms

KOMSOMOLZE VERTUNOV Vergessen? Na klar!

Oder, nein, warte. An Famusov erinnerst du dich aber?

NIKOLAUS H. Ja.

KOMSOMOLZE VERTUNOV UndanKatja?

Sie gab dir zur Begrüßung auf der Promenade einen Kuß

das Schirmchen schwenkend ging sie bei dir eingehakt.

Dann seid ihr in ein Juweliergeschäft gegangen -

du wie es sich gehört für einen Imperator

nur Katja ging, als hätte einen Galgen sie verschluckt.

NIKOLAUS n.

Ja ja ich kenne diese Katja aber wo ist sie jetzt?

KOMSOMOLZE VERTUNOV Das spielt keine Rolle. Leise da kommt jemand aber das ist ja Famusov und mit ihm kommt Kirill Davydyč und... Katja, Katja auch. Komm, gehn wir Zar.

FAMUSOV

Freunde! wir sind wieder hier in diesem Haus! Gleich stelle ich euch Vertunov vor den Komsomolzen, ein ehrenwerter Junge... Katja, Sie werden rot? und du Kirill Davydyč auch? Wie unpassend! Was wirst du traurig und verlegen wie ein Kind?

KATJA

Nein Pavel Afanasjevič ich bin erfreut

und rot geworden bin ich einfach so. KOMSOMOLZE VERTUNOV

Sagen Sie Famusov

wie geht es Fürst Meščerskij ? FAMUSOV

Danke. Bei Gesundheit.

Züchtet Kanarienvögel. KOMSOMOLZE VERTUNOV

Und seiner Tochter Marija der Schönen? FAMUSOV

Marija? Marija hat ihre Seele Gott befohlen.

Komödie der Stadt Petersburg 259

KOMSOMOLZE VERTUNOV

Wieso denn Gott? Sie Kauz

könnt ihr nicht lassen von den Vorurteilen. OBERNIBESOV

Gott- das bin ich!

Und Marija ist mein!

Vor vierzehn Jahren lernten wir uns kennen.

Sie kam geflattert in mein stilles Haus. - Ich lag.

Ich sehe hin als hätte sich die Tür bewegt

als hätte sich ein Wind verirrt ins Zimmer

und plötzlich stand sie vor mir: Marija.

An der Wand der Dolch. Siehst du ihn?

Marija siehst du ihn? Sie sagte:

»Nein mir ist das alles gleich!

Ich liebe dich Kirill Davydyč

laß uns fliehn ich hasse alles hier! Kirill!

Bosheit hat dich aufgeschwemmt

laß uns fliehn zu Pferd im Luftballon!

laß uns tauchen in den Okian und weiter fliegen in die Ferne

als leichte Amazone durch die Berge

und stoßen klirrend wie ans nebelichte Fenster

erscheint der Vater rufen wir: auf Wiedersehen!

Laß uns fliehn! Kirill Davydyč - wir sind frei!«

Ich aber sagte: siehst du Gott?

Gott, das bin ich

und Marija - du rührst dich nicht vom Fleck vor Schrecken

Hebst nicht den Blick. Und wie ein Vogel [der vergeht.

stirbst du von liebevoller Hand! ŠČEPKIN singt

An dem Berge lebt ein Räuber

Still im Haus mit einem Fenster

Manche Menschen ließen nie

Ihre Kinder zu dem Berg gehn

Wenn der Sterne Blicke zärtlich

Niedersanken auf den Bach

Zündet an die weiße Kerze

Überm Berg der böse Mieter.

260 Daniil Charms

NIKOLAUS n.

Fesselt ihn! das ist kein Mensch das ist eine Birke. FAMUSOV

Bleibt ruhig Euer Majestät. Na schön wir fesseln

und wir töten ihn. Jedoch was nützt das?

Schon übermorgen lebt er wieder auf und wieder

wird er als Bettler singen an Geländern

nicht um das Leben geht es, um die Lieder

so sagte einst mein Freund, der Fürst Meščerskij,

geh such im ganzen Land, und wenn du platzt, du wirst

solch einen Dreck nicht nochmal finden. NIKOLAUS n.

Was meinen Sie dazu

Kirill Davydyč böse ist Obernibesov

ist er denn besser? FAMUSOV

Nein aber frischer. Fragen Sie den Fürsten

er ist ein Kenner Leibes und der Seele. NIKOLAUS n.

Wie kriegt man diesen Weisen her? FAMUSOV

Mein Fürst lebt in der fleißgen Schweiz

soll uns Kirill Davydovič als Bote dienen

nur gebt ihm Sprit mit auf den Weg und eine Botschaft. NIKOLAUS n.

Setz Lieber dich in den Aeroplan

flieg Lieber über den Montblanc

zieh in den Kurven ein den Bauch

du fliegst zur fürstlichen Durchlaucht

sag ihm er wird hier sehr gebraucht

sag ihm er ist mein Schwager auch

und da ich demnächst hängen werde

an meiner Zung im Haselstrauch

nahm ich die Feder flugs zur Hand

ich tunkte ein und traf kein Bläschen

schrieb Grüße ihm nach Switzerland

und nieste ins Gebüsch den Häschen.

Komödie der Stadt Petersburg 261

Flieg du zu ihm Obernibesov

ich schenk dir den Aeroplan

die Flasche Sprit

hier nimm dir mit

leg sie, wenns blitzt

auf deinen Sitz.

Sie wärmt und hält dich bei der Stang

am Morgen siehst du den Montblanc

dann drückst du hier auf diesen Knopf

und wirfst die Flasche weg samt Pfropf. KATJENKA Leb wohl KirillDavydyč! FAMUSOV Behalte das Querruder im Auge! Geh nicht tiefer

runter als dreihundert. Frag wenn du landest wo du angekommen bist! Er läuft dem Flugzeug hinterher, ab. KOMSOMOLZE VERTUNOV Komischer Kerl. Bildet sich ein er

sei wer weiß was! Zuschauer was hältst du von diesem

Menschen? ZUSCHAUER Auch seien Sie ganz beruhigt, er wedelt mit dem

Schwanz und sucht doch wo ihr wollt. KOMSOMOLZE VERTUNOV Aha! er traut sich nicht. Vanja was

sagst du dazu? ŠČEPKIN Nikolaus II. hustet Blut. Wir sollten einen Arzt rufen.

Es wäre dringend nötig.

KOMSOMOLZE VERTUNOV Halt davon war jetzt nicht die Rede. ZUSCHAUER So ist recht! Kaum sind wir alle wieder zu Hause

darf keiner mehr was schreiben. KOMSOMOLZE VERTUNOV Und dich da haben wir freigelassen

und schon wirst du frech. Ich weiß besser als du was ich tue. ZUSCHAUER Und ich gehe und beschwere mich bei meiner

Mamma. KOMSOMOLZE VERTUNOV Geh und beschwer dich. Macht mir

doch nichts aus. ZUSCHAUER Und ob ich gehe! KOMSOMOLZE VERTUNOV Na geh doch schon! ZUSCHAUER geht ab. KOMSOMOLZE VERTUNOV Hu! Der fällt mir wie ein Stein vom

Herzen.

262 Daniil Charms

FAMUSOV kommt herein Und wo ist der Zar?

KOMSOMOLZE VERTUNOV Weiß der Teufel. Immer wenn man

jemand braucht ist nie ein Schwein zur Stelle. Und - ist er

abgeflogen?

FAMUSOV Ja, und er ist bald wieder da. Katjušenka ist auch weg? KOMSOMOLZE VERTUNOV Ach hol sie doch alle der Geier...

Er geht ab.

FAMUSOV allein, nachdenklich Eins zwei eins zwei eins zwei drei eins zwei drei eins zwei Porr-tugiese.

Ein Mensch läuft über die Bühne.

FAMUSOV He, wo willst du hin? Eins zwei

Vorhang

Komödie der Stadt Petersburg 263

ZWEITER AKT

FÜRST MEŠČERSKIJ

He Aufmachen!

Ich Fürst Meščerskij bin

nach Petersburg gekommen um herauszukriegen

wer einen Schuft mich meine Durchlaucht nennt.

Ich schlag sie alle tot mit einer Hand

und schick sie hundertmal zur Hölle

versuch es komm doch raus! Zweimal

erschlage ich den Frechling

verbrenne ihn verstreue seine Asche

über das ganze Land!

Was bist denn du für einer? WÄCHTER

Ruhe hier! Machen Sie keinen Skandal! FÜRST MEŠČERSKIJ

Nun sagt mir. Der will mir...

Nein hört euch das an...

ja weißt du überhaupt

hier diese Hände biegen ein Fünf rubelstück! WÄCHTER

Wenn Sie nicht sofort Ruhe geben

dann kann ich Sie verhaften. FÜRST MEŠČERSKIJ

Verhaften? Los Versuchs doch!

So habe ich mir das gedacht! WÄCHTER

Sie sind verhaftet. Mitkommen. FÜRST MEŠČERSKIJ

Rühr mich nicht an!

Für mich wohin du willst

und seis dem Teufel auf die Hörner. KOMSOMOLZE VERTUNOV

Ach Sie sind das! FÜRST MEŠČERSKIJ

Ja ich. Bin da. Wohnt Nikolaus II. hier?

264 Daniil Charms

KOMSOMOLZE VERTUNOV

Ja, aber er ist krank

und liegt im Bett, liegt wie ein Klotz. FÜRST MEŠČERSKIJ

He, Diener! Glotz

nicht so! Los bring mich zu ihm.

WÄCHTER

Zu ihm Sie meinen...

FÜRST MEŠČERSKIJ

Zum Zaren der im Bett liegt wie ein Klotz.

Vier Schritte sind es bis zum Tor

und da pfui Teufel diese Pfütze! WÄCHTER

Springen, mit Anlauf drüberspringen! FÜRST MEŠČERSKIJ springt

So geht es lang

geradeaus oder irgendwo um die Ecke? WÄCHTER

Hier entlang bittesehr.

Das Tor wird geöffnet.

NIKOLAUS n. im Bett

Wohin soll ich nur schauen?

Überall Verbrecher. Da hat einer

das Hemd des Wahnsinns aufgeknöpft

und hört im Halbschlaf Grammophon.

Da geht ein Ritter mit der Hellebarde

wacht überm Schlafe des Beamten.

Da kommt der Wachsoldat,

Vertunov Komsomolze

und noch jemand den ich bisher nicht kenne

ein Bittsteller wahrscheinlich.

FÜRST MEŠČERSKIJ Zar seid gegrüßt!

Ich kam hierher auf schnellen Schwingen Kirill Davydyč ist mit mir geflogen.

Komödie der Stadt Petersburg 265

Kazan blitzt auf, dann Petersburg

mir platzte fast der Kopf es krachte

an der Fontanka knallt es sprudelt spuckt

und platsch! am Ufer der Neva herunter

beinahe in den Sumpf,

wir kriechen aus der Kiste, und wir lesen:

»Flughafen Leningrad«. NIKOLAUS n.

Ja. Das ist wahr.

O Gott, mein Gott!

Vor gar nicht allzu langer Zeit

sprang ich umher als Knabe

aß Apfelsinen

und kramte in den Hosentaschen

unschuldig nach Bonbons

und in Entsetzen fiel ich nur

beim Anblick des Muziken. KOMSOMOLZE VERTUNOV

Ja das warn Zeiten:

Einmal hab ich im Fluß gebadet.

Da plötzlich seh ich schwimmt was wie ein Fisch.

Als ich genauer hinsah - schrie ich wie am Spieß

und hechtete ans Ufer. FÜRST MEŠČERSKIJ

Na und was wars? NIKOLAUS n.

Und weiter? KOMSOMOLZE VERTUNOV

Einfach ein kleines Bällchen

aus Ästen Moos und Gras

ich schrie aus Leibeskräften

erschreckt weiß ich wie was

dann dachte ich vier Nächte

das Leben ist kein Spaß. NIKOLAUS H. Ha! Na großartig, typisch! Du bist ein Feigling.

Feiglinge seid ihr alles; Angst vor einem kleinen Ast! Und was,

wenn es ein Knüppel gewesen wäre?

266 Daniil Charms

KOMSOMOLZE VERTUNOV beiseite Den dicken Stumpfsinnsknüppel seh ich alle Tage. Und nichts! Ich habe keine Angst vor ihm.

FÜRST MEŠČERSKIJ Aber zur Sache. Meine Herrn! Warum habt ihr mich rufen lassen?

NIKOLAUS II. Wir brauchen deinen Sachverstand.

KOMSOMOLZE VERTUNOV

Sie sollen es uns sagen. Wer besser ist.

Ivan Ivanyč Šcepkin oder dieser

Kirill Davydovič Obernibesov

der eine trist und überflüssig

der andere mit einem Körbchen auf der Schulter.

FÜRST MEŠČERSKIJ

Ich denk der Bessere ist der der in den Windeln schon »Bravissimo!« gerufen hat und der Papachen oder Onkel am Bart gezogen hat als diese ihm diskret sich räuspernd das Taschentuch vorm Munde die Kirchenlieder sangen.

NIKOLAUS n. Entzückend!

Welche Kraft des leidenschaftslosen Urteils. Rufen wir Kirill Davydyč und fragen was er in seiner Kindheit für ein Mensch war.

SČEPKIN stürzt herein Eben komme ich aus Moskau zurück. Ich kam dort an und dort ist alles wie bei uns. Genau dieselben Häuser Menschen. Nur sprechen sie verkehrt. »Guten Tag« bedeutet bei ihnen »Auf Wiedersehen«. So bin ich denn zurückgelaufen. Nur hier steht, glaube ich, irgendwo ein Fenster offen - es zieht. Ich bin gelaufen und ganz naßgeschwitzt.

NIKOLAUS II. Du kommst uns wie gerufen. Sage bitte, als du noch in den Windeln stecktest, hast du da dein Papachen oder sagen wir dein Onkelchen am Bart gezogen?

ŠCEPKIN Was?

Komödie der Stadt Petersburg 267

NIKOLAUS H. Hast du Papa oder Mama am Schnurrbart gezogen?

ŠČEPKIN Wieso warum? NIKOLAUS II. Also nein?

ŠČEPKIN Richten Sie mich nicht zugrunde Euer Majestät. NIKOLAUS ll. Schön, du kannst gehn. Und ist Kirill Davydovič

schon da? KOMSOMOLZE VERTUNOV Nein noch nicht. Da kommt Famu-

sov, doch wie mir scheint allein. Pavel Afasnasjevič, wo ist Ihr

Freund? FAMUSOV tritt auf

Er lehnt es ab hierherzukommen!

Ich sagte ihm: hör zu! komm mit!

Doch er gehüllt in seinen Umhang

blieb vor dem Eingang stehn.

Da war mir alles klar.

Ihn quält die Sehnsucht.

In seinen Händen lag ein Buch

ein Finger hielt die Seite fest.

Er schwieg. Es wogte seine Brust

Sein Umhang wallte wie ein Flügel. ŠČEPKIN Sehen Sie er kommt hierher. KOMSOMOLZE VERTUNOV

Na Famusov?

Die Sache ist geplatzt, wie?

Er hat das Geißlein spielen wollen

hat jede Menge Kreide gefressen

aber die Nägel zu schneiden vergessen. NIKOLAUS ll. Na, und wo ist er? ŠČEPKIN

Dort die Brücke schreitet er entlang.

FÜRST MEŠČERSKIJ Na wenn du mich fragst ist das ein Pferd. ŠČEPKIN Nein dort. NIKOLAUS II. Ah ja jetzt seh ich ihn

in seinen Händen hält er eine Glocke. FÜRST MEŠČERSKIJ

Keine Glocke, das sind Schüsse!

Daniil Charms

ŠČEPKIN Herrschaften fliehen wir!

KOMSOMOLZE VERTUNOV

Halte, warte, fliehn wohin?

Zar reg dich nicht auf.

Ich habe Krüger vor das Tor befohlen

dort steht er tapfer und verwegen

kein kleiner Junge kommt an ihm vorbei

kein Wind kommt durch

er schnappt am Ärmel jeden

stößt in den Wagen ihn

schnalzt mit dem Finger

ab! - und Schluß. Nur keine Angst!

Krüger ist ein Krieger, Kämpfer.

Er hält Wache. ŠČEPKIN singt

Vor dem Tor der Eisenkrüger

Deutschen mit dem Säbel droht

Da fällt ein Schuß und unser Krieger

stürzt zu Boden mausetot. KOMSOMOLZE VERTUNOV

Wie, er ist getötet worden?

PÄCHTER stürzt herein Euer Majestät! Der Wachhabende Emmanuel Krüger ist soeben von einer unbekannten Frau getötet

worden! NIKOLAUS n.

Was soll das heißen?

PÄCHTER Ich wag es nicht zu wissen Euer Majestät! NIKOLAUS n.

Verrat! oder du Schurke lügst!

Bringt Krüger her zu mir!

Ich will daß alle gehn!

Ich will mit ihm alleine sprechen.

Und setzt den Samovar auf

kocht Tee. FÜRST MEŠČERSKIJ

Aber sie haben ihn doch abgeknallt oder?

l

Komödie der Stadt Petersburg 269

NIKOLAUS n.

Du schweig misch dich nicht ein...

ich werde warten bis er kommt

So schreite auf der Brücke Obernibesov - schön

doch darum geht es nicht. Er ist ein Verbrecher.

Und du flieg doch zurück in deine Schweiz

dort hast dus besser.

Geh aus der Sonne, und versteck dich vor den Menschen.

Ich brauche Krüger.

Wer sagt hier: »er ist mausetot«?

Wo ist Krüger? Peter! Wo ist Krüger?

Man habe ihn getötet, sagt mir Sčepkin!

Wo ist Krüger? Peter, wo?!

Ich warte! KOMSOMOLZE VERTUNOV

Da kannst du warten bis du schwarz wirst.

Kein Peter hört dich. Und dein Krüger

liegt hier im Zimmer nebenan

die Arme baumeln hin und her

sie wischen Wolken weg vom Tisch.

Laß ihn in Ruhe laß ihn liegen

er hat den letzten Vers geschrieben. FAMUSOV

Warten wir nun auf Obernibesov oder gehen wir? FÜRST MEŠČERSKIJ

Ist das eine Stadt!

Ist das ein Land!

Ich kam geflogen in die Heimat

nein

das ist meine Heimat nicht

das ist eine Truhe unter Mützen.

Die Mandarine tanzen auf den Straßen

ans Fenster Rauschebärte fliegen

ich sehe Wälder, Täler wie Quadrate

an die sich seitlich Städte schmiegen,

da sitzen noch die zarten

Zaren sie spielen Karten

270 Daniil Charms

trinken Klaren bis früh am Morgen dann gehn sie schlafen. O mein Gott! Ich flieg nach Hause. Nichts wie fort. FACKELTRÄGER tragen Krüger herein, singen Krüger starb ganz unverzagt weine nicht und stöhne nie durch ein Loch im Laken ragt still und starr sein Knie. Und er liegt und seufzet nicht faucht und freut sich wie ein Schrat. Himmels Lampe löscht das Licht und erleuchtet Leningrad.

Obernibesov und der Wächter auf der Brücke.

WÄCHTER

Halt wer da!

Parole! Halt!

Eh hör zu wer bist du!

Halt, ich lasse dich nicht durch!

Antworte wohin gehst du und wie heißt du. OBERNIBESOV

Ich heiße Obernibesov

ich gehe in den Raum. Ich bin allein.

Auf einem Dampfer fuhr ich heute ein

in einen leeren Hafen.

Da gab es Essen.

Ich setzte einsam mich auf Deck an einen Tisch.

Und sehe da kommt Marija.

Ich bin Kadett.

Ich sagte ihr: »Marija du bist schön

komm setz dich zu mir Marija, he, halt!

Komm her. Umsonst. Sie ließ mich einfach stehn

sie ging vorbei. Da war die Suppe kalt. WÄCHTER

Hilfe Alarm!

Komödie der Stadt Petersburg 271

OBERNIBESOV

Du schweig still.

Ich hab die Welt erschaffen.

Vor mir hat jeder Angst.

Nur du mein Freund hab keine, ich bin Dichter

ich pack dich an den Füßchen

und schlage dir wie einem Vogel

mit einem Schrei den Kopf am Bordstein ein. WÄCHTER reißt sich los und flieht

Alarm! Räuber! OBERNIBESOV läuft ihm nach

Aah - ürr rarr, rarr, rar-rrr -

Zweite Ebene

PETER

Ach seit dem Tag als Krüger starb

bin ich betrübt. Ich gehe durch die Stadt

im bloßen Hemd. Alles geschrumpft voll Runzeln!

Du doppelreihiger Palast du strahlst nicht

indem du Staub fängst und den Zaren ehrst

du Hungerhütte auf der kleinen Brücke

kein Wunder hüllst du in der Pferde Stroh

und kommt der Fürst vorbei

schon gut! du lahmst

fliegt eine schnelle Wolke auf zur stummen Decke.

Schon wieder Winter! Und Gedränge auf den Straßen.

Ein altes Weib knackt Nüsse sich mit einem Ast.

Vorm Winterpalast Krüger

wie ehedem hält trüben Sinnes Wache

schaut in den wolkenlosen Himmel Krüger... tpffu!

Nicht Krüger in den Himmel schaute, sondern du. SCHILDWACHE

Wie spät ist es? PETER

Vier Uhr.

272 Daniil Charms

Ich kanns nicht anders sagen, ringsumher

ein Waschfaß der Gottlosigkeit! Da seh ich Katja laufen

zum Stelldichein mit diesem Komsomolzen.

Rußland, wo bist du! OBERNIBESOV

Hier. In dieser Faust.

Gefällts dir nicht? Ich habe es gepackt, hier ist es.

Ich bin durchs Wasserrohr gekommen.

Ich - bin Gott.

Du willst daß dieses Mädchen umkehrt?

Ich werfe in die Seifenschale einen Stein, und der

quillt auf vor unmenschlicher Sehnsucht. Und das Mädchen

geht ins Gebüsch und legt sich in das Gras

ich kenne das. Ich bin der Pferdehuf.

Du glaubst mir nicht? Schau her.

In meinen Augen rauscht von fern das Wasser.

Marija sah einmal ein Vögelchen

und sagt: Kirill Davydovič

schlags tot als Andenken für mich!

Und sah mir dabei ins Gesicht.

Und seitdem bin ich traurig immer voller Sehnsucht.

Es ist nicht Langeweile.

Es ist nur keiner da dem ich die Fresse einhaun könnte. PETER

Ich suche auch schon dauernd

wenn ich zum Krüppel schlagen

zu Kleinholz machen könnte.

Und finde einfach niemand. OBERNIBESOV

Ich habe ihn gefunden.

Schau wie ein Pudel zu das Kinn rasier ich

und mit einem Seufzer

verzier am hellen Tag ich die Visage - dir!

Hau ab.

PETER läuft davon. OBERNIBESOV läuft ihm nach

Haha! ja ich bin Gott aber Gott mit einer Axt!!

Komödie der Stadt Petersburg 273

Erste Ebene

FÜRST MEŠČERSKIJ setzt sich ins Flugzeug In Ordnung! Fort von diesem Ort. Welch eine Schande!

Ich werde mich hier nicht mehr wiederholen. Ihr Schufte! Mich hierherzurufen! Mich den erlauchten Weisen klug wie tausend Teufel. Ein Urteil sprechen über Ščepkin und Obernibesov. Ihr Tanten! Wo sollt ihr noch enden!

Katjenka kommt.

FÜRST MEŠČERSKIJ

Oh, bonjour! KATJENKA

Ich habe schrecklich mich beeilt

mir gar den Rock dabei zerrissen. FÜRST MEŠČERSKIJ

Ach Katja! Zu gern würd ich wissen:

wie kommt der Grashalm hier in euer Haar? KATJENKA

Mir fiel ein Stäubchen aus dem Auge. FÜRST MEŠČERSKIJ

Ach Kind, und das soll ich euch glauben?

Noch nie hab solche grüne ich gesehen.

KATJENKA

Seht ihr am Fluß den Hirtenjungen gehn?

FÜRST MEŠČERSKIJ

Kleine Kokotte die ihr seid mich reizt

daß ihr ein wenig schüchtern seid euch spreizt.

KATJENKA

Laßt bitte diese Dummheit. Ich vergehe

da ich zu küssen nicht verstehe. FÜRST MEŠČERSKIJ

Oho stop stop, geht doch nicht fort.

2/4 Daniil Charms

Der Komsomolze Vertunov tritt auf.

Bleibt hier schardarr prr prr. KOMSOMOLZE VERTUNOV

Umarmt ihr euch? und wer umarmt hier wen? KATJENKA

Du siehst mich aufgelöst in Tränen.

Er ist so unverschämt

Er ist verrückt, er ist ein Schwein.

FÜRST MEŠČERSKIJ

Gestatten Sie es war ein ehrlicher Versuch... KOMSOMOLZE VERTUNOV

Schluß jetzt!

Ich hasse Lügen!

Flieg dorthin wo du hergekommen bist!

Und das mit Katja werd ich anders regeln. OBERNIBESOV tritt auf

Ein Kater geht spazieren auf dem Dach.

Er wittert in der Scheune Fleisch

macht einen krummen Buckel. Ich schaue zu

durch der Mündung Kiele. Entartet ist die Welt!

Frohlock Tscherkessin! Es wird Tag.

Basilius trägt einen Frauenturban,

der Kutscher spannt den Schlitten an

und schimpft in jammervollem Mund.

Und ich der Herrscher über Moskau

küßte Marija in der Küche

ich legt mich voller Sehnsucht in die Grübchen

und faßte in die Seifenschale.

Sie stirbt. Von oben seh ich

ich renne ihr das Messer in die Seite.

Ich werfe eine Kufe in die Wiege

die noch ganz kalt ist.

Sie singt: Kirill Davydyč

dreh dich noch einmal zu mir her.

Ich dachte: welch ein Wunder

wie die Pupille macht ich kehrt.

Komödie der Stadt Petersburg 275

FÜRST MEŠČERSKIJ

Fort ich fliege wie der Aar

Katja mit dem Täschchen wink

biete einen Gruß ihm dar

mir schreib Liebesbriefe flink. KATJA

Mich verläßt mein Bräutigam er liebt eine andre jetzt barfuß komme ich zu dir nur damit du ihn erschlägst. FÜRST MEŠČERSKIJ

Ich ein Vogel überm Bach sage dir, sei lieb und brav. Siehst du es ist kalt drum mach alle Türen zu und schlaf.

Fürst M eščerskij fliegt davon.

KOMSOMOLZE VERTUNOV

Der Berg geht unter ist schon weit. Komm, Katja, es ist Schlafenszeit.

Komsomolze Vertunov und Katja gehen ab.

OBERNIBESOV allein

Ja. Besser gar nicht hinsehn.

Was sind das nur für Menschen?

Ich hab sie übereilt erschaffen.

Das weiß ich jetzt.

Als lächelnd ich durch die Passage ging

schoß es mir plötzlich durch den Kopf:

»Bestimmt Marija hast du mich vergessen.«

Und da bin ich gestolpert

ein Griff zur Zigarette und ich rauchte.

»Unmöglich, - sagte die Kassiererin, -

in unsern Zeiten Ihn vergessen darf man nicht.«

Da schlug es zehn Uhr abends.

276 Daniil Charms

Ich schaute in die Kammer.

Dort flicht Marija sich die Haare

und spricht zu Gott sie nennt ihn »ihren Guten«

und mich schaut an sie wie ein Tier.

Doch ich durchschaute diese kleine List

und sagte: »Gott - bin ich,

und du Marija bist ein ungezognes Kind.« Sie schien

zu schweigen. Aber das war Lüge.

In aller Stille ging sie unter

in Petersburg der abgrundtiefen Stadt.

Und sandte sanfte zarte Blicke

und lächelte nach oben

ich aber stand wie auf dem Sockel eines Denkmals

blies voller Feuer auf dem Hufeisen

dann nahm ich wie ein Kind sie einfach

und küßte auf die Schulter sie:

sie kreischte und bog sich zur Seite

als Schiff erschien sie mir des nachts im Traum

da griff das Schwert ich ohne Hast

und fällt vom Rumpf den morschen Mast.

Vorhang

Komödie der Stadt Petersburg 277

DRITTER AKT

1. OFFIZIER

Das sind Zeiten. Wanzenheere Dreck im Badezimmer, eklig! Meine Füße wenn sie dreckig bade lieber ich im Meere. Uniform was hilfst du mir wilder Jugend Souvenir Herzen knicktest du in Scharen Zeuge einst der Gunst des Zaren.

2. OFFIZIER

Komisch bist du ganz und gar Fehl geht deiner Rede Schwall Tröpfeln aus dem Samovar ist für dich ein Wasserfall. Nimm ein Beispiel dir an mir ich steh mitten drin im Leben Landvermesser bin ich heute und ich schufte wie ein Stier. Voller Arbeit ist das Leben das ich liebe das mich rührt geh auch du wohin nun eben die Revoluzjon uns führt.

1. OFFIZIER

Ich bin dafür nicht geschaffen Wachs so schmelz ich in der Not Kennst du Petja noch den Affen mit ihm teile ich mein Brot.

2. OFFIZIER

Wie du meinst, doch denk daran was ich sage, das ist wahr: alles Lüge, anders wird es schon ab Anfang Januar, i. OFFIZIER

O wenn das wahr war! O der Nevskij! O Kaleschen! O Friede aller Fürsten, Volkes leises Murren.

278 Daniil Charms

O Reußenreich erwärmt durch Herrschaft erhebst du dich als Doppeladler über ganz Europa als Kinder hüpfen deine Söhne als Jünglinge in Hosenträgern durch den Schnee einatmen werd ich diese Augenblicke Töne in göttlicher Glückseligkeit an Ufer-Quai. BEIDE singen

Kommunisten und Tataren sind bankrott sind bankrott Kommt der Englishman gefahren sind sie tot das geht flott.

Sie tanzen, die Beine werfend.

i. OFFIZIER

Was ist das? I.OFFIZIER

Mir scheint das ist ein Tisch. f

1. OFFIZIER £ Sie tragen ihn wie eine Leiche. l

2. OFFIZIER '. Das ist die Vision der Gegenwart

er fliegt zur Kneipe. Da kommt auch der Stuhl.

Und da der Säufer da die Hure

dann wir und dann das ganze Land!

Gehn wir hinaus und schauen zu

trinken ein Fläschchen und zurück. DER TlSCH Mil fehlt del Mut. Bin so allein. SÄUFER Quatsch Quatsch Quatsch. Du redest Quatsch. TlSCH Weil ich zu gal nichts nütze bin. HURE Uh, was für Blödsinn Sie reden! SÄUFER Dem paßt unser Benehmen nicht. HURE Saša, Saukerl! Grabsch nicht an mir herum! SÄUFER Warte doch warte doch mal... HURE Nein ich will nicht.

Sie wehrt sich mit Händen und Füßen. Der Säufer küßt sie.

Komödie der Stadt Petersburg 279

2. OFFIZIER Küssen wir uns doch auch!

1. OFFIZIER Na, los doch!

Sie küssen sich.

2. OFFIZIER Was für ein wunderbares Wetter!

1. OFFIZIER Ein bißchen fade.

2. OFFIZIER Das ist die schönste Jahreszeit in Petersburg: Frühling an der Neva Gestade.

1. OFFIZIER Küssen wir uns!

2. OFFIZIER Küssen wir uns.

Sie küssen sich. Komsomolze Vertunov kommt auf dem Fahnrad gefahren.

2. OFFIZIER Bürger! Sie haben was verloren. Komsomolze Vertunov hält an und steigt ah.

2. OFFIZIER April April! KOMSOMOLZE VERTUNOV Wie? Was?

1. OFFIZIER Wir haben uns nur einen Scherz erlaubt.

2. OFFIZIER Am ersten April gehört sich das so. Schweigen. Wir haben uns mit Ihnen einen Scherz erlaubt.

Schweigen.

1. OFFIZIER Weil so schönes Wetter ist... Erster April... Da hat er Ihnen zugerufen...

Komsomolze Vertunov geht schweigend mit seinem Fahrrad ab.

2. OFFIZIER Hast du gesehen?

2. OFFIZIER Ja. Verdammter Mist. Jetzt weiß er, wer wir sind, i. OFFIZIER Ja ja, wir sind gefährlich

im Flüsterton wird sind gefährlich

erhaben wir sind gefährlich!

280 Daniil Charms

2. OFFIZIER Ich bin überzeugt, wir sind gefährlich. Nikolaus II. mit einer Aktentasche tritt auf.

2. OFFIZIER Guten Tag Nikolaus Aleksandrovič. NIKOLAUS II. Guten Tag. Was gibt es Neues?

1. OFFIZIER Es steht schlecht. Guten Tag. NIKOLAUS II. Guten Tag. Was ist passiert?

2. OFFIZIER Sie wissen ja, wir sind gefährlich. Sie und wir. Die Bolschewiken wissen das genau. Eben haben wir den Komsomolzen Vertunov gesehen, er spürt uns offensichtlich nach.

1. OFFIZIER Na klar! Das Volk steht schließlich auf unsrer Seite. NIKOLAUS n. Die Armee auch. Ich habe neulich gesehen, wie

die Soldaten, als sie mich bemerkten, die Köpfe senkten und ihren Kommandeuren aus den Augenwinkeln Blicke zuwarfen - da war mir alles klar. Ein Wort von mir, und sie sterben wie ein Mann für die Befreiung des Vaterlandes.

2. OFFIZIER Aber sie können uns aufspüren und dann in aller Ruhe umlegen.

NIKOLAUS II. Ach was. In dem Krankenhaus, in dem ich arbeite, arbeitet auch ein gewisser ehemaliger Mensch Ivan Apollonovič Ščepkin. Er hat überallhin Zutritt. Und im gegebenen Augenblick würde er mir sagen, wenn etwas faul ist bei denen.

i. OFFIZIER Das walte Gott. Es dauert nicht mehr lange. Ich habe gehört, Nikolaus Nikolaevič stellt ein lootausend-Mann-Heer auf, ausgerüstet mit Giftgas, an dem nur Kommunisten sterben.

NIKOLAUS II. Ja, das ist wahr. Das hat mit Ščepkin schon erzählt.

Sie stecken sich eine Zigarette an und gehen ab.

i. OFFIZIER hinter der Bühne Nikolaus Aleksandrovič, - und wann schlagen wir endlich los, bald?...

Auftritt Katja und Komsomolze Vertunov.

Komödie der Stadt Petersburg 281

KATJA Wo warst du denn so lange?

KOMSOMOLZE VERTUNOV Mich haben unterwegs zwei Spinner aufgehalten. Ich fahre, sehe schon von weitem, da tanzen zwei und werfen die Beine in die Höhe. Als ich näherkam, ruft der eine: »Bürger! Sie haben was verloren.« Ich steige ab, und sie freun sich wie die Schneekönige, daß sie mich drangekriegt hatten mit dem Ersten April.

282 Daniil Charms

ZWISCHENSPIEL

Regen runde Schultern sich

Mädchen ach du böses Mädchen

geh Marija auf den Waldweg

ruf von dort als Auerhahn

wink von dort mit deinem Schirm

spring von dort als Kringel

tanz von dort ins Zimmer

in die Kammer in das Zimmer KLEINER CHOR

In die Kammer

in die Kammer

sich verflog

ein roter Vogel

auf der Bank

gelb ein Mädchen

löst am Kopf

den schwarzen Zopf GROSSER CHOR

Kam vorbei

das Luftgetier

krachend flog

das Fenster zu KLEINER CHOR

Flog vorbei

das Luftgetier

brach entzwei

der rote Vogel

Übers Meer das große und gekrümmte kamen viele Räuber mit dem Schiff segelten des Nachts bis an das Häuschen herzlos böse Räuber an das Häuschen Und sie grabschen nach ihm mit den Händen ziehn im Schlaf das Mädchen an den Haaren da erwacht die Schöne voller Ängste Mutter weinet in der guten Stube

Komödie der Stadt Petersburg 283

CHOR DER RÄUBER

Mädchen auf und komm schon komm beweg dich

Levka tanzt stampft mit dem Absatz auf

torkelnd zieht die Schenke durch die Stadt

und die Straßen kippen weg ins Leere MARIJA

Ich... bitte... euch... laßt mich... RÄUBER

Durch die Luft wirst du uns nicht entkommen

weggekippt die Straßen sind ins Leere. KLEINER CHOR

Häusermauern stürzten in die Meere

heimgeschwommen in das Luftgetier.

1. RÄUBER

Willst du uns ein Stück Fleisch braten? MARIJA

Nein, will ich nicht.

2. RÄUBER

Willst du uns die Krawatten binden? MARIJA

Nein, will ich nicht.

3. RÄUBER

Willst du uns von den Wolken erzählen ? MARIJA

Nein. Mit den Lüften bin ich nicht bekannt

ich war kein Vogel in den Wolken

ich flocht die schwarzen Zöpfe

Obernibesov suchte mich

er klopfte manches Mal an unsre schiefe Tür

und weinte auf den Rädern still

da überm Berg

da wetzte er das Messer an den Steinen

entzündete die weiße Kerze

kein Mensch kann fliegen

er aber rief: ich fliege!

Er stürzte aus dem Fenster

und mich ließ er allein.

284 Daniil Charms

Ich war kein Vogel in den Wolken er war mein Freund weht Beulen und Strahlen doch er wird wiederkommen wird klopfen und auf einmal...

Das heißt, sie fliegt davon.

DIE RÄUBER

Halt! Halt! Halt! Halt! Halt! Bring zurück uns deinen Zettel Schätzchen Levka tanzt stampft mit dem Absatz auf Torkelnd zieht die Schenke durch die Stadt und die Straßen kippen weg ins Leere KLEINER CHOR

Wie ein Falke flog das Mädchen fort von ihnen Und die Räuber müssen tanzen ohne sie Mutter weinet aber plötzlich tanzt sie ach! Alle werfen tanzend sie den Kopf zurück Durch die Stube kommt die Axt geflogen und ihr nach Ivan Ivanyč Samovar Levka stürzt und fällt in ein verbognes Sieb und die Sonn erlischt im Wind wie eine Kerze...

Das Licht erlischt und die Musik wird immer leiser.

i

Komödie der Stadt Petersburg 285

TEIL III

ŠČEPKIN stürzt herein Machen Sie die Tür zu! Es zieht ganz

fürchterlich! Da dieses Fenster muß auch zugemacht werden.

Hier ist es ja kein Wunder, wenn man sich erkältet. FAMUSOV

Das Zettelchen fliegt mit dem Wind

es wehn die Stores und die Portieren

Staub wirbelt unterm Teppich auf

Husaren flüstern: es ist Zeit.

Ein Höfling zieht den Vorhang weg

und sagt kaum hörbar: seid bereit.

und winkt zum Glockenturm hinüber.

Schon belln die Hunde vor der Tür

schon tönt die Glocke, bellen Schüsse -

der Zar wirft eine Tür ins Schloß

und tritt ins Zimmer, wo ihn aber

verfolgen gleich die Kandelaber

gebückte Strahlen zucken zittern

eine Kalesche blitzt, fängt Feuer

und kippt, taucht unter ihren Kopf.

Mit einem Schrei die Luft betäubend

wälzt sich ins Haus ein großer Strom.

Er bläst den Schranzen in die Augen

in die Portieren, Stores, Ikonen

er wirbelt Röcke, Puder, Daunen

hoch in die Luft, in Asche legt

Paläste er. Am Morgen dann

fließt er, ein Meer, ins ganze Land.

Die Welle fliegt, ihr folgt die zweite

spült hoch die Zarin und beiseite

zerknüllt das Ziegentaschentuch

den Zar sie an die Decke trug. ŠČEPKIN

Wehn die Stores und wirbeln Federn

Wind die Zäune niederbricht

ich geh hin und schließ die Tür

warte, Famusov, auf mich.

z86 Daniil Charms

FAMUSOV

Ach laß wir schließen nur die Fenster

du siehst: ich gehe gehe schmeiß

den Flügel zu, die Riegel tanzen

die Schräubchen schlittern übers Eis. ŠČEPKIN

Verschließt die Fenster Flügel Türen

Seid nicht bös bleibt draußen Winde

Wenn es Nacht wird kommen Tiere

geflügelt, um uns hier zu finden. FAMUSOV

Nur Van ja keine Angst

vorüber geht das Triumphieren

die tausend Tiere

das runde Fräulein

das Katzenwunder

der liegende Berg ŠČEPKIN ruft

Nein Pavel ich hab keine Angst

nein Afanasjevič ich furcht mich nicht

meine Waffe ist gerichtet

auf den fliegenden Feind

den verachteten Feind

ohne Huf und ohne Segel. TIER

Mieser Kerl verschwinde du

ich fül milu Kai Fallü

willu plu af Lugel Ukk

Mugel Kake Kiku Kugel ŠČEPKIN

Aber was ist denn das? MENSCH DER AUSSIEHT WIE EINE WURST

Er hat keine Zähne mehr, darum. ŠČEPKIN

Und wer bist du?

Hilfe!

Er wirft das Gewehr weg.

Komödie der Stadt Petersburg 287

Aus dem Kasten springt ein Popanz: Kopf auf einer langen Feder.

POPANZ

Maul hal - ten - ten - ten - ten - ten - ten DIE UNGEHEUER IM CHOR

Wir sind gern wo es zieht

wos zieht wos zieht zieht zieht

wir kommen von weit her her her

weit her mein Herr hier her

FAMUSOV

Ihr schert euch raus ! Der Herr im Haus bin ich, und ihr seid Nichts, ein Mythos, leerer Wahn Produkt der müßigen Phantasie beschämt der Sonne Energie. DIE UNGEHEUER IM CHOR mit Musik O liebwerter Famusov

! - ! ! - ! Kirgise du mit Bart aus Stoff

! - ! ! - ! Kirgise ohne Bart und Haar

! - ! ! - ! Famusov - du wunderbar

Marija kommt hereingeflogen.

MARIJA O Gott, wo bin ich hingeraten?

ŠČEPKIN Du lieber Gott.

FAMUSOV Hm.

MARIJA

Ich fuhr spazieren auf dem Meer und plötzlich war das Ruder fort Da blähten sanft sich meine Segel vom Wind getrieben fuhr mein Boot Jetzt kommt mir aber die Idee: sagt mir, wo bin ich hier Monsieur?

288 Daniil Charms

ŠČEPKIN Sie sind in der Stadt Letheburg. MARIJA Wo? FAMUSOV In Leningrad. MARIJA

Das heißt in unsrer Hauptstadt bin ich

Ach ist das schön! Ach ist das gut

Hier wohnt ein guter Freund von mir

Dreistockhochnov er ist bei der Bank

Oberbuchführer.

Er heißt Kirill Davydyč

Dreistockhochnov

und trägt ein Körbchen auf der Schulter. FAMUSOV

Dreistockhochnov ist das nicht Ihr Onkel? MARIJA

Nein. Er ist mein Bräutigam und Freund. ŠČEPKIN

Merkwürdig er erinnert mich an jemand.

Vor meinen Augen dreht es sich

und dreht sich. FAMUSOV

Gar sicher ist er der Nabel der Welt? DER MENSCH DER AUSSIEHT WIE EINE WURST

Ein Naturgewächs? DAS TIER

Klänkliche Kulakenblut. MARIJA

Nein, er ist einfach ein Mensch. ŠČEPKIN

Und trotzdem dreht er sich ins Ohr

ins Auge dreht sich der Verdammte

wühlt die Erinnrung auf

und liegt mir auf der Zunge

heißt er nicht Dreistockhochnov

Kirill Davydyč oder so

er dreht und dreht sich

Wirbel Schneegestöber

Komödie der Stadt Petersburg

NIKOLAUS II. kommt herein Ha! die ganze ehrenwerte Gesellschaft beisammen!

ŠČEPKIN Wünsche Gesundheit Euer Majestät. NIKOLAUS II. Verehrung - aber wer ist das?

MARIJA

Ich heiße Marija

ich wohnte in Großmutters Kammer

ich ging im Park fuhr manchmal nach Kazan

dann sprang ich in das Boot und rudernd

jagt ich dem Kuß des Messers zu

ich kam zu euch im Luftballon geflogen

das Seil in der durchfrornen Hand

da sah ich plötzlich goldene Türme

Schornsteine fauchten und Raketen zischten

ich dachte: ja das ist die Stadt. Das Meer schwimmt fort.

Der Tag bricht an. Der Himmel blaut

in diesem Graublau wogt die Braut

der Hauptstadt, die Neva. PETER

Die Stadt erbaute ich an Finnlands Küste

ich sprach Hier wird die Hauptstadt sein. Im Nu

im Schlaf gerodet war der dichte Wald bis auf die Wurzeln

und laute Kutschen stießen oft nun an der Hütten Fenster. NIKOLAUS n.

Du Peter warst der Zar

ich drücke wie ein Mädchen mich

entlang am Ufer der Neva. O breiig träger Fluß!

die Jahre gehn, die Wochen ziehn vorüber

du Schöne aber schwimmst nicht fort ins Meer.

Der Ansturm des Varägers der schrille Schrei des Deutschen

Mongoleningrimm fliegt über die Berge des Ural

dich Schöne selbst der Donner nicht erschüttert

die Stadt an deinen Ufern wird nicht fallen.

Drum: lebe wohl, leb wohl du meine Freundin

unrühmlich ruhmlos geh ich von den Sümpfen fort.

Rußland leb wohl. Langsam erlischt das Leben... -

Und du Marija, was sagst du dazu?

290 Daniil Charms

MARIJA

Hier lebt mein Bräutigam. Kirill Davydyč

ist angestellt bei einer Bank. Ich liebe ihn.

Er heißt glaub ich Dreistockhochnov

er trägt ein Körbchen auf der Schulter. NIKOLAUS n.

Ach ja ich weiß ich kenne ihn

das ist ein Ding! Man rufe uns Kirill Davydyč!

Wir hatten sogar Streit, und Ščepkin kanns bezeugen...

Oh, meine Verehrung. KOMSOMOLZE VERTUNOV

Tag Zar.

Meine Frau - darf ich vorstellen

sie heißt Katjuša. NIKOLAUS ll. Sehr erfreut. KOMSOMOLZE VERTUNOV Und das ist Pavel Afanasjevič Fa-

musov.

KATJUŠA Wir kennen uns doch längst! KOMSOMOLZE VERTUNOV Und das ist Vanja Ščepkin. ŠČEPKIN Ihr Diener.

KOMSOMOLZE VERTUNOV Und wer ist das? NIKOLAUS II. Marija Pavlovna ist hergekommen in die Hauptstadt, zu ihrem Bräutigam

KOMSOMOLZE VERTUNOV In was für eine Hauptstadt? NIKOLAUS n. In die Stadt Petersburg. ŠČEPKIN Leningrad Euer Majestät.

KOMSOMOLZE VERTUNOV Was denn für ein Petersburg?! NIKOLAUS II. In - die - Stadt - Pe - ters - bürg.

Daniil Charms Elizaveta Bam

Ein kleines schlichtes Zimmer, wenig Tiefe

i - Stück Realistisches Melodram

ELIZAVETA BAM Gleich, eh ich mich versehe, geht die Tür auf und sie kommen herein... Sie kommen bestimmt, um mich zu fangen und vom Erdboden zu vertilgen. Was habe ich angestellt. Was habe ich angestellt. Wenn ich es nur wüßte... Fliehen. Aber fliehen wohin. Diese Tür führt auf die Treppe, und auf der Treppe stoße ich auf sie. Durchs Fenster. Schaut zum Fenster hinaus. Hu! Zu hoch... Da kann ich nicht runterspringen. Was soll ich nur tun... Da, Schritte. Das sind sie. Ich schließe die Tür ab und mache nicht auf. Sollen sie klopfen, solange sie wollen.

£5 klopft an die Tür, dann eine Stimme, bedrohlich.

STIMME Elizaveta Bam, aufmachen. Pause. Elizaveta Bam, aufmachen.

STIMME VON FERNE Was ist, sie macht die Tür nicht auf?

STIMME HINTER DER TÜR Sie wird aufmachen. Elizaveta Bam, aufmachen.

Elizaveta Bam wirft sich aufs Bett und hält sich die Ohren

Stimmen hinter der Tür:

i. STIMME Elizaveta Bam, ich befehle Ihnen, unverzüglich aufzumachen.

292 Daniil Charms

2. STIMME leise Sagen Sie ihr, sonst brechen wir die Tür auf. Laß mich mal probieren.

1. STIMME laut Wir brechen die Tür auf, wenn Sie nicht sofort aufmachen.

2. STIMME leise Vielleicht ist sie gar nicht da.

1. STIMME leise Sie ist da. Wo soll sie denn sonst sein. Sie ist die Treppe hinauf. Hier ist nur die eine Tür. Wo soll sie also sein. Laut. Elizaveta Bam, ich sage es Ihnen zum letzten Mal, machen Sie auf. Pause. Los, aufbrechen.

Elizaveta Bam hebt den Kopf. Unter alliterativen Geräuschen wird versucht, die Tür aufzubrechen. Elizaveta Bam läuft zur Bühnenmitte und horcht.

2. STIMME Ein Messer haben Sie nicht?

Stoß. Elizaveta Bam horcht, die eine Schulter vorgereckt.

1. STIMME Nicht so, mit der Schulter.

2. STIMME Sie gibt nicht nach. Warten Sie, ich versuche es noch mal so.

Die Tür erbebt,, bricht aber nicht auf.

ELIZAVETA BAM Ich mache Ihnen die Tür nicht auf, bevor Sie mir nicht sagen, was Sie mit mir machen wollen.

i. STIMME Sie wissen genau, was Ihnen bevorsteht.

ELIZAVETA BAM Nein, weiß ich nicht. Sie wollen mich umbringen.

1. STIMME Sie stehen unter schwerer Anklage.

2. STIMME gleichzeitig Uns entkommen Sie sowieso nicht. ELIZAVETA BAM Vielleicht sagen Sie mir, wessen ich mich

schuldig gemacht haben soll, i. STIMME Das wissen Sie sehr wohl. ELIZAVETA BAM Nein, ich weiß es nicht. Sie stampft mit dem

Fuß auf. i. STIMME Sie gestatten, daß wir Ihnen nicht glauben.

Elizaveta B am 293

2. STIMME Sie sind eine Verbrecherin.

ELIZAVETA BAM Ha-ha-ha-ha. Und wenn Sie mich umbringen, glauben Sie, Sie hätten ein reines Gewissen?

i. STIMME Wir tun das in Übereinstimmung mit unserem Gewissen.

ELIZAVETA BAM Wenn das so ist, o weh, aber dann haben Sie kein Gewissen. Läuft hin und her.

2 - Realistisch-komödiantisches Genre

2. STIMME Wie, kein Gewissen? Petr Nikolaevič, sie sagt, wir hätten kein Gewissen.

ELIZAVETA BAM Sie, Ivan Ivanovič, haben überhaupt kein Gewissen. Sie sind einfach ein Betrüger.

2. STIMME Wer ist ein Betrüger? Ich? Ich? Ich ein Betrüger?

1. STIMME Moment, Ivan Ivanovič. Elizaveta Bam, ich befehle Ihnen...

2. STIMME Nein, Petr Nikolaevič, bin ich ein Betrüger?

1. STIMME Seien Sie nicht gleich beleidigt. Elizaveta Bam, ich befeh...

2. STIMME Nein, Moment, Petr Nikolaevič, sagen Sie mir, bin ich ein Betrüger?

1. STIMME Also lassen Sie das doch endlich.

2. STIMME Ich bin Ihrer Meinung nach ein Betrüger?

1. STIMME Ja, ein Betrüger!!

2. STIMME Ach so, ich bin Ihrer Meinung nach ein Betrüger? So sagten Sie doch?

Elizaveta Bam läuft auf der Bühne hin und her.

1. STIMME Hauen Sie ab! Alter Schaf s köpf!! Und das in verantwortlicher Mission. Ein Wort, und schon gehen Sie die Wände hoch. Was also sind Sie? Einfach ein Idiot!

2. STIMME Und Sie sind ein Scharlatan, i. STIMME Hauen Sie ab!

ELIZAVETA BAM Ivan Ivanovič ist ein Betrüger.

294 Daniil Charms

2. STIMME Ihnen verzeihe ich das nie. i. STIMME Und ich werfe Sie gleich die Treppe hinunter. IVAN IVANOVIČ Versuchen Sie es doch.

PETR NIKOLAEVIČ Ich werf, ich werf, die Treppe werf ich Sie hinunter!

Elizaveta Bam öffnet die Tür. Ivan Ivanovič steht auf Krücken gestützt, Petr Nikolaevič sitzt auf einem Stuhl, die Wange verbunden.

ELIZAVETA BAM Die Arme sind zu kurz!

PETR NIKOLAEVIČ Wessen Arme, meinen Sie meine?

IVAN IVANOVIČ Ja doch, Ihre. Sagen Sie, Sie meinen doch seine?

Ivan Ivanovič zeigt auf Petr Nikolaevič. ELIZAVETA BAM Ja, seine.

PETR NIKOLAEVIČ Elizaveta Bam, sie dürfen so nicht sprechen. ELIZAVETA BAM Warum nicht? PETR NIKOLAEVIČ Weil Sie jede Stimme verloren haben. Sie

haben ein widerwärtiges Verbrechen verübt. Sie haben mir

Frechheiten zu sagen. Sie sind eine Verbrecherin. ELIZAVETA B AM Warum? PETR NIKOLAEVIČ Was warum? ELIZAVETA BAM Warum ich eine Verbrecherin bin? PETR NIKOLAEVIČ Weil Sie jede Stimme verloren haben. IVAN IVANOVIČ Einfach jede Stimme verloren. ELIZAVETA BAM Ich hab sie nicht verloren. Das können Sie an

der Uhr ablesen.

Der Bühnenhintergrund fährt weg und läßt an der Tür Ivan Ivanovič und Petr Nikolaevič herein.

3 - Unsinnig komisch-naives Genre

PETR NIKOLAEVIČ So weit wird es nicht kommen. Ich habe vor der Tür eine Wache postiert, und beim geringsten Stoß bekommt Ivan Ivanovič den Schlucken.

Elizaveta Barn 295

ELIZAVETA B AM Zeigen Sie es. Bitte zeigen Sie es. PETR NlKOLAEVIČ Also, schauen Sie her. Angenommen, wir verdrücken uns. Eins, zwei, drei. Tritt gegen den Hocker.

Petr Nikolaevič geht zum Proszenium, Ivan Ivanovicfolgt ihm. Ivan Ivanovic hat laut den Schluckauf, stolpert gegen den Hocker.

ELIZAVETA BAM Nochmal. Bitte.

Pause. Ivan Ivanovic schluckt noch einmal.

ELIZAVETA BAM Wie machen Sie das?

Sie wiederholen es. Ivan Ivanovic stolpert wieder gegen Hocker, und Ivan Ivanovic schluckt wieder.

PETR NlKOLAEVIČ Ganz einfach. Ivan Ivanovic, zeigen Sie es ihr. IVAN IVANOVIC Mit Vergnügen. Hockt sich auf alle Viere und

zieht ein Bein nach. ELIZAVETA BAM Aber das ist ja wunderbar. Ruft. Mama!

Komm doch her. Die Gaukler sind da. Gleich kommt meine

Mama... Machen Sie sich bekannt, Petr Nikolaevič, Ivan

Ivanovic. Zeigen Sie uns ein Kunststück. IVAN IVANOVIC Mit Vergnügen. PETR NIKOLAEVIČ Allez-hopp!

Ivan Ivanovic versucht einen Kopfstand, fällt aber um.

ELIZAVETA BAM Gleich, gleich.

IVAN IVANOVIC Man kann sich hier nirgends abstützen. Auf

dem Boden sitzend. ELIZAVETA BAM Wollen Sie vielleicht ein Handtuch? Fängt an

zu spielen.

Auf die Bühne heraus kommen Papaša und Mamasa, setzen sich und schauen zu.

296 Daniil Charms

IVANlVANOVIČ Wozu.

ELIZAVETA BAM Einfach so. Hi-hi-hi-hi...

IVAN IVANOVIČ Sie haben ein sehr angenehmes Äußeres.

ELIZAVETA BAM Ja nun? Warum?

IVAN IVANOVIČ Ä-ä-ä-ä, weil, Sie sind ein Vergißmeinnicht. Er schluckt laut.

ELIZAVETA BAM Ich ein Vergißmeinnicht? Wirklich? Und Sie sind eine Tulpe. »Tulpe« durch die Nase.

IVAN IVANOVIČ Wie?

ELIZAVETA BAM Eine Tulpe.

IVAN IVANOVIČ befremdet Sehr angenehm.

ELIZAVETA BAM durch die Nase Darf ich Sie abpflücken?

VATER mit Baßstimme Elizaveta, laß den Blödsinn.

ELIZAVETA BAM zu ihrem Vater Gleich, Papočka. Z« Ivan Ivanovičy durch die Nase; dabei hat sie sich hingehockt und mit beiden Händen aufgestützt. Gehn Sie doch noch mal auf allen Vieren.

IVAN IVANOVIČ Wenn Sie gestatten, Elizaveta Kakerlakovna, gehe ich jetzt lieber nach Hause. Zu Hause erwartet mich meine Frau. Sie hat viele Kinder, Elizaveta Kakerlakovna. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen lästig gefallen bin. Vergessen Sie mich nicht. Ich bin eben ein Mensch, der von allen gejagt wird. Fragt sich nur, weshalb. Habe ich gestohlen? Nein. Elizaveta Eduardovna, ich bin ein ehrbarer Mensch. Ich habe zu Hause eine Frau. Meine Frau hat viele Kinder. Gute Kinder. Jedes von ihnen hält eine Streichholzschachtel zwischen den Zähnen. Sie werden mir verzeihen. Ich, Elizaveta Michajlovna, gehe jetzt nach Hause.

Petr Nikolaevič geht auf Papaša und Mamasa zu. Mamasa ist über irgendetwas unzufrieden, geht zum Proszenium. Ivan Ivanovič zieht den Mantel an und geht ab. Elizaveta Bam bindet eine Schnur um Mamalas Beiny das andere Ende der Schnur bindet sie an einen Stuhl. Alle schweigen.

MAMAŠA singt zur Musik

Der Morgen entflammet,

Elizaveta Bam 297

Die Wasser sich röten,

Es fliegt übern See die pfeilschnelle Möwe... usw.

Mamasa hört auf zu singen und geht an ihren Platz zurück, wobei sie den Stuhl hinter sich herzieht.

PETR NIKOLAEVIČ So. Da sind wir endlich. PAPAŠA Dank sei dir, o Herr. Geht ab.

4 - Milieu-Komödie realistisch

ELIZAVETA BAM Und du, Mama, gehst du heute etwa nicht

spazieren?

MAMASA Hast du denn Lust? ELIZAVETA B AM Schreckliche! MAMASA Nein, ich gehe nicht. ELIZAVETA BAM Ach ko-o-om, ge-ehn wir. MAMASA Also gehn wir, gehn wir. Sie gehen ab.

Die Bühne ist leer.

5 - Rhythmisch (Radix) Rhythmus des Autors

IVAN IVANOVIČ und PETR NIKOLAEVIČ kommen hereingestürzt

Wo ist sie, wo, wo, wo. Elizaveta Bam, Elizaveta Bam, Elizaveta Bam!

PETR NIKOLAEVIČ Da, da, da... IVAN IVANOVIČ Dort, dort, dort. PETR NIKOLAEVIČ

Wie kommen wir hierher, Ivan Ivanovič? IVAN IVANOVIČ

Man hat uns eingesperrt.

298

Daniil Charms

PETR NIKOLAEVIČ

So eine Unverschämtheit. Bitte mir kein Kilo. IVAN IVANOVIČ

Dann nehmen Sie ein Pfund,

fünf minus fünf, fünfhundert Gramm. PETR NIKOLAEVIČ

Wo ist Elizaveta B am? IVAN IVANOVIČ

Warum wolln Sie sie ham? PETR NIKOLAEVIČ

Um sie zu töten. Wamm! IVAN IVANOVIČ

Aham, Elizaveta Bam

sitzt dort auf einer Bank. PETR NIKOLAEVIČ

Dann nichts wie hin und ran.

Singsang.

Beide laufen auf der Stelle.

Auf die Vorderbühne wird ein Baumstamm gebracht und, während Petr Nikolaevič und Ivan Ivanovič auf der Stelle laufen, zersägt.

Hopp, hopp hoch das Bein, hinterm Berge Abendschein Wolken rosa triefen puch, puch Lokomotiven chuk, chuk Uhu schräg Baumstamm -zersägt!

Die Kulisse fährt beiseite, dahinter sitzt Elizaveta Bam,

Elizaveta Bam 299

6 - Milieu-Radix

ELIZAVETA BAM Sie suchen mich? Steht auf und geht ab. PETR NIKOLAEVIČ Ja, Sie. Vanja, hier ist sie. Er schiebt die

Kulisse weg, und hinter der Kulisse sitzt Elizaveta Bam. IVAN IVANOVIČ Wo, wo, wo! PETR NIKOLAEVIČ Hier, unter dem Busch.

Ein Bettler kommt hinzu.

IVAN IVANOVIČ Zieh sie da raus.

PETR NIKOLAEVIČ Sie läßt sich nicht rausziehn.

BETTLER zu Elizaveta Bam Genossin, helfen Sie mir.

IVAN IVANOVIČ schluckend Das nächste Mal habe ich bestimmt

mehr Erfahrung. Ich habe mir alles genau gemerkt. ELIZAVETA BAM zu dem Bettler Ich habe nichts. BETTLER Nur eine Kopeke. ELIZAVETA BAM Frag mal den Onkel da. Sie zeigt auf Petr

Nikolaevič. PETR NIKOLAEVIČ zu Ivan Ivanovič, ebenfalls mit Schlucken

Paß auf, was du tust.

Auf die Bühne fährt ein Tisch. Elizaveta Bam rückt einen Stuhl an den Tisch und setzt sich.

IVAN IVANOVIČ Ich grabe die Wurzeln aus.

BETTLER Helft mir, Genossen.

PETR NIKOLAEVIČ zu dem Bettler Los, kriech da drunter.

IVAN IVANOVIČ Schön auf dem Bauch.

PETR NIKOLAEVIČ Laß ihn, das schafft er schon.

Der Bettler kriecht unter der Kulisse hindurch.

ELIZAVETA BAM Setzen Sie sich doch. Warum wollen Sie zuschauen?

Pause.

300 Daniil Charms

IVAN IVANOVIČ Danke sehr.

PETR NIKOLAEVIČ Setzen wir uns. Setzt sich.

Schweigen. Sie essen Suppe.

ELIZAVETA B AM Warum mein Mann nur nicht kommt.

PETR NlKOLAEVIČ Er wird schon kommen. Springt auf und

läuft über die Bühne. Fang mich, fang mich! IVAN IVANOVIČ Ha-ha-ha! Läuft Petr Nikolaevič nach. Und

wo ist man frei?

ELIZAVETA BAM Hier, hinter diesem Strich. PETR NIKOLAEVIČ klatscht Ivan Ivanovič ab Du bist dran.

Auf die Bühne kommt Papaša, eine Schreibfeder in der Hand.

ELIZAVETA BAM Ivan Ivanovič, kommen Sie hierher. IVAN IVANOVIČ Ha-ha-ha-ha, ich habe keine Beine mehr! PETR NIKOLAEVIČ Dann eben auf allen Vieren. PAPAŠA ins Publikum Von der geschrieben stand. ELIZAVETA BAM Wer ist dran? IVAN IVANOVIČ Ich, ha-ha-ha, in Hosen.

PETR NIKOLAEVIČ ^ � , , , , \ Ha-ha-ha-ha! ELIZAVETA BAM J

PAPAŠA Kopernikus war ein großer Gelehrter. IVAN IVANOVIČ wälzt sich auf dem Boden Ich habe Haare auf dem Kopf.

PETR NIKOLAEVIČ \ TTUUUUUUU. _ _ } Ha-na-na-na-ha-ha-ha-ha!

ELIZAVETA BAM J

IVAN IVANOVIČ Ich liege ganz auf dem Boden.

PETR NIKOLAEVIČ ^ __ , , , , } Ha-ha-ha-ha! ELIZAVETA BAM J

Mamasa kommt auf die Bühne.

ELIZAVETA BAM Oh, ich kann nicht mehr. PAPAŠA Wenn du einen Vogel fängst, schau nach, ob er Zähne hat. Wenn er Zähne hat, ist er kein Vogel. Geht ab.

Elizaveta Bam 301

7 - Feierliches Melodram, durch Radix unterstrichen

PETR NIKOLAEVIČ hebt die Hand Ich bitte Sie in aller Form, auf meine Worte zu hören. Ich will Ihnen beweisen, daß jedes Unglück unerwartet eintritt. Als ich noch ein ganz junger Mann war, wohnte ich in einem kleinen Haus mit einer Tür, die quietschte. Außer mir gab es da nur noch Mäuse und Kakerlaken. Kakerlaken gibt es überall. Wenn die Nacht hereinbrach, schloß ich die Tür ab und löschte die Lampe. Ich schlief und hatte vor nichts Angst.

STIMME HINTER DER BÜHNE Vor nichts.

MAMAŠA Vor nichts.

SCHALMEI HINTER DER BÜHNE I-I.

IVAN IVANOVIČ Vor nichts.

KLAVIER

I-I. PETR NIKOLAEVIČ Vor nichts. Pause. Ich brauchte keine Angst

zu haben. Räuber hätten kommen und das ganze Haus

durchsuchen können. Was hätten sie gefunden? Nichts. SCHALMEI HINTER DER BÜHNE

I-I.

Pause.

PETR NIKOLAEVIČ Und wer hätte sonst noch zu mir kommen können, in der Nacht? Doch niemand sonst? Nicht wahr?

STIMME HINTER DER BÜHNE Doch niemand sonst?

PETR NIKOLAEVIČ Nicht wahr? Aber eines Nachts wache ich auf...

IVAN IVANOVIČ ... und sehe: die Tür steht offen, und in der Tür steht eine Frau. Ich sehe sie mir genau an. Sie steht da. Es ist ziemlich hell. Es muß gegen Morgen gewesen sein. Auf jeden Fall habe ich ihr Gesicht gut sehen können. Und das war sie da. Zeigt auf Elizaveta Bam. Damals sah sie aus wie...

Sie verdecken sich gegenseitig.

302 Daniil Charms

ALLE Wie ich.

IVAN IVANOVIČ Ich spreche, also bin ich.

ELIZAVETA BAM Was Sie nicht sagen.

IVAN IVANOVIČ Ich spreche, um zu sein. Danach, denke ich, es ist schon zu spät. Sie hört mir zu. Ich fragte sie, womit sie es tun wolle. Sie sagt, sie habe sich mit ihm duelliert, auf Degen. Sie hätten sich tapfer geschlagen, aber sie sei nicht daran schuld, daß sie ihn umgebracht habe. Denk nach, warum hast du Petr Nikolaevič umgebracht?

Alle gehen ab, es bleiben nur Elizaveta Bam und Ivan Ivanovič.

ELIZAVETA BAM Hurra, ich habe niemanden umgebracht. IVAN IVANOVIČ Einfach einen Menschen erstechen. Welch List und Tücke! Hurra, du hast es getan, aber warum?

8 - Umschichtung der Höhen

ELIZAVETA BAM geht auf die Seite Uuuuuuuu-uuuu-uuuu-u.

IVAN IVANOVIČ Wölfin.

ELIZAVETA BAM Uuuuuuuuu-uuuuu-u-u.

IVAN IVANOVIČ Wö-ö-ö-ölfin!

ELIZAVETA BAM erschauert U-u-u-u-u-u-u - Backpflaumen.

IVAN IVANOVIČ U-uu-urrr-großmutter. Hand.

ELIZAVETA BAM Triumph.

IVAN IVANOVIČ Auf ewig verloren!

ELIZAVETA BAM Ein Pferd wie ein Rabe, und auf dem Pferd ein Soldat.

IVAN IVANOVIČ zündet ein Streichholz an Liebste Elizaveta. Ivan Ivanovič zittern die Hände.

ELIZAVETA BAM Meine Schultern sind wie die aufgehende Sonne. Klettert auf den Stuhl.

IVAN IVANOVIČ hockt sich hin Meine Beine sind wie Gurken.

ELIZAVETA BAM klettert höher Hurra! Ich habe nichts gesagt!

IVAN IVANOVIČ legt sich auf den Boden Nein, nein, nichts, nichts.

Elizaveta B am 303

ELIZAVETA B AM hebt die Hand Ku - ni - na - ga - ni - li - wa -

ni - bauuu.

IVAN IVANOVIČ auf dem Boden liegend Murka das Kätzchen Milchbart am Frätzchen sprang aufs Kissen sprang auf den Ofen sprang sprang spring hopp hopp.

ELIZAVETA B AM ruft Zwei Türen! Das Hemd! Der Strick! IVAN IVANOVIČ steht auf Da sind zwei Zimmerleute gekommen und fragen, worum es sich handelt. ELIZAVETA BAM Die Bouletten, Varvara Semena. IVAN IVANOVIČ ruft, die Zähne zusammengebissen Seiltänzerii-

i-i-i-i! ELIZAVETA BAM springt auf den Stuhl Ich glitzere am ganzen

Leibe!

IVAN IVANOVIČ läuft in den Hintergrund des Zimmers Die Kubatur dieses Zimmers ist von uns nicht ausspioniert worden.

Die Dekoration verwandelt sich aus dem Zimmer in eine Landschaft. Die Kulissen werden von Papaša und Mamaša hereingeschoben.

ELIZAVETA BAM läuft ans andere Ende der Bühne Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.

9 - Stück Landschaft

IVAN IVANOVIČ springt auf einen Stuhl Wohlstand den Cowboys von Pensylvaaa-a-a!

ELIZAVETA BAM springt auf einen Stuhl Ivan Iva-a-a-a!

PAPAŠA Ein Schächtelchen aus Ho-o-o-o. Er zeigt eine Schachtel vor.

IVAN IVANOVIČ vom Stuhl Zei-ei-ei-ei.

304 Daniil Charms

PAPAŠA Laß seeeee...

MAMAŠA Lu-u-u-u-u...

ELIZAVETA BAM Ich habe einen Birkenpi-i-i-i...

IVAN IVANOVIČ Gehn wir an den See.

PAPAŠA Huhu-u-u-u-u-u!

ELIZAVETA B AM Huhu-u-u-u!

IVAN IVANOVIČ Gestern habe ich Kolja getroffen.

MAMAŠA Aber nei-ei-ei-ei-ei-.

IVAN IVANOVIČ Doch, doch. Ich habe ihn getroffen. Ich sehe, da kommt Kolja und hat Apfel in der Hand. Was, sage ich, hast du die gekauft? Ja, sagt er, gekauft. Dann ist er weitergegangen.

PAPAŠA Sagen Sie bitte-e-e-e!...

IVAN IVANOVIČ Hm ja. Ich frage ihn: was ist, hast du die Äpfel gekauft oder geklaut? Gekauft, sagt er. Und dann ist er weitergegangen.

MAMAŠA Wo ist er hingegangen.

IVAN IVANOVIČ Ich weiß es nicht. Er hat nur gesagt: ich habe die Äpfel gekauft, nicht geklaut, - und dann ist er weitergegangen.

10 - Monolog ä part. Stück auf zwei Ebenen

PAPAŠA Nach dieser nicht eben liebenswürdigen Begrüßung führte ihn die Schwester an einen offeneren Platz, an dem goldene Stühle und Sessel aufgetürmt waren und etwa fünfzehn hübsche junge Mädchen fröhlich miteinander schwatzten, sämtlich sitzend auf dem, was Gott ihnen gegeben hatte. Alle diese Mädchen bedurften dringend eines heißen Bügeleisens, und allen eignete eine sonderbare Art, die Augen zu verdrehen, ohne auch nur eine Minute aufzuhören zu schwatzen.

Das Dienstmädchen kommt herein. Trägt das Tischtuch und den Proviantkorb hinaus.

Elizaveta B am 305

ii - Ansprache

IVAN IVANOVIČ Freunde, wir alle haben uns hier versammelt. Hurra!

ELIZAVETA B AM Hurra!

MAMAŠA Hurra!

PAPAS A Hurra!

IVAN IVANOVIČ zittert und zündet ein Streichbolz an Ich möchte euch sagen: seit ich geboren wurde, sind 38 Jahre vergangen.

MAMAŠA Hurra!

PAPAŠA Hurra!

IVAN IVANOVIČ Genossen. Ich habe ein Haus. Zu Hause sitzt meine Frau. Sie hat viele Kinder. Ich habe sie gezählt - es sind 10 Stück insgesamt.

MAMAŠA tritt auf der Stelle Darja, Marja, Fedor, Palageja, Nina, Aleksandr und noch vier andere.

PAPAŠA Und es sind lauter Jungen?

12 - Stück Oberiu

ELIZAVETA BAM läuft im Kreis um die Bühne

Losgerissen überall.

Losgerissen, weggelaufen.

Losgerissen, und jetzt weggelaufen. MAMAŠA Ißt du Brot?

Sie läuft hinter Elizaveta Bam her. ELIZAVETA B AM Ißt du Suppe? PAPAŠA Ißt du Fleisch? MAMAŠA Ißt du Mehl?

Entr'act - Katarakt

IVAN IVANOVIČ Ißt du Kohl? Läuft. ELIZAVETA BAM Ißt du Hammelfleisch? PAPAŠA Ißt duBouletten?

l

306 Daniil Charms

MAMAŠA Oh, mir tun die Beine weh. IVAN IVANOVIČ Oh, mir tun die Arme weh. ELIZAVETA BAM Oh, mir tut die Schere weh. PAPAŠA Oh, mir tun Sprungfedern weh.

Hinter der Bühne singt der Chor das Motiv der Ouvertüre.

MAMAŠA Die Balkontür steht offen.

IVAN IVANOVIČ Ich möchte in die vierte Etage hinauf springen.

ELIZAVETA BAM

Losgerissen, weggelaufen.

Losgerissen, und jetzt weggelaufen.

Mtisikeinsatz.

PAPAŠA Mein rechter Arm und die Nase sind genau solche Sachen wie mein linker Arm und das Ohr.

Alle, einer nach dem ändern, laufen von der Bühne. CHOR zur Musik nach dem Motiv der Ouvertüre

Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn.

II-I

II-I

Oben, sagt die Kiefer, oben

ringsum, sagt sie, ist es dunkel,

auf der Kiefer ist ein Bett,

in dem Bett der Gatte liegt.

Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn.

I-I

I-I

Kommen wir hinzu ganz leis

I-I

in das unendlich Haus,

und zum Fenster schaut heraus

durch die Brill ein junger Greis.

Elizaveta Bam 307

Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn.

II-I

II-I

Und es öffnet sich das Tor

Und es erscheint ein

I-I

Ouvertüre.

Das Licht wird zurückgenommen. Licht nur aufPetr Nikolaevič.

13 - Radix

PETR NIKOLAEVIČ

Zerbrochen bist du,

zerbrochen dein Stuhl. VIOLINE

Na na ni na

na na ni na PETR NIKOLAEVIČ

Zerbrochen die Kutsch,

und alle warn futsch. VIOLINE

Na na ni na

na na ni na PETR NIKOLAEVIČ

Acht Minuten

die sich sputen. VIOLINE

Na na ni na

na na ni na

PETR NIKOLAEVIČ Das ist eure Rechnung Schwer seid schwer Rotte oder Peloton mit Maschinengewehr.

308 Daniil Charms

TROMMEL I-I I-I I-I-I-I

PETR NIKOLAEVIČ

Die Fetzen flogen

Woche um Woche PFEIFE UND TROMMEL

Via-a bum, bum

via-a bum. PETR NIKOLAEVIČ

Hauptmanns ersten Laut

hörte nicht die Braut.

Das Licht allmählich heller.

PFEIFE

Via via via via. PETR NIKOLAEVIČ

Helft mir, helft mir rascher.

Über mir Salat und Wasser.

Volles Licht.

VIOLINE pa-pa pi-pa pa-pa pi-pa

Die Kulisse hebt Ivan Ivanovič hervor.

14 - Klassisches Pathos

IVAN IVANOVIČ

Sagen Sie, Petr Nikolaevič, waren Sie dort, auf dem Berg?

Elizaveta Bam 309

PETR NIKOLAEVIČ

Ich komme soeben von dort

dort ist es wunderschön.

Die Blumen wachsen, Bäume rauschen.

Da steht eine Hütte - ein Häuschen von Holz,

in der Hütte brennt ein Licht.

Ins Licht die Mücken fliegen,

ans Fenster die Nachtfalter klopfen.

Zuweilen huscht und flattert unterm Dach

der alte Räuber Ziegenmelker.

Der Hund mit seiner Kette wiegt die Luft

und bellt ins Leere vor sich hin,

und ihm zur Antwort unsichtbar die Grillen

murmeln Verschwörung in allen Tönen. IVAN IVANOVIČ

In diesem Häuschen, das von Holz,

das eine Hütte wird genannt,

in dem ein Lichtlein brennt und knistert,

wer, sagt mir, lebt in diesem Häuschen? PETR NIKOLAEVIČ

In ihm lebt niemand,

niemand macht die Tür auf,

drin reiben die Mäuse auf der flachen Hand das Mehl,

drin brennt nur eine Lampe wie der Rosmarin,

und auf dem Ofen sitzt den lieben langen Tag als Eremit

die Kakerlake Tarakan. IVAN IVANOVIČ

Und wer zündet die Lampe an? PETR NIKOLAEVIČ

Niemand. Sie brennt von allein. IVAN IVANOVIČ

Aber das gibt es doch nicht. PETR NIKOLAEVIČ

Leere, dumme Worte.

Es gibt die unendliche Bewegung,

es gibt der leichten Elemente Atmen.

Planeten Lauf, der Erde Kreisen,

310 Daniil Charms

den irren Wechsel zwischen Tag und Nacht,

Verbindungen der dumpfen Natur,

schlafender Tiere Zorn und Kraft

und Unterwerfung der Gesetze

des Lichtes und der Welle durch den Menschen. IVAN IVANOVIČ zündet ein Streichholz an

Jetzt habe ich verstanden, verstanden, verstanden.

Ich danke sehr und setze mich ein Weilchen

wie stets sehr interessiert ich bin.

Wie spät ist es, Sie wissen es vielleicht? PETRNlKOLAEVIČ

Vier Uhr. Oh, Zeit zum Essen.

Ivan Ivanovič, wir wollen gehn,

doch nicht vergessen, morgen nacht

stirbt Elizaveta B am. PAPAŠA kommt herein

Welche Elizaveta Bam,

die meine Tochter ist?

Die morgen nacht ihr

ermorden wollt und hochziehn an der Kiefer,

die schlank ist, Wohlgestalt,

damit es wissen alle Tiere

und das ganze Land?

Doch ich befehle euch

kraft meiner Hand

und sei es wider die Gesetze:

Vergeßt Elizaveta Bam. PETR NIKOLAEVIČ

Versuch es nur, verbiet es uns,

und ich zerstampf dich auf der Stelle,

dann brech ich mit der roten Peitsche

dir die Gelenke einzeln,

ich blas dich auf und laß dich reiten

auf allen Winden wie ein Hahn.

IVAN IVANOVIČ

Er kennt hier alles ringsumher, er ist mein Freund, Gebieter, Herr.

Elizaveta B am 311

Mit einem Schlage seiner Flügel versetzt er Meere in Bewegung, mit einem Schlage seiner Axt fällt Wälder er und Berge, Hügel -mit einem, einem Atemzug der fort ihn durch die Lüfte trug, ist überall und nirgends er. PAPAŠA

So laß und kämpfen, Zauberer -

du mit dem Wort, ich mit der Hand.

Währts einen Augenblick nur,

eine Stunde oder zwei -

es endet irgendwann,

stirbst du, sterb ich,

es wird sehr still sein dann,

doch triumphieren soll mein Mädchen

Elizaveta Bam.

15 - Balladeskes Pathos

IVAN IVANOVIČ

Der Kampf der zwei Recken.

Text von Immanuel Krasdajtejrik.

Musik von Veliopag, dem Hirten aus Holland.

Choreographie von einem unbekannten Reisenden.

Der Beginn des Kampfes wird durch ein Glockensignal

angezeigt.

Auf die Bühne werden zwei Tischchen gebracht.

STIMMEN aus verschiedenen Ecken des Saals

- Der Kampf der zwei Recken.

- Text von Immanuel Krasdajtejrik.

- Musik von Veliopag, dem Hirten aus Holland.

- Choreographie von einem unbekannten Reisenden.

- Den Beginn des Kampfes verkündet die Glocke!

312 Daniil Charms

GLOCKE

Bum, bum, bum, bum, bum. PETR NIKOLAEVIČ Kurabür, doramur dündiri

sasakatür pakaradagu

da kü tschiri, kiri, kiri andulila chabakula

che-e-el,

Changu ana kudü Para wü na lüitena

che-e-el

Tschapu, agapali tschapatali mär mabaletschina

che-e-el

Er hebt die Hand. PAPAŠA

Soll er bis zur Sonne fliegen,

der geflügelte Papagei,

soll den goldnen Tag verdunkeln,

he, ich bin bereit.

Soll durch grüne Waldesruhe

Hufgetrappel hallen.

Und mit Getös vom Rade fallen

des Fundamentes schwere Truhe.

Und der Ritter, der bei Tische

die Schwerter prüft,

erhebt den Becher, ruft

ruft über diesem Becher:

Ich hebe diesen Becher

an die entzückten Lippen,

solange ich noch kann,

und leer ihn auf die allerbeste

Elizaveta B am.

Deren Hände weiß und zart

die Weste mir gestreichelt

Elizaveta B am 313

und zupften mir den Bart.

Elizaveta Bam soll leben,

soll leben tausend Jahr! PETR NIKOLAEVIČ

Also, auf gehts.

Ich bitte aufmerksam zu folgen

dem Zucken unsrer Säbel, -

wohin welche Klinge fliegt

und wo sie welchen Stoß abfängt. IVAN IVANOVIČ

Also, ich rechne mit einem Ausfall von links. PAPAŠA greift an

Ich stoße gradezu und quer,

es rette sich, wer kann!

Der Kampf geht an,

und wer

nicht ausweicht, fall!

Schon rauschen Wälder ringsumher,

schon blühen Gärten überall. PETR NIKOLAEVIČ

Schau weniger zur Seite

und acht auf die Bewegung

der eisernen Zentren und Verdichtung

der tödlichen Kräfte. PAPAŠA hebt das Rapier und schwenkt es im Takt seiner Worte

Lob sei dem Eisen - Karborund.

Es stärkt die Brückenpfeiler

und reißt, durchstrahlt von Strom,

den Feind zu Tode.

Lob sei dem Eisen! Lied der Schlacht!

Es macht dem Räuber Sorge,

macht aus dem Jüngling einen Mann

und reißt den Feind zu Tode!

O Ruhm den Feldern! Ruhm den Federn!

Sie fliegen durch die Luft

fliegen dem Treulosen ins Auge,

reißen den Feind zu Tode!

314 Daniil Charms

O Ruhm den Federn! Weisheit dem Stein. Er liegt am Fuß der ernsten Kiefer, und unter ihm entspringt ein Wasser dem toten Feind entgegen.

Petr Nikolaevič fällt.

PETR NIKOLAEVIČ

Ich fiel zur Erde, geschlagen,

leb wohl, Elizaveta Bam,

komm in mein Häuschen auf dem Berge

und lege dich dort lang.

Es werden laufen über dich

wohl über Arm und Hand

die Mäuse, dann der Eremit,

die Kakerlake Tarakan.

Du hörst die Glocke läuten

vom Dache - bim und bam

verzeih, vergib mir bitte

Elizaveta

Bam.

Die Glocke läutet.

IVAN IVANOVIČ

Der Kampf der zwei Recken ist beendet.

Petr Nikolaevič wird hinausgetragen.

16 - Glockenspiel

ELIZAVETA BAM kommt herein

Ach, hier bist du, Papa. Ich freue mich sehr. Ich war eben in der Kooperative. Ich habe dort Bonbons gekauft. Ich wollte, wir hätten Torte zum Tee.

Elizaveta B am 315

PAPAŠA knöpft sich den Kragen auf

Tfu, bin ich erschöpft. ELIZAVETA BAM

Was hast du denn gemacht? PAPAŠA

Ach... ich habe Holz gehackt

und bin jetzt schrecklich müde. ELIZAVETA BAM

Ivan Ivanovič, gehen Sie in die halbe Bierstube

und holen Sie uns eine Flasche Bier und Erbsen. IVAN IVANOVIČ

Aha, Erbsen und eine halbe Flasche Bier,

in die Bierstube gehn und von da wieder her. ELIZAVETA BAM

Keine halbe, sondern eine Flasche Bier,

und nicht in die Bierstube, sondern in die Erbsen. IVAN IVANOVIČ

Sofort, ich verstecke nur den Mantel in der Bierstube

und setze mir eine halbe Erbse auf den Kopf. ELIZAVETA BAM

Ach nein, ich weiß nicht, nur machen Sie schnell,

sonst wird Papaša müde vom Holzhacken. PAPAŠA

O diese Frauen, sie haben keine Ahnungen,

statt Ahnungen im Kopf nur Leere.

17 - Physiologisches Pathos

MAMAŠA kommt herein Genossen, meinen Sohn hat sie um die

Ecke gebracht, die Schlampe. STIMMEN Wer, wer?

Aus den Kulissen schauen zwei Köpfe hervor.

MAMAŠA Na die da, die mit solchen Lippen. ELIZAVETA BAM Mama, Mama, was sagst du da.

316 Daniil Charms

Ivan Ivanovič zündet ein Streichholz an.

MAMAŠA Nur wegen dir hat sich ihm sein Leben in Nichts

aufgelöst.

ELIZAVETA BAM Aber sag mir doch bitte, von wem du redest. MAMAŠA mit versteinerter Stimme Siie, siie, siie. ELIZAVETA BAM Sie ist verrückt geworden.

Papaša zückt ein Taschentuch und tanzt auf der Stelle. MAMAŠA Ich bin ein Tintenfisch.

Die Dekorationen verwandeln sich aus einer Landschaft in ein Zimmer. Die Kulissen verschlingen Papaša und Mamaša.

ELIZAVETA BAM Gleich werden sie kommen, was habe ich nur

angestellt. MAMAŠA 3 x 27 = 81.

Die Bühne ist dieselbe wie zu Beginn.

18 - Realistisch nüchtern

ELIZAVETA BAM Sie kommen bestimmt, um mich zu fangen und vom Erdboden zu vertilgen. Fliehen. Ich muß fliehen. Aber fliehen wohin. Diese Tür führt auf die Treppe, und auf der Treppe begegne ich ihnen. Durchs Fenster - schaut zum Fenster hinaus - Hu-u-u. Da kann ich nicht runterspringen. Zu Hoch. Aber was soll ich nur tun. Da, Schritte. Das sind sie. Ich schließe die Tür ab. Und mache nicht auf. Sollen sie klopfen, solange sie wollen. Sie schließt die Tür ab.

KLOPFEN AN DIE TÜR, DANN STIMMEN Elizaveta Bam, im Namen des Gesetzes befehle ich Ihnen, machen Sie die Tür auf.

Schweigen.

Elizaveta Bam 317

1. STIMME Ich befehle Ihnen, machen Sie die Tür auf. Schweigen.

2. STIMME leise Brechen wir die Tür auf.

i. STIMME Elizaveta Bam; machen Sie die Tür auf, sonst brechen

wir sie auf.

ELIZAVETA BAM Was wollen Sie mit mir machen? i. STIMME Sie stehen unter schwerer Anklage. ELIZAVETA BAM Weshalb, wofür? Warum wollen Sie mir nicht

sagen, was ich getan habe?

1. STIMME Sie sind angeklagt des Mordes an Petr Nikolaevič...

2. STIMME Und dafür werden Sie sich verantworten müssen. ELIZAVETA BAM Ich habe niemanden ermordet.

i. STIMME Darüber wird das Gericht entscheiden. ELIZAVETA BAM Ich bin in Ihrer Gewalt.

Elizaveta Bam öffnet die Tür. Hereinkommen Petr Nikolaevič und Ivan Ivanovič, als Feuerwehrleute verkleidet.

PETR NIKOLAEVIČ Im Namen des Gesetzes, Sie sind verhaftet. IVAN IVANOVIČ zündet ein Streichholz an Folgen Sie uns.

19 - Schluß der Oper. Bewegung der Kulissen, Gegenstände, der Rückwand und Menschen.

ELIZAVETA BAM schreit Fesselt mich! Zieht mich an den Haaren! Zieht mich durch den Trog! Ich habe niemanden ermordet! Ich kann niemanden ermorden!

PETR NIKOLAEVIČ Elizaveta Bam, ganz ruhig!

IVAN IVANOVIČ Schauen Sie in die Ferne vor sich. Schluckt laut, wie zu Beginn.

ELIZAVETA BAM Und in dem Häuschen auf dem Berge brennt schon Licht. Die Mäuse zwirbeln ihre langen Schnurrbärte. Und auf dem Ofen sitzt die Kakerlake Tarakan Tarakanovič im Hemd mit einem roten Kragen, die Axt in der Hand.

318 Daniil Charms

PETR NIKOLAEVIČ Elizaveta B am. Strecken Sie die Arme aus, schlagen Sie Ihren stechenden Blick nieder und folgen Sie mir, bewahren Sie das Gleichgewicht der Gelenke, den Triumph der Sehnen. Dunkel. Folgen Sie mir.

Sie geben langsam ab. Vorbang

Nikolaj Erdman Der Selbstmörder

Komödie

Personen:

SEMEN SEMENOVIČ PODSEKALNIKOV, Arbeitsloser, der Selbstmörder

MARJA LUKJANOVNA PODSEKALNIKOVA, seine Frau

SERAFIMAILJINIČNA, seine Schwiegermutter

ALEKSANDR PETROVIČ KALABUŠKIN, ihr Nachbar in einer Gemeinschaftswohnung, seit kurzem Witwer, Besitzer einer Schießbude, Organisator

MARGARITA IVANOVNA PERESVETOVA, seine Geliebte

Zimmer in der Wohnung Semen Semenovičs. Nacht.

Erster Auftritt

In ihrem Doppelbett schlafen die Eheleute Podsekalnikov -Semen Semenovič und Marija Lukjanovna.

SEMEN Maša, he, Maša! Maša, schläfst du, Maša?

MARJA schreit A-a-ah? ...

SEMEN Was ist denn, was ist denn, ich bins.

MARJA Was ist, Semen?

SEMEN Maša, ich wollte dich fragen ... Maša, Maša ... Schläfst

du schon wieder, Maša! MARJA schreit A-a-ah? SEMEN Was ist denn, was ist denn, ich bins. MARJA Bist du es, Semen?

320 Nikolaj Erdman

SEMEN Ja doch, ich bins.

MARJA Was willst du, Semen?

SEMEN Mas a, ich wollte dich fragen ...

MARJA Ja ... Ja, was denn, Semen ... Senja ...

SEMEN Maša, ich wollte dich fragen ... Ob vom Essen noch ein Ende Leberwurst übrig ist?

MARJA Was?

SEMEN Ob vom Essen noch ein Ende Leberwurst übrig ist.

MARJA Also weißt du, Semen, alles hätte ich von dir erwartet, aber daß du mitten in der Nacht deiner todmüden Frau mit Leberwurst ankommst - das hätte ich nie erwartet. So eine Instinktlosigkeit, eine Instinktlosigkeit. Den ganzen Tag arbeite ich wie ein Pferd, wie eine Ameise, und statt daß du mich nachts nur einen Augenblick in Ruhe läßt - machst du mich auch noch im Bett nervös! Weißt du, Semen, mit dieser Leberwurst hast du in mir so viel abgetötet, so viel abgetötet... Senja, verstehst du das nicht: wenn du selber nicht schlafen kannst, laß wenigstens die anderen schlafen... Senja, ich rede mit dir! Semen, bist du etwa eingeschlafen, Semen!

SEMEN A-a-ah ...

MARJA Was ist denn, was ist denn, ich bins!

SEMEN Bist du es, Maša?

MARJA Ja doch, ich bins.

SEMEN Was willst du, Maša?

MARJA Ich sage, wenn du selber nicht schlafen kannst, laß wenigstens die anderen schlafen.

SEMEN Halt, Maša ...

MARJA Nein, jetzt rede ich! Warum hast du dich nicht bei Tisch sattgegessen, wie es sich gehört? Mama und ich kochen dir jeden Tag deine Leib- und Magengerichte, Mama und ich legen dir mehr als allen anderen auf den Teller.

SEMEN Und warum legen Sie und Ihre Frau Mama mir immer mehr als allen anderen auf den Teller? Das tun Sie doch nicht einfach so, sondern aus Psychologie, um vor aller Augen zu demonstrieren: seht her, unser Semen Semenovič arbeitet nicht, aber wir legen ihm mehr als allen anderen auf den Teller! Ich weiß, warum ihr das tut - um mich zu demütigen ...

Der Selbstmörder 321

MARJA Halt, Senja.

SEMEN Nein, jetzt rede ich! Und wenn ich mit dir auf der ehelichen Bettstatt - ohne Zeugen, tete-ä-tete, unter einer Decke - die ganze Nacht hungere, dann ist dir auf einmal für mich die Wurst zu schade.

MARJA Mir für dich zu schade? Aber Liebling, iß doch, bitte. Ich hole sie dir, sofort. Sie steigt aus dem Bett. Zündet eine Kerze an. Geht barfuß, die Kerze in der Hand, zur Tür. O Gott, was geht hier vor! Es ist schon traurig, so zu leben.

Zweiter Auftritt

Dunkel. Semen Semenovc liegt schweigend auf dem Doppelbett.

Dritter Auftritt

Mär ja Lukjanovna kommt ins Zimmer zurück. In der einen Hand die Kerze, in der anderen einen Teller. Auf dem Teller Wurst und Brot.

MARJA Auf was soll ich dir die Wurst schmieren, Senja, auf

Weißes oder Schwarzes? SEMEN Die Farbe ist für mich ohne jeden Belang, denn ich

werde nicht essen. MARJA Was soll das heißen? SEMEN Lieber sterbe ich im Angesicht der Leberwurst, als daß

ich auch nur einen Bissen esse. MARJA Und warum nicht? SEMEN Weil ich weiß, wie du sie mir schmieren willst. Mit

einführenden Worten nämlich. Zuerst vergiftest du mir mit

allem möglichen Mist das Blut - und schmierst sie mir dann

aufs Brot.

MARJA Also weißt du, Semen! ... SEMEN Ich weiß. Leg dich hin. MARJA Was?

322 Nikolaj Erdman

SEMEN Ich sage, leg dich hin.

MARJA Erst schmier ich dir die Wurst, dann lege ich mich hin.

SEMEN Nein, du schmierst sie nicht.

MARJA Und ob ich sie schmiere!

SEMEN Wer von uns ist hier der Mann, du oder ich? Was glaubst du eigentlich, Marija: bloß, weil ich kein Gehalt bekomme, kannst du mich hier regulieren, wie du willst? Denk lieber darüber nach, wie schrecklich sich dieses Leben in mir widerspiegelt. Sieh mal, wie weit du mich gebracht hast... Semen Semenovič setzt sich im Bett auf. Wirft die Decke ab. Schlägt ein Bein über das andere. Schlägt sich mit der Handkante gegen das Knie, worauf das Bein in die Höhe schnellt. Hast du gesehen?

MARJA Was ist das, Semen?

SEMEN Ein nervöses Symptom. Mit diesen Worten legt sich Semen Semenovič wieder hin und deckt sich zu.

MARJA Semen, so kann man nicht leben. Solche Kunststücke kann man im Zirkus zeigen, aber leben - leben kann man so nicht.

SEMEN Was soll das heißen - man kann nicht? Soll ich deiner Meinung nach verrecken? Verrecken, ja? Sag offen, Marija, worauf willst du hinaus? Auf meinen letzten Seufzer? Den kannst du haben. Nur - ich sage es dir im engsten Familienkreis, Marija, - du bist ein Miststück.

MARJA Was?

SEMEN Ein Miststück bist du! Ein dreckiges Luder! Eine Drecksau!

Der Kerzenhalter entgleitet Marija Lukjanovnas Händen, fällt zu Boden und zerschellt. Im Zimmer ist es wieder vollkommen dunkel.

Pause.

Der Selbstmörder 323

Vierter Auftritt

In der Dunkelheit tritt Serafima Iljinična ins Zimmer und stolpert über Marja Lukjanovna.

MARJA schreit A-a-ah! ...

SERAFIMA Was ist denn, was ist denn, ich bins!

MARJA Bist du es, Mama?

SERAFIMA Ja doch, ich bins.

MARJA Was willst du, Mama?

SERAFIMA Maša, erklär mir bitte, warum fallen bei euch mitten

in der Nacht Gegenstände zu Boden? Wie? Ihr weckt noch das

ganze Haus. Maša! He, Maša! Du weinst doch nicht? Was

geht hier vor?

MARJA Soll Semen es sagen, ich sage kein Wort. SERAFIMA Semen Semenovič! He, Semen Semenovič? Warum

sagen Sie nichts, Semen Semenovič? MARJA Senja! ... Senja! ... Semen! SERAFIMA Semen Semenovič! ... MARJA Vielleicht hat er einen Schlaganfall, Mama? SERAFIMA Was sagst du da, Marija! Woher ... Wo denkst du

hin! Semen Semenovič! ... MARJA Ich gehe mal nachsehen, Mama.

In der Dunkelheit hört man Marija Lukjanovnas vorsichtige Schritte.

MARJA Senja ... Senja ... Semen ... Mama!

SERAFIMA Was ist geschehen?

MARJA Mach die Kerze an.

SERAFIMA Mein Gott, was hat er nur?

MARJA Ich sage, mach die Kerze an!

SERAFIMA Wo ist sie denn, wo?

MARJA Auf dem Fußboden, Mama, auf dem Fußboden. Such auf dem Fußboden, Mama! Auf dem Fußboden sollst du suchen. Senja, Liebling, jag mir keinen Schrecken ein ... Senja ... Mama, was ist denn ...

324 Nikolaj Erdman

SERAFIMA Ich krieche, Maša ...

MARJA Aber an der falschen Stelle, Mama ... Da beim Feigenbaum, kriech zum Feigenbaum. Stille tritt ein, dann fällt etwas zu Boden. O Gott, was war das?

SERAFIMA Der Feigenbaum, Mašenka, der Feigenbaum.

MARJA Ich werde noch wahnsinnig, Mama, damit du es weißt!

SERAFIMA Warte, Mašenka, warte, an der Kommode war ich noch nicht. Heilige Mutter Gottes, da ist sie!

MARJA Mach sie an, mach sie schon an!

SERAFIMA Warte, Mašenka, sofort. Sie reißt ein Streichholz an.

MARJA Mamočka, ich kann nicht mehr warten, hier geht etwas Schreckliches vor.

SERAFIMA kommt mit der Kerze gelaufen Was hat er denn?

MARJA schlägt die Decke zurück Siehst du ihn?

SERAFIMA Nein.

MARJA Ich auch nicht.

SERAFIMA Wo ist er denn?

MARJA Nicht da, Mama. Und das Bettzeug ist ganz kalt. Senja! ... Senja! ... Er ist weg.

SERAFIMA Wieso weg?

MARJA läuft im Zimmer auf und ab Er ist einfach weg. Senja... Senja ...

SERAFIMA mit der Kerze, wirft einen Blick ins Nachbarzimmer Semen Semenovič ...

MARJA eilt zum Bett zurück Die Kerze! Die Kerze her! Sie entreißt Serafima Iljinična die Kerze, setzt sie auf dem Fußboden ab, kniet nieder und schaut unters Bett. Du meine Güte, ganz hinten an der Wand! Sie kriecht unters Bett.

SERAFIMA Maša, was ist, wo willst du hin? Komm zu dir!

MARJA unter dem Bett Auf die Straße will ich, Mama, auf die Straße. Sie kommt hervorgekrochen, ein Paar Damenstiefel in der Hand. Da sind sie. Zieht sie an. Gib mir den Rock, Mama.

SERAFIMA Wo willst du hin, Mašenka, Gott steh dir bei?!

MARJA Ich muß ihn zurückholen, unbedingt. Er ist einem Zustand, in einem Zustand ... Er hat mir im Bett sogar sein Symptom gezeigt.

SERAFIMA Heilige Mutter Gottes.

Der Selbstmörder 325

MARJA Weißt du was?

SERAFIMA Was?

MARJA Vielleicht tut er sich etwas an?

SERAFIMA Warum hast du nicht gleich daran gedacht, Marija?

Zieh dich an, schnell, zieh dich an. MARJA Die Bluse, gib mir die Bluse. SERAFIMA Dank sei dir, o Herr, die Hosen. MARJA Was für Hosen? SERAFIMA Seine Hosen. Wenn die Hosen da sind, kann er nicht

weit sein. MARJA Und wenn er ohne Hosen weggelaufen ist? Er ist in

einem Zustand, in einem Zustand ... SERAFIMA Ein Mann ohne Hosen ist wie ein Mann ohne Augen,

der kommt nicht weit. MARJA Und wo ist er, Mama? SERAFIMA Sicher ist er auf dem Örtchen. MARJA Dann tut er sich dort etwas an. SERAFIMA Wie? Was sagst du da? MARJA Sehr einfach. Peng - und Schluß. SERAFIMA Heilige Mutter Gottes! MARJA Was machen wir jetzt? Hm? Vielleicht hat er ... SERAFIMA Nicht so laut... Hörst du? MARJA Nein ... und du? SERAFIMA Ich höre auch nichts. MARJA O Gott, ist das schrecklich! Ich gehe und klopfe bei ihm

an, Mama. Komme, was kommen mag.

Fünfter Auftritt

Marja Lukjanovna geht ab. Serafima Iljinična wendet sich zur Ikone und bekreuzigt sich.

SERAFIMA bekreuzigt sich Heilige Mutter Gottes von Vuti-vansk, Vatopadsk, Okovick, Kupjatnick, Heilige Mutter Gottes von Novo-Nikitsk, Arapatsk, Pskov, Vydopusk, Svjatogorsk, von Wien und Smolensk, Abalackoe-Znamenie,

326 Nikolaj Erdman

Bratskaja, Kievskaja. Pimenovskaja, Heilige Gottesmutter von Spanien und Kazan, bittet Euren Sohn für das Wohlergehen meines Schwiegersohns. Sie bekreuzigt sich, schaut zur Tür, bekreuzigt sich wieder, kniet nieder. Gebenedeite unter den Weibern, öffne uns die Tür der Gnade ...

Sechster Auftritt

Marja Lukjanovna stürzt herein.

MARJA Die Tür ist verriegelt und geht nicht auf.

SERAFIMA Und hast du mit ihm gesprochen?

MARJA Ja.

SERAFIMA Und was sagt er?

MARJA Er gibt keine Antwort und auch sonst keinen Ton von sich.

SERAFIMA Und, Mašenka, was machen wir nun?

MARJA Ich wecke jetzt Aleksandr Petrovič. Soll er die Tür aufbrechen.

SERAFIMA Aleksandr Petrovič kann man unmöglich belästigen.

MARJA Was heißt - unmöglich?

SERAFIMA Alexsandr Petrovič trägt Trauer. Er hat vorige Woche seine Frau zu Grab getragen.

MARJA Um so besser, dann hat er dafür Verständnis, Mitleid. Sie läuft zur Tür.

SERAFIMA Wenn du nicht alles nur noch schlimmer machst, Mašenka.

MARJA Einen Mann brauchen wir auf jeden Fall. Ohne Mann geht gar nichts, Mama. Sie klopft an die Tür. Aber wenn er nun, Mama ...

SERAFIMA Was?

MARJA Was, was, ich weiß auch nicht, was ... Sie läuft zu Serafima Iljinična. Geh lieber du, Mama, und horch. Vielleicht rührt er sich ja doch.

Serafima Iljinična geht ab.

Der Selbstmörder 327

Siebenter Auftritt

Marja Lukjanovna läuft zur Tür.

MARJA klopft Aleksandr Petrovič ... Genösse Kalabuškin ...

ALEKSANDR von draußen A-a-ah?

MARJA Ich bins, die Podsekalnikova.

ALEKSANDR von draußen Wer?

MARJA Podsekalnikova, Marija Lukjanovna. Guten Abend!

ALEKSANDR von draußen Was gibts?

MARJA Ich brauche Sie dringend, Genösse Kalabuškin.

ALEKSANDR von draußen Wie, wozu brauchen Sie mich?

MARJA Als Mann.

ALEKSANDR von draußen Was denn, was denn, nicht so laut,

Marja Lukjanovna! MARJA Sie, Genösse Kalabuškin, haben jetzt natürlich anderes

im Sinn, aber, Genösse Kalabuškin, denken Sie nur, ich bin

allein, ganz allein. Was soll ich tun, Genösse Kalabuškin? ALEKSANDR von draußen Waschen Sie sich mit kaltem Wasser,

Marja Lukjanovna.

MARJA Was? Genösse Kalabuškin ... Genösse Kalabuškin!... ALEKSANDR von draußen Nicht so laut, verdammt! MARJA Genösse Kalabuškin, ich breche die Tür auf! ALEKSANDR von draußen Um Gottes willen! ... Hören Sie!

Halt! ... Warten Sie! Mit einem Krachen fliegt die Tür auf.

Achter Auftritt

In der Tür erscheint Margarita Ivanovna. Eine gewaltige Frau im Nachthemd.

MARGARITA Die Tür aufbrechen? Interessanter Zeitvertreib für eine junge Dame! Ach, Sie verdammte Schlampe Sie, entschuldigen Sie den Ausdruck.

MARJA Was soll das heißen ... Ich bitte Sie ... Aleksandr Petrovič ...

328 Nikolaj Erdman

MARGARITA Wie kommen Sie dazu, sich Aleksandr Petrovič an den Hals zu werfen? Ihn mit Schmutz zu besudeln? Wir sitzen hier in tiefer Trauer und gedenken der Verstorbenen, und da wollen Sie die Tür aufbrechen?

MARJA Aber ich meine doch nicht die! Bin ich etwa eine Verbrecherin oder was?

MARGARITA Die jungen Damen heutzutage sind noch viel schlimmer als das, Herrgott vergib mir, die gehen doch nur und halten Ausschau, wo einer schlecht liegt. Ach, Sie ...

ALEKSANDR steckt den Kopf herein Margarita Ivanovna! ...

MARGARITA Was willst du?

ALEKSANDR Sollten Sie sie schlagen wollen, Margarita Ivanovna, so rate ich Ihnen, tun Sie das nicht, Sie sind hier nicht gemeldet. Der Kopf verschwindet.

MARJA Aber erlauben Sie, wofür denn?

MARGARITA Und warum laufen Sie fremden Männern nach?

MARJA Sie haben mich nicht verstanden, ich versichere es Ihnen. Ich bin verheiratet.

MARGARITA Da ist nichts zu verstehen, ich bin selber verheiratet.

MARJA Aber begreifen Sie doch, er will sich erschießen!

ALEKSANDR steckt den Kopf herein Wer will sich erschießen?

MARJA Semen Semenovič.

ALEKSANDR Wo will er sich erschießen?

MARJA Denken Sie nichts Schlechtes, Aleksandr Petrovič, auf der Toilette. Aleksandr Petrovičs Kopf verschwindet.

MARGARITA Wer will sich auf der Toilette erschießen?

MARJA Wo soll ein Arbeitsloser sonst schon hin?

Neunter Auftritt

Zur Tür herein kommt Aleksandr Petrovič gehüpft. Er ist in Hemd und Hosen, Gummigaloschen an den bloßen Füßen.

ALEKSANDR Aber verdammt, warum wollen Sie sich erkälten? Wir müssen etwas tun, Mär ja Lukjanovna.

Der Selbstmörder 329

MARJA Deswegen komme ich doch zu Ihnen, Aleksandr Petro-

vič, Sie sind kampferprobt, befehligen eine Schießbude, helfen

Sie uns, die Tür aufzubrechen.

ALEKSANDR Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? MARGARITA Worauf warten Sie? ALEKSANDR Gehen wir, Marja Lukjanovna. MARJA Ich fürchte, sobald wir darangehen, sie aufzubrechen,

schießt er wirklich. ALEKSANDR Wir müssen uns anschleichen, Marja Lukjanovna,

und dann, plötzlich. Nur leise ... So ... auf Zehenspitzen.

Aleksandr Petrovič zieht die Galoschen aus und schleicht sich

zur Tür, gefolgt von Marja Lukjanovna mit der Kerze und

Margarita Ivanovna. Psst... MARJA Psst ... Sie schleicht sich zur Tür. Direkt an der Tür,

ertönt plötzlich ein Schrei. A-a-ah!« ALLE prallen zurück Ohh!

Zehnter Auftritt

Serafima Iljinična stürzt ins Zimmer.

SERAFIMA Gehen Sie nicht dorthin, ja nicht!

MARJA Mein Gott!

ALEKSANDR Was ist geschehen?

SERAFIMA Bitte stellen Sie sich vor, es ist gar nicht Semen

Semenovič, sondern Volodjas Großmutter, von der anderen

Wohnungshälfte. MARJA Was sagst du da, Mama? SERAFIMA Ehrenwort. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen.

Eben ist sie herausgekommen. Und ich, Maša, stehe da wie

eine dumme Kuh und horche. Pfui! ... ALEKSANDR Ich sage Ihnen, das wird noch ein Lapsus, Marja

Lukjanovna. MARJA Du bist selber schuld, Mama. Ich habe dir gleich gesagt,

er ist auf die Straße. Aleksandr Petrovič, ich flehe Sie an,

kommen Sie mit auf die Straße.

330 Nikolaj Erdman

SERAFIMA Wie soll er auf die Straße - ohne Hosen. Bitte

beachten Sie, Aleksandr Petrovič, seine Hosen sind hier. MARJA Ein Mann, der dem Tod ins Auge sieht, braucht keine

Hosen. MARGARITA Kommt darauf an, wo, Mär ja Lukjanovna. Im

Stadtzentrum, zum Beispiel, ist es niemandem gestattet, ohne

Hosen zu sterben. Das kann ich garantieren. ALEKSANDR Sagen Sie, haben Sie überall im Hause gesucht? MARJA Absolut überall. SERAFIMA Außer in der Küche. MARJA In der Küche haben wir tatsächlich nicht gesucht.

Kommen Sie mit in die Küche, Genösse Kalabuškin. Sie

stürzen zur Tür. Margarita Ivanovna will ihnen nach. ALEKSANDR Nein, Sie nicht, Margarita Ivanovna, wir gehen

lieber zu zweit. Sie laufen hinaus.

Elfter Auftritt

Serafima Iljinicna, Margarita Ivanovna.

MARGARITA Daß er immer zu zweit gehen muß, das ist bei ihm direkt eine Psychose. Kommen Sie mit, wir gehen auch!

SERAFIMA läuft ihr nach Nein, warum denn ... Hören Sie! ... Halt! Warten Sie doch!

In diesem Augenblick hört man aus Richtung der Küche, von Aleksandr Petrovič gerufen, das Wort »Halt!«, das Krachen einer zugeschlagenen Tür, das unmenschliche Winseln von Semen Semenovič und, schließlich, das Geräusch eines aufschlagenden Körpers, woraufhin absolute Stille eintritt.

MARGARITA Was war das? Herrscherin des Himmels! SERAFIMA Das Spiel ist aus. Er hat sich erschossen, bestimmt hat

er sich erschossen.

MARGARITA Und was machen wir jetzt? SERAFIMA Ich fange gleich an zu schreien, oder ich tue etwas!

Der Selbstmörder 331

MARGARITA Oh, tun Sie es nicht! SERAFIMA Ich habe Angst. MARGARITA Angst hab ich auch. SERAFIMA Oh, sie kommen! MARGARITA Wo?

SERAFIMA Oh, Sie bringen ihn.

MARGARITA Wen?

SERAFIMA Oh, ihn.

MARGARITA Oh, sie bringen ihn hierher!

SERAFIMA Genau, sie bringen ihn hierher!

MARGARITA Oh!

SERAFIMA Sie bringen ihn!

MARGARITA Sie bringen ihn!

SERAFIMA Was soll bloß werden, was soll bloß werden ...

Zwölfter Auftritt

Aleksandr Petrovič zerrt den zu Tode erschrockenen Semen

Semenovič herein.

SEMEN Was soll schon sein, was soll schon sein ... ALEKSANDR Regen Sie sich nicht auf, Semen Semenovič ... SEMEN Warum halten Sie mich fest? Warum? Loslassen ...

Lassen Sie mich los! Loslassen! SERAFIMA Lassen Sie ihn nicht los! MARGARITA Halten Sie ihn! Halten Sie ihn! SERAFIMA Und wo ist Mašenka? Wo ist Maša? ALEKSANDR Ihre Maša liegt in der Küche. SERAFIMA Sie liegt in der Küche? ALEKSANDR In tiefer Ohnmacht, Serafima Iljinična. SERAFIMA Oh, was soll bloß werden! Heilige Diener Gottes!

Sie stürzt, gefolgt von Margarita Ivanovna, aus dem Zimmer.

332 Nikolaj Erdman

Dreizehnter Auftritt

Aleksandr Petrovič, Semen Semenovič.

SEMEN Verzeihung, was haben Sie in meiner Hosentasche zu suchen? Was wollen Sie? Lassen Sie mich bitte.

ALEKSANDR Ich habe gesehen, wie Sie ihn sich in den Mund gesteckt haben.

SEMEN Sie lügen, nichts habe ich mir hineingesteckt! Lassen Sie mich sofort los!

ALEKSANDR Gut, ich lasse Sie los, Semen Semenovič, aber geben Sie mir Ihr Wort, daß Sie sich nichts gestatten, ehe Sie mich angehört haben. Ich bitte Sie als Freund, Semen Semenovič, hören Sie zu, hören Sie.

SEMEN Sprechen Sie, ich höre.

ALEKSANDR Danke. Setzen Sie sich, Semen Semenovič. Er setzt ihn auf einen Stuhl. Wirft sich vor ihm in Positur. Bürger Podsekalnikov ... Einen Augenblick ...Er läuft zum Fenster. Zieht den Vorhang auf. Ein häßlicher Morgen beleuchtet das zerwühlte Bett, den am Boden zerschellten Topf mit dem Feigenbaum und die gesamte freudlose 'Zimmereinrichtung. Bürger Podsekalnikov! Das Leben ist schön!

SEMEN Ja und, was soll ich damit?

ALEKSANDR Wie meinen Sie das? Bürger Podsekalnikov, wo leben Sie? Sie leben im Zwanzigsten Jahrhundert. Im Zeitalter der Aufklärung. Im Zeitalter der Elektrizität.

SEMEN Und wenn sie einem die Elektrizität abschalten, weil man die Stromrechnung nicht bezahlt, in welchem Zeitalter leben Sie dann? In der Steinzeit.

ALEKSANDR In der Steinzeit, genau, Bürger Podsekalnikov. Seit wieviel Tagen hocken wir nun schon wie in einer Höhle. Es macht keine Freude mehr zu leben, deswegen. Pfui Teufel noch einmal! Was heißt, es macht keine Freude? Genösse Podsekalnikov, unterbrechen Sie mich nicht! Das Leben ist schön! ...

SEMEN Das habe ich sogar in den »Izvestija« gelesen, aber ich glaube, das Dementi folgt auf dem Fuße.

Der Selbstmörder 333

ALEKSANDR Glauben Sie das nicht! Glauben Sie nicht, arbeiten Sie.

SEMEN Arbeitslosen ist das Arbeiten verboten.

ALEKSANDR Sie warten immer auf Genehmigungen. Mit dem Leben muß man kämpfen, Semen Semenovič!

SEMEN Als hätte ich nicht gekämpft, Genösse Kalabuškin! Hier, sehen Sie bitte ... Er holt eine Broschüre unter dem Kopfkissen hervor.

ALEKSANDR Was ist das?

SEMEN Eine Anleitung für Baßtuba.

ALEKSANDR Was? Wofür?

SEMEN Baßtuba - das ist Musik. Ein Blasinstrument. Zu erlernen in zwölf Lektionen. Und danach stößt man auf goldenen Boden. Ich habe sogar schon einen Kostenvoranschlag gemacht. Er zeigt ein Stück Papier. Zwanzig Konzerte im Monat zu fünfeinhalb Rubel, d.h. pro Jahr ein Reingewinn von eintausenddreihundertundzehn Rubel. Wie Sie sehen, Genösse Kalabuškin, alles ist bereit, ins Hörn zu stoßen. Der Wunsch ist da, der Kostenvoranschlag, die Anleitung - es fehlt nur das Hörn zum Stoßen.

ALEKSANDR Das ist allgemein so, Bürger Podsekalnikov. Was immer man tut - leben muß man trotzdem.

SEMEN Einverstanden, Genösse Kalabuškin.

ALEKSANDR Ich habe Sie also überzeugt, ich danke Ihnen! Hurra! Geben Sie mir den Revolver, Bürger Podsekalnikov.

SEMEN Den Revolver? Was für einen Revolver?

ALEKSANDR Fangen Sie schon wieder an? Ich habe doch gesehen, wie Sie ihn sich in den Mund gesteckt haben.

SEMEN Ich?...

ALEKSANDR Ja, Sie.

SEMEN Mein Gott! Ich, in den Mund steckt? Weshalb?

ALEKSANDR Wollen Sie mich für dumm verkaufen? Jeder hier weiß, daß Sie sich erschießen wollen.

SEMEN Wer will sich erschießen?

SEMEN Ich? Mein Gott! Einen Augenblick. Ich persönlich?

ALEKSANDR Sie persönlich, Bürger Podsekalnikov.

SEMEN Und warum soll ich mich erschießen wollen?

334 Nikolaj Erdman

ALEKSANDR Sie wissen es selbst nicht?

SEMEN Warum sollte ich, frage ich Sie?

ALEKSANDR Weil Sie seit einem Jahr keine Arbeit haben und es Ihnen peinlich ist, auf fremde Kosten zu leben. Ist das nicht töricht, Semen Semenovič!

SEMEN Einen Augenblick, wer hat das gesagt?

ALEKSANDR Nur mit der Ruhe! Marja Lukjanovna.

SEMEN Oh! Gehen Sie! Lassen Sie mich allein. Raus. Scheren Sie sich zum Teufel!

ALEKSANDR Geben Sie mir den Revolver, und ich gehe unverzüglich.

SEMEN Aber begreifen Sie doch, Genösse Kalabuškin, woher soll ich einen Revolver haben? Wo hätte ich ihn mir beschaffen sollen?

ALEKSANDR Ein Revolver ist heutzutage leicht zu beschaffen. Panfilyč zum Beispiel tauscht einen Revoler gegen ein Rasiermesser.

SEMEN Wirklich, gegen ein Rasiermesser?

ALEKSANDR Und du rückst ihn umsonst heraus. Keine Genehmigung, keinen Waffenschein. Wenn die Polizei davon erfährt - schwupp! Sechs Monate Zwangsarbeit. Geben Sie den Revolver her, Semen Semenovič.

SEMEN Nein.

ALEKSANDR Also dann verzeihen Sie, Sie haben es sich selbst zuzuschreiben. Dann nehme ich ihn mir mit Gewalt. Er packt ihn am Arm. Mir entkommen Sie nicht.

SEMEN Ihnen entkommen. Also damit Sie es wissen, Genösse Kalabuškin, wenn Sie nicht augenblicklich von hier verschwinden, erschieße ich mich vor Ihren Augen.

ALEKSANDR Das werden Sie nicht tun.

SEMEN Sie glauben mir nicht? Na schön! Ich zähle bis drei. Eins ... Er fährt mit der Hand in die Hosentasche.

ALEKSANDR Oh, er erschießt sich!

SEMEN Zwei... Erfaßt tiefer.

ALEKSANDR Ich bin schon weg!...

Aleksandr Petrovič � wie der Blitz - ab in sein Zimmer.

Der Selbstmörder 335

Vierzehnter Auftritt Semen Semenovič (allein).

SEMEN Drei. Er zieht die Leberwurst aus der Tasche. Oh, wo soll ich jetzt hin mit ihr? Wo ist der Teller? Er legt die Wurst auf den Teller. Alles wie es war, vor dem Tod kommt keiner drauf. Aber warte, Marija, dir werd ichs zeigen! Er läuft zum Tisch, fängt an darin herumzuwühlen. Dir werde ich zeigen ... wie peinlich es mir ist, auf deine Kosten zu leben ... Na warte! Dir werd ichs zeigen. Da ist es ... Er zieht ein Rasiermesser aus der Schublade. Schwedenstahl... Noch von meinem Vater. Ach, scheiß drauf, ich werd mich sowieso nicht mehr rasieren in diesem Leben! ... Er stürzt hinaus.

STIMME ALEKSANDRS Bürger Podsekalnikov, ich rühre mich nicht von der Stelle, nur lassen Sie mich ein Wort sagen. Bürger Podsekalnikov, glauben Sie mir aufs Wort - das Leben ist schön! Bürger Podsekal ... Er öffnet die Tür, steckt den Kopf herein, schaut sich um.

ALEKSANDR Wo ist er denn?...

Fünfzehnter Auftritt

Aleksandr Petrovič kommt aus seinem Zimmer herein, schaut sich um.

ALEKSANDR läuft zur Tür Bürger Podsekalnikov, nichts für ungut, nicht schießen bitte, ich komme nicht herein. Bürger Podsekalnikov, wahrscheinlich wundert Sie meine Aufdringlichkeit, ich erlaube mir dennoch erlaube ich mir nochmals durch die Wand, Ihre alles durchdringende Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu lenken: das Leben ist schön, Bürger Podsekalnikov ...

336 Nikolaj Erdman

Sechzehnter Auftritt

Seraftma Iljinicna und Margarita Ivanovna zerren die ohnmächtige Mär ja Lukjanovna herein.

SERAFIMA Was tun Sie? Was tun Sie da? Nehmen Sie die Füße in die Hand, Margarita Ivanovna!

MARGARITA Vorsichtig, vorsichtig ...

ALEKSANDR Seid ihr denn total verrückt? Was schleift ihr sie über den Boden? Stellt sie hoch, ihr müßt sie aufrecht stellen!

SERAFIMA So, knöpfen Sie ihr das Hemd auf.

ALEKSANDR Mit Vergnügen.

MARJA Wer ist da?

ALEKSANDR Lauter gute Bekannte, Marja Lukjanovna, genieren Sie sich nicht.

MARJA Wo ist er? Was ist mit ihm? Ist er tot, Genösse Kala-buškin?

ALEKSANDR Noch nicht, Marja Lukjanovna, aber ich muß Ihnen ehrlich sagen, er hat es vor.

MARJA Kommen Sie mit, zu ihm.

ALEKSANDR Nur das nicht, Marja Lukjanovna, oder Sie machen meinen ganzen Plan zunichte. Er hat mir selbst gesagt: wenn Sie meine Schwelle übertreten, erschieße ich mich vor Ihren Augen - hat er gesagt.

SERAFIMA Und Sie?

ALEKSANDR Ich habe alles versucht, ihn gebeten, ihm gut zugeredet - nichts hat gefruchtet.

MARGARITA Dem muß man befehlen, nicht zureden. Gehen Sie sofort zur Polizei und zeigen Sie an. Sollen sie ihn festnehmen und vor Gericht stellen.

ALEKSANDR Dieses Gesetz gibt es nicht, Margarita Ivanovna. Zum Leben kann man niemanden verurteilen. Zum Tode - ja, aber nicht zum Leben.

SERAFIMA Und wo ist der Ausweg?

ALEKSANDR In der Tuba, Serafima Iljinicna.

SERAFIMA Wie - in der Tuba?

Der Selbstmörder 337

ALEKSANDR Es gibt da so ein Hörn, eine Blastrompete, Serafi-ma Iljinična, Be-Tuba baß, Baßtuba bös, und diese Tuba-Bös ist der einzige Ausweg, seine Rettung.

MARJA Aber verzeihen Sie, was will er mit einer Blastrompete?

ALEKSANDR Geld verdienen, Marja Lukjanovna. Wenn wir ihm die Böstuba besorgen, kann ich garantieren, erschießt er sich nicht.

SERAFIMA Und was kostet so eine Tuba?

ALEKSANDR Ich schätze, fünfhundert Rubel, wenn nicht mehr.

MARJA Fünfhundert? Wenn wir fünfhundert Rubel hätten, brauchte er sich auch ohne Tuba nicht zu erschießen.

ALEKSANDR Das mag schon sein, Marja Lukjanovna.

MARGARITA Ich muß mit meinen Musikern reden, sollen sie ihm diese Tuba leihen.

SERAFIMA Sie haben eigene Musiker?

ALEKSANDR Sie arbeiten mit ihr im selben Restaurant.

SERAFIMA Reden Sie mit ihnen, Margarita Ivanovna.

MARJA Bitten Sie sie.

SERAFIMA Und zwar sofort, unverzüglich.

MARJA Fahren wir zu ihnen, Margarita Ivanovna, schnell, ziehen Sie sich an. Margarita Ivanovna und Marja Lukjanovna geben ins Zimmer von Aleksandr Petrovič.

Siebzehnter Auftritt

Aleksandr Petrovič, Serafima Iljinična.

SERAFIMA Ich fürchte, bevor sie mit der Tuba hier sind, macht

er... Peng. ALEKSANDR Wenn Sie hierbleiben, Serafima Iljinična, werden

Sie ihn, bis wir wieder da sind, davon abhalten. SERAFIMA Wie soll ich ihn denn abhalten? ALEKSANDR Ich würde Ihnen folgendes vorschlagen, Serafima

Iljinična. Sie gehen ganz dreist zu ihm ins Zimmer, tun so, als

wüßten Sie von nichts, und erzählen ihm was. SERAFIMA Was soll ich ihm erzählen?

338 Nikolaj Erdman

ALEKSANDR Irgendetwas, was ihn ablenkt: von den schönen Seiten des Lebens, amüsante Begebenheiten. Und vor allem: witzig.

SERAFIMA So etwas kenne ich nicht, Genösse Kalabuškin.

ALEKSANDR Kenne ich nicht ... Dann lassen Sie sich was einfallen. Ihr Schwiegersohn steht auf dem Spiel, Serafima Iljinična, das ist kein Scherz. Erzählen Sie ihm Witze, Verwechslungsgeschichten, oder einfach lustige Begebenheiten, damit er vergißt, abgelenkt wird, aufgeheitert, und dann kommen wir mit der Tuba - und haben ein Menschenleben gerettet, Serafima Iljinična. Gehen Sie, gehen Sie schon, keine Angst, erzählen Sie ihm was. Er geht ab in sein Zimmer.

Achtzehnter Auftritt

Serafima Iljinična bleibt vor der Tür stehen.

SERAFIMA Mein Gott, wenn ich nur wüßte, was. Also, wenns denn sein muß! ... Sie geht in ihr Zimmer.

Neunzehnter Auftritt

Semen Semenovič kommt herein. Er schaut sich besorgt um, zieht einen Revolver aus der Hosentasche. Füllt die Trommel mit Patronen. Setzt sich an den Tisch. Klappt das Tintenfaß auf. Reißt einen Zettel ab.

SEMEN schreibt An meinem Tod ...

Der Selbstmörder 339

Zwanzigster Auftritt

Serafima Iljinična kommt am ihrem Zimmer.

SERAFIMA Da ist er nicht. Sie bemerkt Semen Semenovič. Ach lieber Gott! ... Einen schönen guten Morgen, Semen Semenovič ... Ach, ich muß Ihnen eine Geschichte erzählen! Sie werden sich schieflachen! ... Kennen Sie schon die von den Deutschen?

SEMEN Nein. Und?

SERAFIMA Die Deutschen haben einen Mops aufgegessen, einen lebendigen Mops.

SEMEN Was für Deutsche?

SERAFIMA Was für welche, weiß ich nicht, aber sie haben ihn aufgegessen. Mein seliger Mann hat das immer erzählt, noch in Friedenszeiten, Semen Semenovič. Und wir haben uns halbtot gelacht! Pause. Ein Mops ist nämlich ein Hund, Semen Semenovič.

SEMEN Und?

SERAFIMA Und die Deutschen haben ihn aufgegessen.

SEMEN Und?

SERAFIMA Das ist alles.

SEMEN Was ist alles?

SERAFIMA Mein Gott, was soll ich ihm noch erzählen?! Und dann war da noch so ein komischer Fall.

SEMEN Sie sollten lieber gehen, Serafima Iljinična.

SERAFIMA Sie werden sterben vor Lachen, Semen Semenovič.

SEMEN Sie stören, Sie sehen doch, ich habe zu tun.

SERAFIMA Nein, hören Sie zu! Stellen Sie sich vor: im Krieg hatten wir bei uns im Dorf einen gefangenen Türken, in Gefangenschaft. Na, und natürlich verwundet. Manchmal hat er immer so mit dem Kopf gewackelt. Zum Verrücktwerden! Was tun? Da hatten wir eine Idee. Eines Abends kommen die Leute zusammen, einer hat Brot, der andere Sülze - und sie gehen zu ihm. Sie kommen hin, zeigen auf die Sülze, auf das Brot, und sagen: willst du essen? Der Türke mag russische Sülze für sein Leben gern, aber er kann es auf russisch nicht

340 Nikolaj Erdman

sagen. Er springt hoch, vor Hunger ganz aufgeregt, und sofort wackelt er wieder mit dem Kopf, wie wenn er sagen wollte: »nein«. Darauf haben die Leute nur gewartet. Sie wickeln alles wieder ein: tja, wenn du nicht willst - und ab nach Hause. Ach, was haben wir gelacht über diesen Türken. Wie finden Sie das?

SEMEN Scheren Sie sich zum Teufel, und zwar sofort, verstanden?

SERAFIMA Was denn, was denn, Semen Semenovič! Und dann war da ein Fall bei den Krönungsfeierlichkeiten ... Semen Semenovič springt auf, rafft Federhalter, Tintenfaß und Papier zusammen. Halt! Warten Sie! Wo wollen Sie hin, Semen Semenovič? Sie läuft ihm nach. Alexander der Selige hatte im Hauptportal einen Juden eingeklemmt!

Semen Semenovič läuft ins Zimmer nebenan.

Einundzwanzigster Auftritt Serafima Iljinična allein, vor der Tür.

SERAFIMA Das hat ihn nicht aufgeheitert. Wo soll ich nur Komisches hernehmen für ihn? O du mein Gott! Sie läuft ihm nach.

Zweiundzwanzigster Auftritt

Aus dem Zimmer von Aleksandr Petrovič kommen: Kalabuškin, Marja Lukjanovna, Margarita Ivanovna.

ALEKSANDR Fahren wir, schnell, Margarita Ivanovna!

MARJA Und können wir Senja allein lassen?

ALEKSANDR Die Schwiegermutter ist ja bei ihm. Keine Sorge,

Marja Lukjanovna, ich habe sie genauestens instruiert. Sie

laufen hinaus.

Der Selbstmörder 341

Dreiundzwanzigster Auftritt

Aus dem "Zimmer nebenan kommt Semen Semenovič gestürzt, Tintenfaß und Papier in der Hand.

SEMEN schreit, zur Tür hinaus Wenn Sie mir noch einmal etwas von einem Mops erzählen, reiße ich Ihnen die Haut vom Leibe! Laufen Sie mir nicht dauernd nach! Alte Idiotin. Er schlägt die Tür zu. Geht zum Tisch, streicht das Blatt Papier glatt. Schreibt weiter. Trifft niemanden eine Schuld. Podsekal-nikov.

Aleksandr Vvedenskij Kuprijanov und Nataša

Kuprijanov und seine liebste Frau Nataša haben die schweinischen Gäste hinausbegleitet und legen sich schlafen.

KUPRIJANOV bindet die elegante Krawatte ab und sagt

Die Kerze brennt: des Dunkels Schreck,

aus Silber ihre Knochen sind.

Nataša Kind

was gehst du fiebernd auf und ab,

die Gäste sind gewiß längst weg.

Ich hab sie schon vergessen, Sonja,

Marusja,

komm Liebste legen wir uns schlafen,

umgraben will ich dich

und ganz veschiedne Sachen in dir suchen,

zu Recht sagt man du seist nicht so gebaut wie ich. NATAŠA zieht die Bluse aus

Der Kerzenstummel Kuprijanov dieser kurze Docht

ich fürchte es hat wenig Zweck,

der Finsternis kein Schäfchen er entlockt,

und wir sind hier zu zweit,

ich fürchte heulen werd ich heut

vor Sehnsucht, vor Gefühl, vor Denken und vor Schreck,

Dich furcht ich Zwingherr Hemd

in dir versteckt, dem ich mich füge,

in dir bin ich wie eine Fliege. KUPRIJANOV zieht die Jacke aus

Schon bald Nataša werden wir

uns komischen Genüssen beugen.

Du wirst mit mir, wie ich mit dir

befassen dich mit Kinderzeugen,

344 Aleksandr Vvedenskij

wir werden liegen miteinander wie die Zander. NATAŠA zieht den Rock aus

O Gott, schon steh ich ohne Schale.

Was soll ich tun in meinen buntbemalten Hosen.

Und auf den Stühlen standen unterdes echt silberne Pokale schwarz funkelte der Wein drin wie ein Mönch, es regte sich der totgeglaubte Wurm,

NATAŠA

Ich fahre fort. Und werfe fort die Schöße.

Ich fühle schon wie ich mich schäme,

daß ich mich wie der Himmel hier entblöße:

noch ist nichts, was zum Vorschein käme,

doch bald erstrahlt der Stern.

Das alles ist entsetzlich ordinär. KUPRIJANOV zieht die Hose aus

Gleich werd auch ich mich vor dich stellen

wie eine Brandungswelle nackt.

Ich denk wie einst in diesen Augenblicken

ich heiliges Entzücken fühlte,

ich sah die Frau ihre Quelle

grün oder dunkelblau,

doch sie war rot.

Ich wurde wahnsinnig,

ich lachte, strich über ihren Atlashintern

und fühlte mich sehr gut,

ich dachte, die Frau sei eine Pfeife, sei gar

beinahe etwas wie ein Mensch,

die Ente unerreichbar.

Schön, aber jetzt mach schnell. NATAŠA zieht die Hose aus

Ich lasse fallen mein Gefieder

und denke deine Nase und dein Blick

sind wieder jetzt von mir erfüllt,

und du verschlingst mein Erdenbild.

Kuprijanov und Nataša 345

Schon kostest du im vorhinein das Glück

auf mir zu stehn zwei Stunden wie ein Turm,

schon siehst du meine Haare durch das Hemd,

schon spürst du meiner Wellen wilden Sturm.

Doch da ist eines das mich hemmt -

ich bin verschlafen wie die Langeweile. KUPRIJANOV zieht die Unterhose aus

Ich denke die zieh ich auch aus gleich,

damit ich keinem Toten gleiche

und unsre Häute sich erreichen.

Doch schaun wir wie der Spiegel unsre Fratzen zeigt:

Ich habe Bart. Bin etwas rot

vor Leidenschaft vielleicht,

die Augen glänzen, und ich zittre.

Doch du bist schön, bist licht

und deine Brust, zwei Kesseln gleich -

schon möglich, daß wir Teufel sind. NATAŠA zieht das Hemd aus

Sieh her, ich bin jetzt völlig nackt

und das kommt nun heraus:

Fortsetzung des Gesichts in einem Akt,

ich bin ganz wie im Badehaus.

Hier an den Seiten, wie Kerzenschein

siehst du die braunen Schultern mein,

darunter die zwei satten Brüste,

nach vorn gereckt die Schnuller dran,

der Bauch dann - unbewohnte Wüste,

der Eintritt in mich buschig und nicht lang,

die beiden Beine dann beacht,

dazwischen siehst du nichts als Nacht.

Die Landschaft meines Rückens

soll ich dir zeigen dunkel und berückend -

zwei Schulterblätter, angenehm geraten

als wärens Zelte und Soldaten,

und herrlich das Gesäß darunter

wahrlich ein wahres Himmelswunder

das dich betroffen machen muß.

346 Aleksandr Vvedenskij

Es regte sich der totgeglaubte Wurm,

doch nichts ringsum, das sang

als ihren listenreichen Körper sie anzuschauen zwang.

KUPRIJANOV zieht das Hemd aus Welch Langeweile allerorten, wie öde alles, mir wird übel, sieh her, wie eine nackte Torte wie prächtig steh ich vor dir üppig. Und mächtig ragt zum Himmel mein vierter Arm.

Ach wenn doch jemand käme und uns sähe, wir sind allein mit der Ikone der Erlösung, wehe. Wie lange haben wir uns ausgezogen? Was meinst du, eine halbe Stunde?

Indes umarmten sie einander wogend, sich fort zum stillen Bett bewegend.

- Ich habe dich endgültig lieb Nataša -Herr Kuprijanov zu ihr sagt. Sie legt sich, streckt die Beine in die Gegend und wortlos stumm die Kerze blakt.

NATAŠA

He, Kuprijanov, komm, ich liege, mach endlich, daß die Nacht obsiege, das letzte Ringlein dieser Welt das nicht zersprungen ist und uns noch hält, bist du auf mir.

Die schwarze Wohnung da erhellt

von fern die beiden mit einem Lächeln schier.

NATAŠA

Schnell, Kuprijanov, leg dich her zu mir, wir sterben bald.

Kuprijanov und Nataša 347

KUPRIJANOV

Nein, nein, ich will nicht. Er geht weg.

NATAŠA

Entsetzlich, jetzt bin ich allein Daß Steine lieben hat nicht sollen sein. Ich liege einsam nackt und bloß Und dreh die Finger in dem Moos. KUPRIJANOV sitzt im einsamen Genuß auf einem Stuhl Ich vergnüg mich lieber mit mir selber. So. Fertig. Zieh dich an.

Es dämmert vor sich hin der totgeglaubte Wurm.

NATAŠA zieht das Hemd an

Dich genommen habe ich

weil es wenig Welt gibt

weil es keine Welt gibt,

weil sie höher steht als ich.

Dumm und einsam steh ich pur

hier vor dir, mit der Figur. KUPRIJANOV zieht das Hemd an

Nataša, schau es wird schon hell. NATAŠA zieht die Hose an

Sie sollten gehn

ich will Sie nicht mehr sehn,

ich kitzele mich lieber selber

denn das versetzt mich in ein wundervolles Glück.

Ich bin selber meine Quelle.

Ich lieb einen ändern.

Ich zieh mich schweigend an in einem Traum.

Ich, aus nacktem Zustand wandernd

geh hinein ins Feuer dieser Kleider. KUPRIJANOV zieht die Unterhose an

Ich habe keine Hoffnung leider

mir scheint ich werde immer kleiner

asthmatischer und böser.

348 Aleksandr Vvedenskij

Die Augen ähnlich heißer Frauen versengen meines Körpers Auen, und ich gehöre nicht mehr mir.

Es gähnt der totgeglaubte Wurm.

NATAŠA zieht den Rock an

Oh, Schmach, Schamloser, welche Schande. Dem letzten Schuft hab ich vertraut. Auswurf der Menschheit -und so was wird einmal unsterblich.

Es stand die Nacht. Und die Natur. Es gähnt der totgeglaubte Wurm.

KUPRIJANOV zieht die Hose an

O Naturwissenschaft, o Logik, o Mathematik, o Kunst,

nicht ich bin schuld, daß ich vertraute jener Kraft und Gunst

dieses Gefühls, des allerletzten.

Oh, wie dunkel alles wird.

Die Welt erstickt endgültig.

Ihr wird übel von mir,

mir wird übel von ihr.

Die Würde versteckt sich in den letzten Wolken.

Ich habe nie vertraut auf eine Menge Sterne,

ich habe auf den einen Stern vertraut.

Ich einsamer Reiter selbander.

Und wir lagen nicht miteinander

wie die Zander. NATAŠA zieht die Bluse an

Schau her Idiot sieh an

die Enden meiner Brust.

Fort sind sie, fortgeschwommen mit der Lust,

Faß sie doch an du Blödian.

Für sie beginnt ein langer Schlaf.

Und ich verwandle mich in eine Lärche.

Ich quelle.

Kuprijanov und Nataša 349

KUPRIJANOV zieht die Jacke an

Die Frau sei, sagte ich, beinahe etwas wie ein Mensch -

sie ist ein Baum, ist Holz.

Was soll ich tun?

Mich setzen, rauchen, denken.

Oft, immer öfter kommt mir seltsam vor,

daß sich die Zeit bewegt,

daß sie noch atmet.

Die Zeit ist stärker als der Tod?

Schon möglich, daß wir Teufel sind.

Leb wohl, Nataša, liebe Lärche.

Auf geht die Sonne mächtig wie das Licht.

Ich verstehe nichts mehr.

Er wird klein-kleiner-am kleinsten und verschwindet. Die Natur ergibt sich dem einsamen Genuß.

Daniil Charms Minidramen

STREIT

Kuklov und Bogadelnev sitzen am Tisch, über den eine Wacbs-tuchdecke gebreitet ist, und essen Suppe.

KUKLOV Ich bin ein Prinz.

BOGADELNEV Du und ein Prinz!

KUKLOV Und was folgt daraus, daß ich ein Prinz bin?

BOGADELNEV Daß ich dich jetzt mit Suppe vollspritze.

KUKLOV Nein, das tust du nicht.

BOGADELNEV Warum sollte ich nicht?

KUKLOV Und warum willst du mich mit Suppe vollspritzen?

BOGADELNEV Du denkst wohl, weil du ein Prinz bist, kann

man dich nicht mit Suppe vollspritzen? KUKLOV Ja, das denke ich. BOGADELNEV Und ich denke das Gegenteil. KUKLOV Du denkst so, und ich so! BOGADELNEV Und auf dich kann ich pfeifen! KUKLOV Und du hast keinerlei innere Haltung! BOGADELNEV Und du hast eine Nase, die aussieht wie ein Trog! KUKLOV Und du machst ein Gesicht, als wüßtest du nicht, wo

du dich hinsetzen sollst.

BOGADELNEV Und du hast einen spindeldürren Hals! KUKLOV Und du bist ein Schwein! BOGADELNEV Und dir reiß ich gleich die Ohren ab! KUKLOV Und du bist ein Schwein! BOGADELNEV Ich reiß dir jetzt die Ohren ab! KUKLOV Und du bist ein Schwein!

352 Daniil Charms

BOGADELNEV Schwein? Und was bist du!

KUKLOV Ich bin ein Prinz.

BOGADELNEV Du und ein Prinz!

KUKLOV Und was folgt daraus, daß ich ein Prinz bin?

BOGADELNEV Daß ich dich jetzt mit Suppe vollspritze!

Minidramen 353

ENTWAFFNET

ODER

FEHLSCHLAG DER LIEBE

Tragisches Vaudeville in einem Akt

LEV MARKOVIČ springt auf die Dame zu Bitte!

DAME wehrt mit den Händen ab Lassen Sie mich!

LEV MARKOVIČ springt die Dame an Ach bitte!

DAME stößt mit den Beinen Gehen Sie!

LEV MARKOVIČ gr-abseht mit den Händen Nur ein Mal!

DAME stößt mit den Beinen Fort! Fort!

LEV MARKOVIČ Nur einen Schuß!

DAME stößt unartikulierte Laute aus, die »nein« bedeuten.

LEV MARKOVIČ Einen Schuß! Nur einen Schuß!

DAME vedreht die Augen.

LEV MARKOVIČ beeilt sich, greift nach seinem Instrument und

kann es auf einmal nicht finden. LEV MARKOVIČ Augenblick! Sucht überall mit den Händen.

Was zum Ttteufel!

DAME betrachtet Lev Markovič erstaunt. LEV MARKOVIČ Ist das eine Geschichte! DAME Was ist denn passiert? LEV MARKOVIČ Hm... Schaut verlegen nach allen Seiten.

Vorhang

354 Daniil Charms

MAKAROV UND PETERSEN NR. 3

MAKAROV Hier, in diesem Buch, steht alles über unsere Wünsche und über ihre Erfüllung. Lies dieses Buch, und du wirst begreifen, wie eitel unsere Wünsche sind. Und du wirst auch begreifen, wie leicht die Wünsche anderer zu erfüllen sind und wie schwer die eigenen Wünsche zu erfüllen sind.

PETERSEN Was redest du so furchtbar pathetisch. So reden Indianerhäuptlinge.

MAKAROV Von solch einem Buch kann man nur in erhabenem Tone sprechen. Sogar wenn ich nur daran denke, ziehe ich die Mütze.

PETERSEN Und wäschst dir die Hände, bevor du es anfaßt?

MAKAROV Ja, auch die Hände muß man vorher waschen.

PETERSEN Dann wasch dir für alle Fälle auch gleich die Füße.

MAKAROV Das ist geistlos und grob.

PETERSEN Und was ist das für ein Buch?

MAKAROV Der Titel dieses Buches ist geheimnisvoll ...

PETERSEN Hi-hi-hi!

MAKAROV Dieses Buch heißt MALGIL.

Petersen verschwindet.

MAKAROV Herrgott! Was ist das?.Petersen!

PETERSENS STIMME Was ist geschehen? Makarov! Wo bin ich?

MAKAROV Wo bist du? Ich sehe dich nicht!

PETERSENS STIMME Und wo bist du? Ich sehe dich auch nicht! ... Was sind das für Kugeln?

MAKAROV Was soll ich tun? Petersen, hörst du mich?

PETERSENS STIMME Ja! Aber was ist denn geschehen? Und was sind das für Kugeln?

MAKAROV Kannst du dich bewegen?

PETERSENS STIMME Makarov! Siehst du diese Kugeln?

MAKAROV Was für Kugeln?

PETERSENS STIMME Laßt mich! ... Laßt mich los! ... Makarov! ...

Minidramen 355

Stille. Makarov verharrt in Entsetzen, dann greift er nach dem Buch und schlägt es auf.

MAKAROV liest »... Allmählich verliert der Mensch seine Form und wird zu einer Kugel. Und zur Kugel geworden, verliert er alle seine Wünsche.«

Vorhang

356 Daniil Charms

ALLSEITIGE UNTERSUCHUNG

ERMOLAEV Ich war bei Blinov, er hat mir gezeigt, wie stark er ist. So etwas habe ich noch nie gesehen. Eine tierische Kraft! Ich habe Angst bekommen. Blinov hob den Schreibtisch hoch, holte damit aus und warf ihn vier Meter weit von sich.

DOKTOR Es wäre interessant, dieses Phänomen zu untersuchen. Die Wissenschaft kennt solche Fakten, deren Ursache ihr unbegreiflich sind. Woher solche Muskelkraft kommt, können die Gelehrten noch nicht sagen. Machen Sie mich mit Blinov bekannt. Ich gebe ihm die Untersuchungspille.

ERMOLAEV Und was ist das für eine Pille, die Sie Blinov geben wollen?

DOKTOR Pille, wie? Ich will ihm keine Pille geben.

ERMOLAEV Aber Sie selbst haben eben gesagt, Sie wollten ihm eine Pille geben.

DOKTOR Nein, nein, Sie irren sich. Von einer Pille habe ich nichts gesagt.

ERMOLAEV Also entschuldigen Sie schon, ich habe doch gehört, daß Sie etwas von einer Pille gesagt haben.

DOKTOR Nein.

ERMOLAEV Was-nein?

DOKTOR Ich habe nichts gesagt!

ERMOLAEV Wer hat nichts gesagt?

DOKTOR Sie haben nichts gesagt.

ERMOLAEV Was habe ich nicht gesagt?

DOKTOR Sie sagen, scheint mir, etwas nicht zu Ende.

ERMOLAEV Ich verstehe gar nichts. Was sage ich nicht zu Ende?

DOKTOR Ihre Rede ist sehr typisch. Sie verschlucken einzelne Wörter, sagen einen angefangenen Gedanken nicht zu Ende, sprechen zu hastig und fangen an zu stottern.

ERMOLAEV Wann habe ich gestottert? Ich spreche ziemlich

flüssig.

»DOKTOR Darin besteht ja Ihr Irrtum. Sehen Sie? Vor Anspannung bekommen Sie schon lauter rote Flecken im Gesicht. Sind Ihre Hände noch nicht kalt?

Minidramen 357

ERMOLAEV Nein. Wieso?

DOKTOR Nur so. Das ist meine Hypothese. Mir scheint, Sie bekommen schon schwer Luft. Setzen Sie sich lieber, sonst können Sie fallen. So ist es gut. Jetzt ruhen Sie sich aus.

ERMOLAEV Aber wozu denn das?

DOKTOR Psst. Überspannen Sie die Stimmbänder nicht. Gleich werde ich Ihnen Ihr Los erleichtern.

ERMOLAEV Doktor! Sie machen mir Angst.

DOKTOR Aber lieber Freund! Ich will Ihnen helfen. Hier, nehmen Sie das. Schlucken Sies runter.

ERMOLAEV Oh! Pfui! Was für ein widerlich süßer Geschmack! Was haben Sie mir da gegeben?

DOKTOR Nichts, nichts. Beruhigen Sie sich. Das ist ein zuverlässiges Mittel.

ERMOLAEV Mir ist heiß, und ich sehe alles grün.

DOKTOR Ja, ja, ja, lieber Freund, gleich werden Sie sterben.

ERMOLAEV Was sagen Sie da? Doktor! Oh, ich kann nicht mehr! Doktor! Was haben Sie mir gegeben? Oh, Doktor!

DOKTOR Sie haben die Untersuchungspille geschluckt.

ERMOLAEV Retten Sie mich. Oh. Retten Sie mich. Oh. Luft. Oh. Ret... Oh. Luft...

DOKTOR Er ist still. Und atmet nicht mehr. Also ist er gestorben. Er ist gestorben, ohne auf Erden eine Antwort gefunden zu haben auf seine Fragen. Ja, wir Ärzte müssen das Phänomen des Todes von allen Seiten untersuchen.

358 Daniil Charms

REHABILITIERUNG

Ohne angeben zu wollen, kann ich sagen, daß ich Volodja, als er mir eine aufs Ohr gehauen und mir ins Gesicht gespuckt hatte, so erwischt habe, daß er es nie vergessen wird. Erst danach habe ich ihm den Primuskocher drübergehauen, und mit dem Bügeleisen habe ich ihn erst gegen Abend geschlagen. So daß er also keineswegs gleich tot war. Daß ich ihm das Bein dann am Tage abgeschnitten habe, ist kein Beweis. Zu der Zeit hat er noch gelebt. Und Andrjuša habe ich einfach aus Trägheit erschlagen, das kann ich mir nicht zum Vorwurf machen. Warum sind Andrjuša und Elizaveta Antonovna mir in die Hände gefallen? Sie hätten nicht plötzlich hinter der Tür hervorspringen dürfen. Blutrünstigkeit wirft man mir vor, man sagt, ich hätte Blut getrunken, aber das ist nicht wahr, ich habe die Blutlachen und Blutflecken aufgeleckt; es ist ein natürliches Bedürfnis des Menschen, die Spuren seines auch noch so geringen Verbrechens zu beseitigen. Auch habe ich Elizaveta Antonovna nicht vergewaltigt. Erstens war sie keine Jungfrau mehr, und zweitens hatte ich mit der Leiche zu tun und keine Zeit, sie zu trösten. Und daß sie kurz vor der Niederkunft stand? Ich habe das Kind doch rausgezogen. Und daß es überhaupt kein Erdenbewohner war, das ist nun mal nicht meine Schuld. Ich habe ihm den Kopf nicht abgerissen, schuld war der dünne Hals. Es war für dieses Leben nicht geschaffen. Es ist wahr, daß ich ihr Hündchen mit dem Stiefel in den Erdboden gestampft habe. Aber es ist schon Zynismus, mich der Tierquälerei zu bezichtigen, wenn dicht daneben, kann man sagen, drei Menschenleben vernichtet wurden. Das Kind nicht mitgezählt. Also schön: in alledem (und dem kann ich zustimmen) möge man eine gewisse Brutalität meinerseits erkennen. Aber mir als Verbrechen anzurechnen, daß ich mich auf meine Opfer gesetzt und meine Notdurft verrichtet habe, - Sie müssen schon entschuldigen, das ist einfach absurd. Sich entleeren ist ein natürliches Bedürfnis, folglich durchaus kein verbrecherisches. Weshalb ich die Besorgnis meines Herrn Verteidigers zwar verstehe, aber dennoch auf meinen Freispruch hoffe.

Aleksandr Vvedenskij

Eine gewisse Anzahl Gespräche

GESPRÄCH ÜBER DAS IRRENHAUS

Im Wagen fuhren drei. Sie tauschten Gedanken aus.

ERSTER Ich kenne das Irrenhaus. Ich habe das Irrenhaus gesehen.

ZWEITER Was sagst du da? Ich kenne nichts. Wie sieht es aus.

DRITTER Sieht es aus? Wer hat das Irrenhaus gesehen?

ERSTER Was befindet sich in ihm? Wer lebt in ihm?

ZWEITER Vögel leben nicht in ihm. In ihm gehen Uhren.

DRITTER Ich kenne das Irrenhaus, dort leben die Irren.

ERSTER Mich freut das. Mich freut das sogar sehr. Sei gegrüßt, Irrenhaus.

DER DIREKTOR DES IRRENHAUSES blickt in sein altersschwaches Fensterchen, wie in einen Spiegel Seid gegrüßt ihr Lieben. Legt euch nieder.

Der Wagen hält vor dem Tor. Über den Zaun schauen Nichtigkeiten. Der Abend geht vorüber. Keinerlei Veränderungen gehen vor. Achte die Armut der Sprache. Achte die bettelarmen Gedanken.

ERSTER So also ist das Irrenhaus. Sei gegrüßt Irrenhaus. ZWEITER Ich wußte ja, daß es genau so ist. DRITTER Ich wußte es nicht. Ob es genau so ist. ERSTER Kommt laßt uns gehn. Alle gehen hier überallhin. ZWEITER Hier gibt es keine Vögel. Gibt es hier Vögel. DRITTER Wir sind nurmehr wenige, und wir haben nicht mehr lange.

360 Aleksandr Vvedenskij

ERSTER Schreibt sauber. Schreibt langweilig. Schreibt wolkig.

Schreibt tönend. ZWEITER Gut so werden wir es machen.

Die Tür öffnet sich. Auftritt der Arzt mit den Pflegern. Alle erschaudern. Achte die Umstände des Ortes. Achte, was geschieht. Aber nichts geht vor. Achte die Armut der Sprache. Achte die bettelarmen Gedanken.

ERSTER spricht in russischen Versen

Tretet ein ins Irrenhaus

Meine Freunde, meine Fürsten.

Es erwartet uns voll Freude.

Wir erwarten uns voll Freude.

Zünden an wir die Laterne,

die Laterne hängt - ein Zar.

Füchse laufen von uns fort

bellen, ja sie kreischen gar.

Alles hier ist nur auf Zeit,

Blumen schwatzen ringsumher.

ZWEITER Ich habe diese Verse angehört. Sie sind längst zu Ende. DRITTER Wir sind nurmehr wenige, und wir haben nicht mehr

lange.

DER DIREKTOR DES IRRENHAUSES öffnet sein altersschwaches Fensterchen, wie eine Luke Kommt wieder ihr Lieben, legt euch nieder.

Im Wagen fuhren drei. Sie tauschten Gedanken aus.

Gespräche 361

GESPRÄCH ÜBER DAS FEHLEN JEGLICHER POESIE

Zwölf Mann saßen im Zimmer. Zwanzig Mann saßen im Zimmer. Vierzig Mann saßen im Zimmer. Im Saal wurde ein Konzert gegeben. Der Sänger sang:

Habt ihr Dichter ausgesungen, Eure Lieder sind verklungen? In den Särgen Sänger liegen Tot und geizig und verschwiegen.

Der Sänger macht eine Pause. Ein Divan erscheint. Der Sänger fährt fort.

Lautlos steht der Baum im Felde, grußlos strömt dahin die Nacht. Leise wie die Wissenschaft Sengt die Sonne öde Wälder.

Der Sänger macht eine Pause. Der Divan ist verschwunden. Der Sänger fährt fort.

Wolken ziehn am Himmel schwer. Pferde laufen klug davon. Verse hört man nimmermehr. Alles dunkel, alles stumm.

Der Sänger macht eine Pause. Der Divan erscheint. Der Sänger fährt fort.

Wahr ist, tot sind alle Dichter, Musikanten, Sänger, Lieder. Ihre Leiber liegen sicher schlafen geizig und verschwiegen.

Der Sänger macht eine Pause. Der Divan ist verschwunden.

362 Aleksandr Vvedenskij

Der Sänger fährt fort.

Seht o sehet die Natur.

Hier traten alle ans Fenster und vertieften sich in einen nichtswürdigen Anblick.

Lautlos steht der Wälder Flur.

Alle warfen einen Blick auf die Wälder, die keinen einzigen Laut von sich gaben.

Vogelstimmen, was bedeuten die schon heute noch den Leuten.

Überall ringsumher stehen die Leute und spucken aus., sobald sie die Vögel singen hören.

Der Sänger macht eine Pause. Der Divan ist verschwunden. Der Sänger fährt fort.

Herbst ist. Purpurn ruht das Blatt. Dunkelnd schläft der Sänger Grab. Auf die Hügel senken sacht Nacht und Nebel sich herab.

Der Sänger macht eine Pause. Der Divan erscheint. Der Sänger fährt fort.

Da stehen, aus dem Schlaf erwacht Auf die Dichter: du hast recht. Aus das Lied, von Gras bewacht Liegen wir in Grabesnacht.

Der Sänger macht eine Pause. Der Divan erscheint. Der Sänger fährt fort und beendet das Memorandum.

Gespräche 363

Die Musik spielt in der Erde, Würmer nurmehr singen Verse. Flüsse murmeln Reime bang, Tiere trinken Liederklang.

Der Sänger macht eine Pause. Der Divan ist verschwunden. Der Sänger gestorben. Quod erat demonstrandum (was er damit bewiesen hat).

364 Aleksandr Vvedenskij

GESPRÄCH ÜBER DIE ERINNERUNG VON EREIGNISSEN

ERSTER Erinnern wir uns an den Anfang unseres Streits. Ich sagte, ich sei gestern bei dir gewesen, du sagtest, ich sei gestern nicht bei dir gewesen. Zum Beweis dessen sagte ich, ich hätte gestern mit dir gesprochen, du sagtest zum Beweis dessen, ich hätte gestern nicht mit dir gesprochen.

Beide streichelten mit gewichtiger Miene jeder die eigene Katze. Draußen stand bereits der Abend. Im Fenster stand eine brennende Kerze. Musik spielte.

ERSTER Da sagte ich: Aber wieso denn, du hast doch hier an dem Punkt A gesessen, und ich stand hier an Punkt B. Da sagtest du: Nein, wieso denn, du hast nicht hieran Punkt A gesessen, und ich habe nicht an Punkt B gestanden. Um die Kraft meines Beweises zu erhöhen, um ihn sehr, sehr schlagend zu machen, verspürte ich umgehend Trauer und Heiterkeit und Tränen und sagte: Wir waren doch hier zu zweit, gestern um diese Zeit, an diesen beiden Punkten nah beieinander, an Punkt A und an Punkt B, � begreif doch.

Sie saßen beide in dem Zimmer eingeschlossen. Schlitten fuhren.

ERSTER Aber auch dich erfaßten Gefühle des Zorns, der Wut und der Wahrheitsliebe, und du gabst mir zur Antwort: Du warst du, und ich war ich. Du hast mich nicht gesehen, ich habe dich nicht gesehen. Um von diesen verreckten Punkten A und B erst gar nicht zu reden.

Zwei Menschen saßen im Zimmer. Sie unterhielten sich.

ERSTER Da sagte ich: (Ich erinnere mich) auf diesem Schrank dort ging, vor sich hinpfeifend, ein Pferdeknecht spazieren, und (ich erinnere mich) auf dieser Kommode rauschte mit

Gespräche 365

seinen schönen Wipfeln ein mächtiger Blumenwald und (ich erinnere mich) unter dem Stuhl eine sprudelnde Quelle und unter dem Bett war ein riesiger Palast. Das war es, was ich zu dir sagte. Da gabst du mir lächelnd zur Antwort: Ich erinnere mich an den Pferdeknecht, an den mächtigen Blumenwald, die sprudelnde Quelle, an den riesigen Palast, aber wo sind sie -keine Spur von ihnen weit und breit. In allem übrigen waren wir uns beinahe sicher. Aber es war alles anders.

"Zwei Menschen saßen im Zimmer. Sie erinnerten sich. Sie unterhielten sich.

ZWEITER Dann kam die Mitte unseres Streits. Du sagtest: Aber du kannst dir vorstellen, daß ich gestern bei dir gewesen wäre. Ich sagte: Ich weiß nicht. Kann sein, daß ich es kann, aber du bist nicht bei mir gewesen. Da sagtest du, mit einem für kurze Zeit völlig veränderten Gesicht: Wie das? wie das? ich stelle es mir vor. Ich bestehe nicht mehr darauf, daß ich bei dir gewesen wäre, aber ich stelle es mir vor. Ich sehe es klar vor Augen. Ich betrete dein Zimmer und sehe dich - du sitzt mal hier mal da und ringsum hängen die Augenzeugen dieser Geschichte. Gemälde und Standbilder und Musik.

Zwei Menschen saßen im Zimmer eingeschlossen. Auf dem Tisch brannte eine Kerze.

ZWEITER Du hast das alles sehr, sehr überzeugend erzählt, antwortete ich, aber ich habe für eine Zeit vergessen, daß es dich gibt, und alle meine Augenzeugen schweigen. Kann sein daß ich mir deshalb nichts vorstelle. Ich bezweifle sogar das Vorhandensein dieser Augenzeugen. Da sagtest du, du erführest allmählich den Tod deiner Sinne, und dennoch, dennoch (doch nun schon ganz schwach) dennoch käme es dir sovor, als wärst du bei mir gewesen. Ich verstummte ebenfalls und sagte, mir käme es dennoch so vor, als wärst du allem Anschein zum Trotz dennoch nicht bei mir gewesen. Aber es war alles anders.

366 Aleksandr Vvedenskij

Drei Menschen saßen im Zimmer eingeschlossen. Draußen stand der Abend. Musik spielte. Die Kerze brannte.

DRITTER Erinnern wir uns an das Ende eures Streits. Ihr sagtet beide nichts mehr. So war es, alles ganz genau so. Die Wahrheit ist, wie eine Numerierung, mit euch durchgegangen. Was war nun an allem wahr? Der Streit war zu Ende. Ich war unwahrscheinlich erstaunt.

Sie streichelten mit gewichtiger Miene jeder die eigene Katze. Draußen stand der Abend. Im Fenster brannte eine Kerze. Musik spielte. Die Tür war fest verschlossen.

Gespräche ^j

GESPRÄCH ÜBER DIE KARTEN

Also dann spielen wir Karten: rief der ERSTE.

Es war früh am Morgen. Es war ganz früh am Morgen. Es war vier Uhr nachts. Nicht alle waren da, die hätten da sein können, diejenigen, die nicht da waren, lagen, von schwerer Krankheit geschüttelt, zu Hause in ihren Betten, und ihre bekümmerten Familien umringten sie, schluchzend und an die Augen drückend. Sie waren Menschen. Sie waren sterblich. Was will ich machen. Wenn man sich umblickt, so wird uns dasselbe geschehen.

Also dann spielen wir Karten, rief an diesem Abend dennoch -der ZWEITE.

Ich spiele mit Vergnügen Karten. Sagte SANDONECKIJ oder

der DRITTE.

Mich heitern sie auf. Sagte der ERSTE.

Aber wo sind denn unsere Lieben die eine Frau und die ein Mädchen war? fragte der ZWEITE.

O fraget nicht, sie liegen im Sterben. Sagte der DRITTE oder SANDONECKIJ. Kommt spielen wir Karten.

Karten sind eine gute Sache. Sagte der ERSTE.

Ich liebe das Kartenspielen. Sagte der ZWEITE.

Mich erregen sie. Ich gerate ganz außer mir. Sagte SANDONEK-KIJ. Er ist nämlich der DRITTE.

Wenn einer stirbt, ist es mit dem Kartenspielen nämlich aus. Sagte der ERSTE. Und deshalb - kommt spielen wir jetzt Karten.

Warum solch finstere Gedanken. Sagte der ZWEITE. Ich liebe das Kartenspielen.

Auch ich liebe das Leben. Sagte der DRITTE. Ich spiele für mein Leben gern.

Ich liebe es, ich kann gar nicht sagen wie. Sagte der ERSTE. Ich könnte die ganze Zeit spielen.

Wir können auf dem Tisch spielen. Können es auch auf dem Fußboden. Sagte der ZWEITE. Und deshalb schlage ich vor -kommt spielen wir Karten.

368 Aleksandr Vvedenskij

Von mir aus auch an der Decke. Sagte SANDONECKIJ.

Von mir aus auch auf dem Weinglas. Sagte der ERSTE.

Von mir aus unter dem Bett. Sagte der ZWEITE.

Dann spielt doch aus. Sagte der DRITTE. Fangt an. Spielt aus. Zeigt eure Karten. Kommt spielen wir endlich Karten.

Ich kann ausspielen. Sagte der ERSTE. Ich habe schon oft gespielt.

Ja nun. Sagte der ZWEITE. Ich denke an nichts mehr. Ich bin ein Spieler.

Ich sage das nicht aus Angeberei, sagte SANDONECKIJ. Aber wen sollte ich schon lieben. Ich bin Spieler.

Nun denn, sagte der ERSTE, - hier sind Spieler zusammengekommen. Also spielen wir Karten.

Soweit ich verstehe, sagte der ZWEITE, wird hier mir und allen anderen vorgeschlagen Karten zu spielen. Meine Antwort ist -einverstanden.

Mir ist, als würde mir dasselbe vorgeschlagen. Sagte der DRITTE. Meine Antwort - einverstanden.

Meiner Ansicht nach ergeht der Vorschlag auch an mich, sagte der ERSTE. Meine Antwort - einverstanden.

Ich sehe, sagte der ZWEITE, wir sind das reine Irrenhaus, lauter Verrückte. Spielen wir endlich. Wozu sitzen wir sonst hier.

Ja, sagte SANDONECKIJ, was mich betrifft - ich bin tatsächlich verrückt. Ohne Karten bin ich zu nichts zu gebrauchen.

Ja, sagte der ERSTE, wenn ihr so wollt - ich auch. Wo Karten sind, da bin auch ich.

Mich machen Karten völlig verrückt, - sagte der ZWEITE. Wenn wir spielen wollen, spielen wir.

So jetzt haben wir uns die Nacht um die Ohren geschlagen, sagte der DRITTE. Und schon ist sie zu Ende. Gehen wir nach Hause.

Ja, sagte der ERSTE. Das hat die Wissenschaft bewiesen.

Natürlich. Sagte der ZWEITE. Die Wissenschaft hat es bewiesen.

Kein Zweifel. Sagte der DRITTE. Die Wissenschaft hat es bewiesen.

Sie mußten alle lachen und gingen jeder für sich nach Hause.

Gespräche 369

GESPRÄCH ÜBER DIE FLUCHT IM ZIMMER

Drei Menschen liefen im Zimmer. Sie unterhielten sich, sie verschafften sich Bewegung.

ERSTER Das Zimmer flieht nirgend wohin, ich laufe.

ZWEITER Um Standbilder, Standbilder, Standbilder herum.

DRITTER Standbilder gibt es hier keine. Seht her, es gibt hier keine Standbilder.

ERSTER Sieh her - es gibt hier keine Standbilder.

ZWEITER Unser Trost ist, daß wir Seelen haben. Schaut, ich laufe.

DRITTER Der Stuhl ist ein Flüchtling, der Tisch ist ein Flüchtling, die Wand ist flüchtig.

ERSTER Ich glaube, du täuschst dich. Mir scheint, es sind nur wir, die fliehen.

Drei Menschen saßen im Garten. Sie unterhielten sich. Über ihnen flogen Vögel Drei Menschen saßen im grünen Garten.

ZWEITER

Schön sitzt man im Garten, gern Lächelt man hinauf zum Stern, Zählt im Geist, wieviel zum Winter Von uns sterben und verschwinden. Hört der Vögel Klopfen bang, Hört der Menschgesichter Klang, Tiergebrüll und wildes Wiehern, Aufstehn und zum Abschied fliehen.

Drei Menschen standen auf dem Bergesgipfel. Sie sprachen in Versen. Für größere Bewegungen war weder Raum noch "Zeit.

DRITTER

Schön steht man im Berges winde Und denkt an die Erdenrinde.

370 Aleksandr Vvedenskij

Sei sie schwarz und noch so faltig, Nein, ihr Staat ist allgewaltig. Luft ist hier, doch alt und grau. Sei gegrüßt, Luft, Nachbarsfrau. Ich umarme hier die Höhe. Sehe Gott aus nächster Nähe.

Drei Menschen standen am Meeresufer. Sie unterhielten sich. Die Wellen hörten ihnen aus der Ferne zu.

ERSTER

Am Meer stand ich seit langem schon

Und dachte, seine Fläche schwingt.

Ich dachte, woher kommt der Ton,

Der wie Puccini klingt.

Und ich begriff: Meer ist ein Garten.

Es ruft mit Wellen der Musik

Zum Wettlauf mit den Träumen, harten

Ins Zimmer mich und euch zurück.

Drei Menschen liefen im Zimmer. Sie unterhielten sich. Sie verschafften sich Bewegung. Sie blickten um sich.

ZWEITER Hier ist alles wie zuvor. Nichts ist irgendwohin

geflohen. DRITTER Die einzigen, die fliehen, sind wir. Ich werde gleich die

Waffe ziehen. Ich werde Hand an mich legen. ERSTER Wie komisch. Willst du dich erschießen oder ertränken

oder aufhängen, oder was? ZWEITER O lache nicht! Ich laufe, um schneller am Ende zu

sein.

DRITTER Ein Verrückter. Läuft um Standbilder herum. ERSTER Will man sämtliche Gegenstände Standbilder nennen,

dann ja. ZWEITER Standbilder nennen würde ich die Sterne und die

reglosen Wolken. Was mich betrifft, ich würde sie so nen-

Gespräche 371

DRITTER Ich fliehe zu Gott - ich bin ein Flüchtling. ZWEITER Mir ist bewußt, ich habe mit mir abgeschlossen.

Drei Menschen traten aus dem Zimmer und stiegen auf das Dach. Wie es scheinen möchte � wozu?

3/2. Aleksandr Vvedenskij

GESPRÄCH ÜBER DIE UNMITTELBARE FORTSETZUNG

Drei Menschen saßen auf dem Dach, die Hände gefaltet, in völliger Ruhe. Über ihnen flogen die Spatzen.

ERSTER Siehst du, ich nehme den Strick. Er ist fest. Er ist bereits geseift.

ZWEITER Wozu noch lange reden. Ich ziehe die Pistole. Sie ist bereits geseift.

DRITTER Und da ist auch der Fluß. Das Eisloch. Es ist bereits geseift.

ERSTER Alle können es sehen, ich bereite mich darauf vor zu tun, was ich mir vorgenommen habe.

ZWEITER Lebt wohl, meine Kinder, meine Frauen, meine Mütter, meine Väter, meine Meere, meine Luft.

DRITTER Grausames Wasser, was soll ich dir ins Ohr flüstern. Ich denke - nur das eine: wir sehen uns bald.

Sie saßen auf dem Dach in völliger Ruhe. Über ihnen flogen die Spatzen.

ERSTER Ich trete zur Wand und suche mir die Stelle. Hier, hier

schlagen wir den Haken ein. ZWEITER

Kaum sieht mir die Mündung ins Gesicht, Als es auch schon nach Toten riecht. DRITTER Lang hast du auf mich warten müssen zugefrorener

Fluß. Nur noch ein wenig und ich komme dir entgegen. ERSTER Luft ich möchte dir zum Abschied die Hand drücken. ZWEITER Nur noch ein Weilchen und ich werde ein Eisschrank. DRITTER Und ich - ein Unterseeboot.

Sie saßen auf dem Dach in völliger Ruhe. Über ihnen flogen Spatzen.

Gespräche 373

ERSTER Ich stehe auf dem Hocker einsam wie eine Kerze.

ZWEITER Ich sitze auf dem Stuhl. Die Pistole in der irren Hand.

DRITTER Bäume die ihr im Schnee und Bäume die ihr geflügelt im Laub steht ferne diesem blauen Eisloch, ich stehe hier in Pelz und Mütze, wie Puškin dereinst, und vor diesem Eisloch diesem Wasser stehend - bin ich ein Mensch der endet.

ERSTER Ich weiß alles. Ich lege mir den Strick um den Hals.

ZWEITER Ja, es ist alles klar. Ich stecke mir die Mündung der Pistole in den Mund. Ich klappere nicht mit den Zähnen.

DRITTER Ich trete etwas zurück. Ich nehme Anlauf. Ich laufe.

Sie saßen auf dem Dach in völliger Ruhe. Über ihnen flogen Spatzen.

ERSTER Ich springe vom Hocker. Den Strick um den Hals. ZWEITER Ich spanne den Hahn. Die Kugel im Lauf. DRITTER Ich bin ins Wasser gesprungen. Das Wasser in mir. ERSTER Die Schlinge strafft sich. Ich ersticke. ZWEITER Die Kugel trifft mich. Ich habe alles verloren. DRITTER Das Wasser übererfüllt mich. Ich verschlucke mich.

Sie saßen auf dem Dach in völliger Ruhe. Über ihnen flogen Spatzen.

ERSTER Ich bin gestorben. ZWEITER Ich bin gestorben. DRITTER Ich bin gestorben. ERSTER Gestorben. ZWEITER Gestorben. DRITTER Gestorben.

Sie saßen auf dem Dach in völliger Ruhe. Über ihnen flogen

Spatzen.

Sie saßen auf dem Dach in völliger Ruhe. Über ihnen flogen

Spatzen.

Sie saßen auf dem Dach in völliger Ruhe. Über ihnen flogen

Spatzen.

374 Aleksandr Vvedenskij

Klärender Gedanke. Es könnte den Anschein haben, als würde man hier fortfahren, wo alle tot sind, als würde man hier fortfahren. Das ist jedem klar. Vergiß aber nicht, daß hier nicht drei Menschen handeln. Nicht drei Menschen fahren im Wagen, nicht sie streiten, nicht sie sitzen auf dem Dach. Kann sein, daß es drei Löwen sind, drei Tapire, drei Störche, drei Buchstaben, drei Zahlen oder Daten. Was ist uns ihr Tod, was ihr Tod ihnen.

Aleksandr Vvedenskij Weihnachten bei Ivanovs

Personen:

PETJA PEROV - einjähriger Junge NlNA SEROVA - achtjähriges Mädchen VARJA PETROVA - siebzehnjähriges Mädchen VOLODJA KOMAROV- fünfundzwanzigjähriger Junge SONJA OSTROVA - zweiunddreißigjähriges Mädchen MlŠA PESTROV- sechsundsiebzigjähriger Junge

Kinder

oder

einfach

Teufel

DUNJA ŠUSTROVA- zweiundachtzigjähriges Mädchen MUTTER PUZYRJOVA VATER PUZYRJOV DER HUND VERA DER SARGTISCHLER

Dienstmädchen, Köche, Soldaten, Griechisch- und Lateinlehrer, und andere

Das Stück spielt in den 9oer Jahren des 19. Jahrhunderts.

ERSTER AKT Erstes Bild

Auf das erste Bild ist eine Badewanne gemalt. Es ist Heiligabend. Die Kinder werden gebadet. Eine Kommode steht herum. Rechts der Tür schlachten die Köche Hühner und Ferkel. Ammen, Ammen, Ammen waschen die Kinder. Alle Kinder sitzen in der einen großen Badewanne, Petja Petrov, der einjährige Junge, wird in einer Schüssel gebadet, die der Tür direkt gegenüber steht. An der Wand, links der Tür hängt eine Uhr. Auf ihr ist es neun Uhr abends.

376 Aleksandr Vvedenskij

PETJA PEROV der einjährige Junge Bekommen wir einen Tannenbaum? Ja. Und plötzlich bekommen wir keinen. Plötzlich werde ich sterben.

AMME finster wie ein Stinktier Petja Perov, wasch dich. Seif dir die Ohren und den Hals. Du kannst noch gar nicht sprechen.

PETJA PEROV der einjährige Junge Ich kann in Gedanken sprechen. Ich kann weinen. Ich kann lachen. Was willst du?

VARJA PETROVA Mädchen, 17 Jahre Volodja, bürste mir den Rücken. Ich habe schon Moos angesetzt. Was meinst du?

VOLODJA KOMAROV Junge, 25 Jahre Gar nichts meine ich. Ich habe mir den Bauch verbrüht.

MlŠA PESTROV Junge, 76 Jahre Jetzt hast du einen Fleck, den du, wie ich weiß, mit nichts und nie wieder rauskriegen.

SONJA OsTROVA Mädchen, 32 Jahre Immer mußt du Fehler machen beim Sprechen, Miša. Schau lieber mal, was ich für einen Busen bekommen habe.

DUNJA ŠUSTROVA Mädchen, 82 Jahre Mußt du schon wieder angeben. Erst waren es die Schenkel. Jetzt ist es der Busen. Du solltest Gott fürchten.

SONJA OSTROVA Mädchen, 32 Jahre, vom Kummer ergriffen wie ein erwachsener Kleinrusse Du hast mich beleidigt. Dumme Kuh, Idiotin, alte Hure.

AMME holt mit dem Beilaus wie mit einer Axt Senečka, wenn du anfängst zu schimpfen, sage ich es Papa und Mama, erschlage ich dich mit dem Beil.

PETJA PEROV der einjährige Junge Dann spürst du, für einen kurzen Augenblick, wie deine Haut platzt und wie das Blut sprudelt. Was du weiter spüren wirst, wissen wir nicht.

NlNA SEROVA Mädchen, 8 Jahre Sonečka, diese Njanja ist eine Verrückte oder eine Verbrecherin. Sie ist zu allem fähig. Warum wir sie nur zu uns genommen haben.

MlŠA PESTROV Junge, 76 Jahre Kinder, hört auf zu streiten. Sonst erlebt man nicht einmal den Tannenbaum. Dabei haben die Eltern doch Kerzen gekauft, Konfekt und Streichhölzer

� zum Kerzenanzünden.

SONJA OSTROVA Mädchen, 32 Jahre Ich brauche keine Kerzen. Ich habe selber einen Finger.

Weihnachten bei Ivanovs 377

VARJA PETROVA Mädchen, 17 Jahre Sonja, hör auf damit. Hör

auf. Wasch dich lieber. VOLODJA KOMAROV Junge, 2$ Jahre Mädchen müssen sich

öfter waschen als Jungen, sonst werden sie ekelhaft. Das ist

meine Meinung. MlŠA PESTROV Junge, 76Jahre Oh, jetzt reicht es mir aber mit

euren Gemeinheiten. Morgen steht der Tannenbaum, und wir

werden alle fröhlich sein. PETJA PEROV der einjährige Junge Nur ich werde bei allen

Gästen reihum auf dem Arm sitzen und ein ernstes und

dummes Gesicht machen, als ob ich keine Ahnung hätte. Ich

und der unsichtbare Gott. SONJA OSTROVA Mädchen, 32 Jahre Und ich werd, wenn sie

uns in den Saal lassen, wenn sie den Baum anzünden, den

Rock hochheben und allen alles zeigen. AMME wird zum Tier Nein, das wirst du nicht. Außerdem hast

du gar nichts zu zeigen - du bist noch klein. SONJA OSTROVA Mädchen, 32 Jahre Doch, das werde ich. Daß

ich eine Kleine habe, stimmt. Um so besser. Meine Kleine ist

nicht so, wie du eine hast. AMME packt das Beil und schlägt ihr den Kopf ab Du hast diesen

Tod verdient.

Die Köche hören auf, Hühner und Ferkel zu schlachten. Auf dem Fußboden, zwei Schritte von dem Körper entfernt, liegt er blutige verzweifelte Kopf. Hinter der Tür jault der Hund Vera. Die Polizei kommt herein.

POLIZEI Wo sind denn eure Eltern! DIE KINDER im Chor

Sie sind im Theater. POLIZEI Sind sie schon lange fort? DIE KINDER im Chor

Ja, aber nicht für immer. POLIZEI

Was sehen sie sich an,

Komödie, Oper, Drama?

378 Aleksandr Vvedenskij

DIE KINDER im Chor

Nein, viel schlimmer,

sie sehen ein Ballett.

Wir lieben unsre Mama. POLIZEI

Wie angenehm, wie nett,

wenn man doch immer nur

ein Publikum zu schützen hätt

mit solch einer Kultur. DIE KINDER im Chor

Geht ihr denn auf Kothurnen?

Seht ihr nicht die Spuren? POLIZEI

Oh doch, wir sehen eine Leiche

und ihren Kopf daneben,

hier liegt ein Menschenkind

ganz ohne Sinn und Sund -

was habt gemacht ihr eben? DIE KINDER im Chor

Die Njanja mit dem Beil

hat unser Schwesterchen erschlagen.

POLIZEI

Wo ist die Mörderin? AMME

Hier bin ich.

Bindet mich.

Verhaftet mich.

Bestraft mich. POLIZEI

Diener, Feuer, schlafet nicht. DIE DIENER

Wir weinen, heulen und flennen,

die Feuer aber, die brennen. AMME weint

Bestraft das Pferd,

ich bins nicht wert,

daß mir das widerfährt.

Weihnachten bei Ivanovs 379

POLIZEI

Was trägt das an diesem

furchtbaren Blutvergießen

für eine Schuld? Hört, hört:

»Bestraft das Pferd...«

Und außerdem, wo war,

wo wäre denn das Pferd? AMME Ich bin verrückt. POLIZEI Los, zieh dir was an. Das klären wir auf dem Revier. Da

werden sie dich untersuchen. Legt ihr Ketten oder Fesseln

an.

EIN KOCH Njanja, jetzt kriegst du Fesseln an die Ketten. EIN ZWEITER KOCH Vatermörderin.

POLIZEI He, Ruhe, ihr Köche. Los, gehn wir. Auf Wiedersehen, Kinder.

Man hört es an der Tür klopfen. Vater Puzyrjov und Mutter Puzyrjova stürzen herein. Sie sind vor Schmerz von Sinnen. Sie schreiben, bellen und brüllen fürchterlich. An der Wand, links der Tür, hängt eine Uhr. Auf ihr ist es zwölf Uhr abends.

Ende des ersten Bildes

Zweites Bild

Derselbe Abend und Wald. So viel Schnee, daß man ihn fuhrenweise wegfahren könnte. Und er wird tatsächlich weggefahren. Im Wald schlagen die Holzfäller Tannenbäume. Morgen werden in vielen russischen und jüdischen Haushaltungen Tannenbäume stehen. Von den anderen Holzfällern tritt einer hervor, derFedor heißt. Er ist der Bräutigam der Amme, die den Mord begangen hat. Was weiß er davon: er weiß noch nichts. Er fällt mit leichter Hand den Tannenbaum fürs Weihnachtsfest im Haushalt Puzyrjov. Alle wilden Tiere haben sich in ihren Höhlen verkrochen. Die Holzfäller singen im Chor eine Hymne. Auf derselben Uhr, links der Tür, ist es dieselben neun Uhr abends.

380 Aleksandr Vvedenskij

DIE HOLZFÄLLER

Wie ists im Wald so schön, wie ist der Schnee so hell. Wir beten an das Rad, denn runder kanns nicht gehn.

Die Bäume auf den Wägen sie liegen ohne Leben. Die Zweige auf den Schlitten wie Engelein sich regen.

Wißt, morgen ist das hohe Fest, und wir, glücklos Gesinde, wir trinken auf sein Wohl, was man uns trinken läßt.

Von seinem Thron schaut Gott, er lächelt mild und weise und seufzt ganz ohne Spott: »Mein Volk, du arme Waise.«

FEDOR nachdenklich Nein, ihr könnt nicht wissen, was ich euch gleich sagen werde. Ich habe eine Braut. Sie arbeitet als Amme im großen Haushalt der Familie Puzyrjov. Sie ist sehr hübsch. Ich liebe sie sehr. Wir leben schon wie Mann und Frau zusammen.

Die Holzfäller geben ihm, jeder wie er es versteht, durch Zeichen zu verstehen, daß sie interessiert, was er ihnen gesagt hat. Hier wird klar, daß sie nicht sprechen können. Daß sie soeben noch gesungen haben, - ist reiner Zufall, von denen es so viele gibt im Leben.

FEDOR Nur ist sie sehr nervös, meine Braut. Aber was will man machen, die Arbeit ist schwer. Die Familie zahlreich. Viele Kinder. Was will man machen.

EIN HOLZFÄLLER Frucht.

Weihnachten bei Ivanovs 381

Obwohl er eben gesprochen hat, hat er das nur aufs Geratewohl gesagt. So daß das nicht zählt. Auch seine Kollegen sagen immer nur alles aufs Geratewohl.

ZWEITER HOLZFÄLLER Gelbsucht.

FEDOR Später, wenn ich sie zur Frau nehme, wird mir nie

langweilig und wird mir nie widerwärtig sein. Das kommt,

weil wir uns lieben. Wir haben verwandte Seelen. DRITTER HOLZFÄLLER Geh pinkeln. FEDOR Ich fahre jetzt den Baum zu ihnen und bleibe über Nacht

bei ihr. Sie hat die Kinder gebadet und wartet jetzt auf mich.

Was will man machen.

Fedor und die Holzfäller setzen sich auf den Schlitten und fahren aus dem Wald hinaus. Die wilden Tiere kommen hervor: Die Giraffe - ein wundersames Tier, der Wolf - ein Tier aus der Familie der Biber, der Löwe - König der Tiere und das schweinische Ferkel.

GIRAFFE Die Uhr geht.

WOLF Wie Schafherden.

LÖWE Wie Büffelherden.

DAS SCHWEINISCHE FERKEL Wie Störknorpel.

GIRAFFE Die Sterne funkeln.

WOLF Wie das Blut von Schafen.

LÖWE Wie das Blut von Büffeln.

DAS SCHWEINISCHE FERKEL Wie Ammenmilch.

GIRAFFE Die Flüsse fließen.

WOLF Wie die Worte von Schafen.

LÖWE Wie die Worte von Büffeln.

DAS SCHWEINISCHE FERKEL Wie die Göttin Lachs.

GIRAFFE Wo ist unser Tod?

WOLF In den Seelen der Schafe.

LÖWE In den Seelen der Büffel.

DAS SCHWEINISCHE FERKEL In großen Schüsseln.

Die wilden Tiere: Die Giraffe - ein wundersames Tier, der Wolf-

382 Aleksandr Vvedenskij

ein Teil aus der Familie der Biber, der Löwe - König der Tiere und das schweinische Ferkel, gehen ganz wie im Leben ab. Der Wald bleibt allein zurück.

Auf der Uhr, links der Tür, ist es Mitternacht. Endes des zweiten Bildes

Drittes Bild

Nacht. Ein Sarg. Den Fluß hinab schwimmen Lichter. Puzyrjov Vater. Brille. Bart. Sabber. Tränen. Puzyrjova Mutter. Sie trägt eine Frauenrüstung. Sie ist hübsch. Sie hat Busen. In dem Sarg liegt der Länge nach Sonja Ostrava. Blutlos. Ihr abgeschlagener Kopf liegt auf einem Kissen, das man an ihren ehemaligen Körper gerückt hat. An der Wand, links der Tür, hängt eine Uhr. Auf ihr ist es zwei Uhr nachts.

VATER PUZYRJOV weint Mein Mädchen, Sonja, wie kannst du nur. Wie kannst du nur. Noch heute morgen hast du Ball gespielt und bist herumgehüpft wie lebendig.

MUTTER PUZYRJOVA Sonečka. Sonečka. Sonečka. Sonečka. So-nečka. Sonečka. Sonečka.

VATER PUZYRJOV weint Der Teufel hat uns geritten, ins Theater zu fahren und dort dieses miserable Ballett anzusehen, mit diesen wollenen dickbäuchigen Ballerinen. Ich erinnere mich noch genau, eine von ihnen hat mir, während sie herumhopste und strahlte, zugelächelt, aber ich dachte, was brauche ich dich, ich habe doch Kinder, habe eine Frau, habe Geld. Und da habe ich mich so gefreut, so gefreut. Dann kamen wir aus dem Theater, ich rief den Droschkenkutscher und sagte zu ihm: Vanja, bring uns schnell nach Hause, ich bin irgendwie unruhig.

MUTTER PUZYRJOVA gähnt Oh, grausamer Gott, grausamer Gott, wofür strafst du uns.

VATER PUZYRJOV schneuzt sich Wir waren wie eine Flamme, doch du löschst uns aus.

Weihnachten bei Ivanovs 383

MUTTER PUZYRJOVA pudert sich Wir wollten den Kindern einen

Tannenbaum aufstellen. VATER PUZYRJOV küßt sie Das werden wir auch, das werden wir

trotzdem.

MUTTER PUZYRJOVA zieht sich aus Oh, das wird ein Tannenbaum. Der Tannenbaum der Tannenbäume. VATER PUZYRJOV wird heiß bei der Vorstellung Du bist meine

Schönste, und die Kinder sind so lieb. MUTTER PUZYRJOVA gibt sich ihm hin Gott, warum quietscht

das Sofa nur so. Das ist ja furchtbar. VATER PUZYRJOV hat seine Sache gemacht, weint Herrgott,

unsere Tochter ist tot, und wir hier wie die Tiere. MUTTER PUZYRJOVA weint Sie ist nicht gestorben, sie ist nicht

gestorben, das ist es ja. Sie ist ermordet worden.

Die Amme kommt, den einjährigen Petja Perov auf dem Arm.

AMME Der Junge ist aufgewacht. Er ist irgendwie unruhig. Er

runzelt die Stirn. Er schaut mit Abscheu auf alles. MUTTER PUZYRJOVA Schlaf, Petja, schlaf. Wir werden dich

beschützen. PETJA PEROV der einjährige Junge Und warum ist Sonja immer

noch tot. VATER PUZYRJOV seufzt Ja, sie ist tot. Ja, sie ist erschlagen. Ja,

sie ist tot. PETJA PEROV der einjährige Junge Das hab ich mir gedacht.

Aber den Tannenbaum gibt es? MUTTER PUZYRJOVA Ja doch, ja. Und was macht ihr Kinder

jetzt alle? PETJA PEROV der einjährige Junge Wir Kinder schlafen jetzt

alle. Ich schlafe auch schon. Er schläft ein.

Die Amme reicht ihn seinen Eltern, diese schlagen das Kreuz über ihm und küssen ihn. Die Amme bringt ihn hinaus.

VATER PUZYRJOV zu seiner Frau Halt du die Totenwache. Ich bin gleich wieder da. Ich sehe nach, ob der Tannenbaum

384 Aleksandr Vvedenskij

gebracht wird. Läuft hinaus. Eine Sekunde später kommt er zurück, reibt sich die Hände. A propos, wir müssen auch noch die Kerzen aufstecken, sonst sind die gleich ganz den Lethefluß hinab. Verbeugt sich zum Sarg und vor seiner Frau und geht auf "Zehenspitzen hinaus.

MUTTER PUZYRJOVA allein Sonečka, weißt du, als wir die Treppe heraufkamen, flog über mir die ganze Zeit eine schwarze Krähe, und ich spürte moralisch, wie sich mein Herz vor Kummer zusammenkrampfte. Und als wir die Wohnung betraten und als der Diener Stephan Mikolaev sagte: »Sie ist erschlagen worden, sie ist erschlagen worden!«, konnte ich nicht aufschreien mit undurchdringlicher Stimme. Mir war so schrecklich. So schrecklich. So schwer.

Sonja Ostrava, ehemals ein Mädchen von 32 Jahren, liegt wie ein gefällter Telegraphenmast. Hört sie, was ihre Mutter zu ihr sagt? Nein, woher auch. Sie ist mausetot. Sie ist erschlagen. Sie ist ermordet.

Die Tür wird sperrangelweit geöffnet. Vater Puzyrjov kommt herein. Gefolgt von den Holzfällern. Sie tragen den Tannenbaum. Sehen den Sarg, und alle nehmen die Mütze ab. Außer dem Tannenbaum, der keine Mütze aufhat und der von alledem nichts begreift.

VATER PUZYRJOV Leise, Brüder, leise. Meine liebe Tochter tut gerade ihren letzten Atemzug. Und in Wirklichkleit schluchzt auf ist es gar nicht der letzte, man hat ihr den Kopf abgeschnitten.

ERSTER HOLZFÄLLER Frucht.

ZWEITER HOLZFÄLLER Sendschreiben an die Griechen.

DRITTER HOLZFÄLLER Der Mensch geht zugrunde. Rettet ihn.

Alle gehen hinaus.

Sonja Ostrova, ehemals ein Mädchen von 32 Jahren, bleibt allein.

Es bleiben ihr Kopf und ihr Körper.

Weihnachten bei Ivanovs 385

DER KOPF Körper, hast du alles gehört?

DER KÖRPER Nein, Kopf, ich habe nichts gehört. Ich habe keine Ohren. Aber ich habe alles durchlitten.

Ende des dritten Bildes und des ersten Akts Auf der Uhr, links der Tür, ist es drei Uhr nachts.

386 Aleksandr Vvedenskij

ZWEITER AKT Viertes Bild

Polizeirevier. Nacht. Polizei. Auf der Uhr, links der Tür, ist es zwölf Uhr nachts. Es sitzt der Schreiber und es sitzt der Wachtmeister.

SCHREIBER Siegellack hat immer Feuer in der Brust. Und die

Schreibfeder hat zwei herrliche Hüften. WACHTMEISTER

Schreiber, ich bin traurig.

Ich hab den ganzen Tag im Dunkeln Posten gestanden.

Bin halb erfroren. Erkältet. Und alles bin ich leid.

Den Regen, der sich umtreibt, und die Pyramiden

Ägyptens im sonnigen Ägypten.

Tröste mich. SCHREIBER Wachtmeister, ich sehe, du bist verrückt geworden.

Was habe ich dich zu trösten, ich bin dein Vorgesetzter. WACHTMEISTER

Oh, bei Gott,

die Volkshäuser, Kneipen, Apotheken

machen mich noch einmal verrückt.

Wer sich vergiftet hat, ich bring ihn

zur Apotheke hin, wo ist der Sinn?

Wie gerne säße ich in Bibliotheken,

im »Kapital« von Marx zu schmökern,

ein Leben will ich in ruhigen Bahnen

und zum Frühstück statt Wasser Sahne.

SCHREIBER Was will dieser Besoff ne? Und er schwankt auch noch? WACHTMEISTER

Er schwankt wie dieser Leuchttum hier, und über diesem die Milchstraße schwankt. Ach, es sind ihrer viele - Matrosen, verstoßen und leibeigene Bauern.

Hereinkommen der Polizeihauptmann und Gendarmen.

Weihnachten bei Ivanovs 387

POLIZEIHAUPTMANN Alles aufstehen. Alles abräumen. Hände falten zum Gebet. Gleich wird eine Verbrecherin gebracht.

Soldaten, Diener, Köche und Griechisch- und Lateinlehrer schleppen die Amme herein, die Sonja Ostrava timgebracht hat.

POLIZEIHAUPTMANN Laßt sie! An die Amme gewandt. Setzen

Sie sich, setzen Sie sich ins Gefängnis! AMME Meine Hände sind voll Blut. Meine Zähne sind voll Blut.

Gott hat mich verlassen. Ich bin verrückt. Was sie wohl gerade

macht? POLIZEIHAUPTMANN Von wem sprichst du, Njanja? Sieh dich

vor, versprich dich nicht. Gebt mir ein Glas Vodka! Wer ist

sie? AMME Sonja Ostrova, die ich erschlagen habe. Was sie wohl

gerade denkt? Mir ist kalt. Mein Kopf tut weh wie mein

Bauch. SCHREIBER Dabei ist sie noch jung. Dabei ist sie noch gar nicht

übel. Dabei ist sie noch schön. Dabei ist sie noch wie ein Stern.

Dabei ist sie noch wie eine Saite. Dabei ist sie noch wie eine

Seele. WACHTMEISTER zur Amme

Ich kann mir denken, was Sie leiden,

ein Kind mit einem Beil erschlagen! -

Niemand, niemand kann es wagen,

Ihren Zustand zu beschreiben. POLIZEIHAUPTMANN Nun, Amme, wie fühlen Sie sich? Ist es

angenehm, eine Mörderin zu sein? AMME Nein, es ist schwer. POLIZEIHAUPTMANN Man wird Sie hinrichten. Bei Gott, man

wird Sie hinrichten. AMME Ich stampfe mit den Händen. Ich stampfe mit den Füßen.

Ihr Kopf ist hier in meinem Kopf. Ich bin Sonja Ostrova -

mich hat meine Amme erschlagen. Fedja - Fedor - rette mich. WACHTMEISTER

Vor einiger Zeit, ich erinnere mich, stand ich Posten bei Frost,

Leute gingen vorbei, wilde Tiere sprangen umher.

Aleksandr Vvedenskij

Eine Rotte griechischer Reiter zog wie ein Schatten vorüber.

Ich pfiff meinen lauten Pfiff. Rief die Hausknechte zu mir.

Lange standen wir alle, schauten durch das Fernglas,

Die Ohren am Boden, vernahmen wir Hufgetrappel,

doch wehe, vergeblich suchten wir nach dem Reiterheer.

Und leise weinend gingen wir dann, jeder für sich, nach Hause. POLIZEIHAUPTMANN Wozu erzählst du das alles? Dich frage

ich! Dummkopf! Pflichtvergessener. Kennst du nicht die

Dienstvorschriften ? WACHTMEISTER Ich habe die Mörderin ablenken wollen von

ihren finstern Gedanken. SCHREIBER Es klopft. Das sind die Sanitäter. Sanitäter, nehmt

sie mit in euer Irrenhaus!

Es wird an die Tür geklopft, Sanitäter kommen herein. SANITÄTER Wen sollen wir mitnehmen - diesen Napoleon? Sie gehen ab. Auf der Uhr, links der Tür, ist es vier Uhr nachts. Ende des vierten Bildes

Fünftes Bild

Irrenhaus. An der Brustwehr steht der Arzt und zielt auf einen Spiegel. Überall ringsumher Blumen, Bilder und kleine Teppiche. Auf der Uhr, links der Tür, ist es vier Uhr nachts.

ARZT Herrgott, ist das furchtbar. Ringsumher nichts als Anomale. Sie verfolgen mich, stellen mir nach. Sie rauben mir den Schlaf, sie wollen mich erschießen. Da hat sich einer angeschlichen und zielt auf mich. Er zielt, aber schießt nicht von selbst. Er schießt nicht, schießt nicht, sondern zielt nur. Also werde ich schießen. Er schießt. Der Spiegel zersplittert.

Der Steinerne Sanitäter tritt ein.

Weihnachten bei Ivanovs 389

SANITÄTER Wer hat hier aus der Kanone geschossen?

ARZT Ich weiß nicht, ich glaube, der Spiegel. Seid ihr so viele?

SANITÄTER Wir sind viele.

ARZT Dann ist ja gut. Sonst hätte ich ein bißchen Unsinnschmerzen. Ist da nicht jemand eingeliefert worden?

SANITÄTER Eine Amme und Mörderin vom Polizeirevier.

ARZT Ist sie kohlrabenschwarz?

SANITÄTER Wissen Sie, ich kann nicht alles wissen.

ARZT Was soll ich nur tun? Mir gefällt dieser Bettvorleger nicht. Er schießt auf ihn. Der Sanitäter fällt tot um. Warum sind Sie umgefallen, ich habe nicht auf Sie geschossen, sondern auf den Bettvorleger.

SANITÄTER steht auf Mir war, als wäre ich ein Bettvorleger. Ein Versehen. Diese Amme sagt, sie sei verrückt.

ARZT Das sagt sie - wir sagen das nicht. Wir sagen so etwas nicht ohne Grund. Wissen Sie, unseren ganzen Garten mit allen seinen Bäumen und mit seinen unterirdischen Würmern und unhörbaren Wolken habe ich hier, hier drin, na, wie nennt man das? Zeigt auf seine flache Hand.

SANITÄTER Weinstock.

ARZT Nein.

SANITÄTER Wand.

ARZT Nein, Hand. In der Hand. Also, laß mal diese Amme herein.

Die Amme kommt herein.

AMME Ich bin verrückt. Ich habe ein Kind umgebracht. ARZT Kinder umzubringen gehört sich nicht. Sie sind gesund. AMME Ich habe es nicht mit Absicht getan. Ich bin verrückt. Ich

kann hingerichtet werden. ARZT Sie sind gesund. Sie haben Gesichtsfarbe. Zählen Sie bis

drei.

AMME Ich kann es nicht. SANITÄTER Eins, zwei, drei. ARZT Sehen Sie, und Sie sagen, Sie könnten es nicht. Sie sind

kerngesund.

39° Aleksandr Vvedenskij

AMME Ich spreche aus Verzweiflung. Das war doch nicht ich,

die gezählt hat, sondern Ihr Sanitäter. ARZT So etwas ist im nachhinein schwer festzustellen. Hören

Sie mich? SANITÄTER Ja, ich höre Sie. Ich bin eine Amme, ich bin

verpflichtet, alles zu hören. AMME Gott im Himmel, mein Leben geht zu Ende. Bald wird

man mich hinrichten. ARZT Bringt sie fort, bringt lieber den Tannenbaum herein. Bei

Gott, das ist schöner. Wenigstens lustiger. Ich habe den

Dienst so satt. Gute Nacht.

Aus dem Saal kommen in einem Boot die Patienten, sie stoßen sich mit den Rudern vom Fußboden ab.

ARZT Guten Morgen, Patienten, wo wollt ihr hin. DIE VERRÜCKTEN In die Pilze, in die Beeren. ARZT Ach so, ja.

SANITÄTER Und ich geh mit euch unter die Dusche. ARZT Njanja, geh, laß dich hinrichten. Du bist gesund. Wie Milch und Blut.

Auf der Uhr, links der Tür, ist es sechs Uhr morgens. Ende des fünften Bildes

Sechstes Bild

Ein Korridor. Hier Türen. Und hier Türen. Es ist dunkel. Fedor, der Holzfäller, Bräutigam der Amme, die Sonja Ostrova erschlagen hat, geht im Frack, mit einer Schachtel Pralinen in der Hand den Korridor entlang. Aus unerfindlichen Gründen sind ihm die Augen verbunden.

FEDOR geht zu einer Tür hinein Schläfst du?

STIMME EINES DIENSTMÄDCHENS Ja, aber komm nur herein.

Weihnachten bei Ivanovs 391

FEDOR Du bist also im Bett. Schau mal, ich habe was zum

Naschen mitgebracht.

DIENSTMÄDCHEN Wo kommst du denn her? FEDOR Ich war im Badehaus. Habe mich geschrubbt und

gestriegelt wie ein Pferd. Dort hat man mir aus Spaß die Augen

verbunden. Laß mich den Frack ausziehen. DIENSTMÄDCHEN Zieh dich aus. Leg dich auf mich. FEDOR Ich leg mich ja, ich lege mich ja. Habs nicht so eilig. Iß

die Pralinen. DIENSTMÄDCHEN Die eß ich schon. Und du mach deine Sache.

Morgen steht bei uns der Tannenbaum. FEDOR legt sich auf sie Ich weiß, ich weiß. DIENSTMÄDCHEN Bei uns ist ein Mädchen erschlagen worden. FEDOR Ich weiß. Hab ich gehört. DIENSTMÄDCHEN Sie liegt schon im Sarg. FEDOR Ich weiß, ich weiß.

DIENSTMÄDCHEN Die Mutter hat geweint und auch der Vater. FEDOR steht von ihr auf Mir ist langweilig mit dir. Du bist nicht

meine Braut.

DIENSTMÄDCHEN Und wenn schon. FEDOR Du bist mir wesensfremd. Ich verschwinde gleich wie

ein Mohnkorn. DIENSTMÄDCHEN Dich hab ich grade nötig. Übrigens, willst du

nicht nochmal? FEDOR Nein, nein, ich bin so furchtbar traurig. Ich verschwinde

gleich wie die Freude.

DIENSTMÄDCHEN Woran denkst du gerade? FEDOR Daran, daß die ganze Welt für mich uninteressant

geworden ist, nach dir. Ich habe den Tisch verloren, das Salz,

den Himmel, die Wände, das Fenster, den Himmel, den

Wald. Ich verschwinde gleich wie die Nacht. DIENSTMÄDCHEN Unhöflich bist du. Dafür werd ich dich

bestrafen. Schau mich an. Ich erzähle dir etwas Unnatürliches. FEDOR Versuch es nur. Du Frosch.

DIENSTMÄDCHEN Deine Braut wars, die das Mädchen erschlagen hat. Hast du das Mädchen gesehen? Deine Braut hat ihm

den Kopf abgeschlagen.

392 Aleksandr Vvedenskij

FEDOR quakt wie ein Frosch.

DIENSTMÄDCHEN lacht Kennst du das Mädchen Sonja Ostrova?

Die hat sie erschlagen. FEDOR grunzt.

DIENSTMÄDCHEN Was ist, bist du jetzt traurig? FEDOR zwitschert mit Vogelstimme. DIENSTMÄDCHEN Ja, und du hast sie geliebt. Aber wozu? Und

weshalb? Du bist bestimmt einsam. FEDOR Nein, ich bin nicht einsam. DIENSTMÄDCHEN Erzähl mir keine Geschichten, und ich hab

dir geglaubt. FEDOR Ehrenwort. DIENSTMÄDCHEN Geh jetzt, ich will schlafen. Morgen steht der

Tannenbaum.

FEDOR Ich weiß, ich weiß. DIENSTMÄDCHEN Was redest du da wieder vor dich hin? Du

bist doch längst weg von mir. FEDOR Ich rede nur so vor mich hin, vor lauter Kummer. Was

bleibt mir jetzt noch. DIENSTMÄDCHEN Trauern, trauern und nochmal trauern. Und

trotzdem hilft es dir nichts.

FEDOR Und trotzdem hilft es mir nichts. Du hast recht. DIENSTMÄDCHEN Aber vielleicht versuchst du es mal mit lernen, lernen und nochmals lernen. FEDOR Das werde ich. Ich werde Latein lernen. Und Lehrer

werden. Leb wohl. DIENSTMÄDCHEN Leb wohl.

Fedor verschwindet. Das Dienstmädchen schläft. Auf der Uhr, links der Tür, ist es sechs Uhr morgens.

Ende des sechsten Bildes und des zweiten Akts.

Weihnachten bei Ivanovs 393

DRITTER AKT

Siebentes Bild

Tisch. Auf dem Tisch ein Sarg. In dem Sarg � Sonja Ostrova. In Sonja Ostrova � ein Herz. In dem Herzen �geronnenes Blut. Im Blut - rote und weiße Blutkörperchen. Und natürich Leichengift. Alle verstehen, daß es eben Tag wird. Der Hund Vera geht, mit eingekniffenem Schwanz, um den Sarg herum.

Auf der Uhr, links der Tür, ist es acht Uhr morgens.

DER HUND VERA

Ich geh herum um einen Sarg, ich weiche nicht von ihm ab. Der Tod, welch eine Prüfung arg.

Der Arme betet um Brot, zum Himmel betet, wer in Not, der Pope dient Gottes Gebot.

Die Leiche ist schon hart, ich biß in Schinken zart, mein Liebstes liegt erstarrt.

Überall blutige Flecken,

wem diese schwarzen Sitten schmecken,

Njanja, das war zum Erschrecken.

Leben dient der Verschönrung, Tod dient der Verstörung, wozu aber diese Zerstörung

der wichtigsten Arterien

und wichtigsten Bakterien,

Was, Njanja, waren die Kriterien?

394 Aleksandr Vvedenskij

Jetzt hätte Fedja dich gestreichelt,

er hätte dir den Bauch umschmeichelt,

jetzt bist du selbst bald eine Leiche.

Krabbelnd kommt der einjährige Junge Petja Perov herein.

PETJA PEROV der einjährige Junge Ich bin der Jüngste, ich

wache immer als erster auf. Ich erinnere mich, als wäre es

gestern gewesen, vor zwei Jahren habe ich mich noch an nichts

erinnert. Ich höre, der Hund hält eine Ansprache in Versen.

Er weint so leise. DER HUND VERA

Es ist so kalt, Gott seis geklagt.

Was, Petja, haben Sie gesagt? PETJA PEROV der einjährige Junge Was kann ich schon sagen.

Ich kann lediglich etwas mitteilen. DER HUND VERA

Ich heule, heule, heule eben

und wünschte, Sonja war am Leben.

PETJA PEROV der einjährige Junge Sie war ungewöhnlich unanständig. Jetzt ist sie schrecklich anzusehen. DER HUND VERA Wundert Sie denn nicht, daß ich spreche und

nicht belle? PETJA PEROV der einjährige Junge Was kann mich in meinem

Alter noch verwundern. Seien Sie unbesorgt. DER HUND VERA Geben Sie mir ein Glas Wasser. Das ist zu viel

für mich. PETJA PEROV der einjährige Junge Regen sie sich nicht auf. In

meinem kurzen Leben möchte ich nicht auch das noch

kennenlernen müssen. DER HUND VERA Diese Sonja unglückliche Ostrova war ein

sittenloses Mädchen. Aber ich kann sie verstehen. Erklären Sie

mir alles. PETJA PEROV der einjährige Junge Papa. Mama. Onkel. Tante.

Njanja. DER HUND VERA Was reden Sie denn da. Kommen Sie zur

Vernunft!

Weihnachten bei Ivanovs 395

PETJA PEROV der einjährige Junge Ich bin jetzt ein Jahr alt.

Vergessen Sie das nicht. Papa. Mama. Onkel. Tante. Feuer.

Wolke. Apfel. Stein. Vergessen Sie das nicht. Macht auf dem

Arm der Amme in die Hosen. DER HUND VERA macht es sich bewußt Er ist in der Tat noch

sehr klein und kindlich.

Hereinkommen an den Händen nuschelnd Miša Pestrov und Dunja Šustrova.

MlŠA PESTROV Junge, 76Jahre Herzlichen Glückwunsch. Heute ist Weihnachten. Bald steht der Stangenbaum.

DUNJA ŠUSTROVA Mädchen, 82 Jahre Nicht Stangenbaum, sondern Tantenbaum. Und nicht Tantenbaum, sondern Tannenbaum. Herzlichen Glückwunsch. Was ist mit Sonja, schläft sie?

DER HUND VERA Nein, sie macht Pipi.

Auf der Uhr, links der Tür, ist es neun Uhr morgens. Ende des siebenten Bildes

Achtes Bild

Auf das achte Bild ist eine Gerichtsverhandlung gemalt. Richter in Krücken, Richter in Perücken. Insekten hüpfen herum. Nach Kräften wird Naphtalin angewandt. Die Gendarmen schlafen. Auf der Uhr, links der Tür, ist es acht Uhr morgens.

RICHTER haucht seine Seele aus So kurz vor Weihnachten - muß ich sterben.

Er wird schnell durch einen zweiten Richter ersetzt.

DER ZWEITE RICHTER Mir ist schlecht, mir ist schlecht. Rettet mich!

396 Aleksandr Vvedenskij

Er stirbt. Er wird schnell durch einen anderen Richter ersetzt.

ALLE im Chor

Zwei Todesfälle auf einmal,

gebt zu, das ist ein seltner Fall. ALLE ANDEREN der Reihe nach

Wir richten.

Und rechten.

Gerechte

Gerichte,

gebracht

im Lichte

auf Tellern.

Gerichte

in Schüsseln

gebrachte

Gerichte

der Richter.

Das Gericht, hiermit zur Sache gekommen, schreitet zur Beweisaufnahme in der Sache Kozlov gegen Oslov.

GERICHTSSEKRETÄR verliest das Protokoll Eines Abends ging Kozlov an den Fluß mit Zieg und Bock, und da sieht er: mit dem Stock treibt die Esel her Oslov.

Sagt Oslov da zu Kozlov und er sagt es ziemlich schroff: scher dich fort, du Bauern tropf, kennst du nicht den Bibelstoff?

Sagt Kozlov da zu Oslov: Laß dir Fibel sein die Bibel, bleibe du auf deinem Hof, diesen Rat gibt dir Oslov.

Weihnachten bei Ivanovs 397

Sagt Kozlov da zu Oslo v: Lies den Psalter deinen Eseln, meine Ziegen macht er böse, schau sie dir nur an, Oslov,

Gibt zur Antwort ihm Oslov: Deine Bock pack ich beim Schöpf, hau ihn eine auf den Kopf, daß sie reif sind für den Topf.

Gibt zur Antwort drauf Kozlov: Treib es nicht zu weit, Oslov, sonst brech ich mir einen Stecken und die Esel dein verrecken.

Komm doch her, du Hammelnase, komm doch du, du Schweineblase. Langsam steigert sich die Wut, und es endete mit Blut.

Blumen gleich im weißen Schnee liegen tot und steif die Ziegen, liegen - Schwänze in die Höh � auch die Esel, totgeprügelt.

Von Oslov verlangt Kozlov: gib mir meine Ziegen wieder. Und Oslov verlangt beständig: mach die Esel mir lebendig.

DIE RICHTER Liegen Todesanzeichen vor. GERICHTSSEKRETÄR Nun ja, liegen vor. DIE RICHTER weich Sagen Sie nicht »nun ja«. GERICHTSSEKRETÄR Gut, ich wills nicht wieder tun.

DER RICHTER

Ich eröffne die Gerichtsverhandlung. Ich richte.

398 Aleksandr Vvedenskij

rechte,

sichte,

schlichte,

entscheide -

nein, Fehler ich meide. Noch einmal:

Ich richte,

rechte,

sichte,

schlichte,

entscheide -

nein, Fehler ich meide. Noch einmal:

Ich richte,

rechte,

sichte,

schlichte,

entscheide -

nein, Fehler ich meide.

Die Verhandlung ist geschlossen, mir ist alles klar. Adelina Francevna Smetterling, ehemals Amme, angeklagt des Mordes an dem Mädchen Sonja Ostrova, ist verurteilt zum Tode durch Erhängen.

DIE AMME schreit Ich kann nicht länger leben! GERICHTSSEKRETÄR Das sollst du ja auch nicht. Siehst du, wir kommen dir entgegen.

Allen ist klar, daß die Amme der Gerichtsverhandlung beigewohnt hat und daß das Gespräch zwischen Kozlov und Oslov einfach nur zur Ablenkung geführt wurde. Auf der Uhr, links der Tür, ist es neun Uhr morgens.

Ende des achten Bildes und des dritten Akts.

Weihnachten bei Ivanovs 399

VIERTER AKT

Neuntes Bild

Das neunte Bild stellt, wie alle vorangegangenen, Ereignisse dar, die sich sechs Jahre vor meiner Geburt zugetragen haben, oder vierzig Jahre vor unserer Zeit. Das ist das mindeste. Was sollen wir uns also bekümmern und traurig sein darüber, daß jemand erschlagen worden ist? Wir haben niemand von ihnen gekannt, und sie sind trotzdem alle gestorben. Zwischen dem dritten und dem vierten Akt sind einige Stunden vergangen. Vor der fest verschlossenen, sauber gewaschenen, blumenverzierten Tür steht die Gruppe der Kinder. Auf der Uhr, links der Tür, ist es sechs Uhr abends.

PETJA PEROV der einjährige Junge Gleich machen sie auf. Gleich machen sie auf. Wie interessant. Ich werde den Tannenbaum sehen.

NlNA SEROVA Mädchen, 8 Jahre Den hast du doch schon voriges Jahr gesehen.

PETJA PEROV der einjährige Junge Ja, schon. Aber ich erinnere mich nicht mehr daran. Ich bin noch klein und dumm.

VARJA PETROVA Mädchen, 17 Jahre Oh Tannenbaum! Oh Tannenbaum! Oh Tannenbaum! Oh Tannenbaum! Oh Tannenbaum !

DUNJA ŠUSTRVA Mädchen, 82 Jahre Ich werde um ihn herumlaufen! Ich werde lachen vor Freude!

VOLODJA KOMAROV Junge, 25 Jahre Njanja, ich muß auf die Toilette.

AMME Volodja, wenn du auf die Toilette mußt, sag es mir ins Ohr, sonst machst du die Mädchen verlegen.

MlŠA PESTROV Junge, 76 Jahre Gehen Mädchen auch auf die Toilette?

AMME Ja, sie gehen auch dorthin.

MlŠA PESTROV Junge, 76 Jahre Wie das? Wieso gehen sie dorthin? Gehst du auch dorthin?

400 Aleksandr Vvedenskij

AMME Sie gehen, wie es sich gehört. Ja, ich gehe auch dorthin.

VOLODJA KOMAROV Junge, 25 Jahre Ich war schon. Und mir ist leichter geworden. Ob sie uns bald reinlassen?

VARJA PETROVA Mädchen, 17 Jahre, flüstert Njanja! Ich muß auch. Ich bin so aufgeregt.

AMME flüstert Tu so, als ob du gehen würdest.

MlŠA PESTROV Junge, 76Jahre Wohin will sie mit euch gehen?

DIE MÄDCHEN im Chor Dorthin, wo auch der Kaiser zu Fuß hingeht. Sie weinen und bleiben.

AMME Seid ihr dumm! Ihr hättet doch sagen können, ihr geht Klarvierspielen.

PETJA PEROV der einjährige Junge Warum bringst du ihnen das Lügen bei? Was haben solche Lügen für einen Sinn? Langweilig ist das Leben, ihr könnt mir sagen, was ihr wollt.

Plötzlich öffnet sich die Tür. In der Tür stehen die Eltern.

VATER PUZYRJOV Nun, Kinder, seid fröhlich. Ich habe getan, was ich konnte. Da ist der Tannenbaum. Und gleich wird Mama spielen.

MUTTER PUZYRJOVA setzt sich ohne Lug und Trug ans Klavier, spielt und singt

Und plötzlich klingt Musik

wie der Säbel auf Granit.

Alle machen hoch die Tür

und wir fahren heut nach Tver.

Nicht nach Tver, nur in den Raum

wo er steht, der Tannenbaum.

Ziehet ein der Bosheit Stachel,

einer fliegt als Blütentraum,

einer fliegt als Schmetterling,

Heimchen ist der Dritte,

Blitz ist drauf der Vierte,

Fünf verbrennt sich an der Kerze,

schreit - auch ich, ich schluchz im Schmerze. PETJA PEROV der einjährige Junge Tannenbaum, ich muß dir sagen, wie schön du bist!

Weihnachten bei Ivanovs 401

NlNA SEROVA Mädchen, 8 Jahre Tannenbaum, ich muß dir

erklären, wie gut du bist. VARJA PETROVA Mädchen, 17 Jahre Oh Tannenbaum, Oh

Tannenbaum, Oh Tannenbaum, Oh Tannenbaum, Oh Tannenbaum. VOLODJA KOMAROV Junge, 25 Jahre Tannenbaum, ich muß dir

mitteilen, wie herrlich du bist. MlŠA PESTROV Junge, 76 Jahre Glückseligkeit, Glückseligkeit,

Glückseligkeit, Glückseligkeit. DUNJA ŠUSTROVA Mädchen, 82 Jahre Wie Zähne, Wie Zähne,

Wie Zähne. VATER PUZYRJOV Ich freue mich, daß ihr alle fröhlich seid. Ich

bin sehr unglücklich darüber, daß Sonja tot ist. Wie traurig,

daß ihr alle traurig seid.

MUTTER PUZYRJOVA singt A o u e i a W G R T

Sie ist außerstande, den Gesang fortzusetzen, weint.

VOLODJA KOMAROV Junge, 25 Jahre, schießt sich dicht bei ihrem Ohr in die Schläfe Weine nicht, Mama. Freue dich. Ich habe mich auch erschossen.

MUTTER PUZYRJOVA singt Also schön, ich will euch euer Freudenfest nicht verdüstern. Lasset uns fröhlich sein. Aber trotzdem - die arme, arme Sonja.

PETJA PEROV der einjährige Junge Macht nichts, Mama, macht nichts. Das Leben geht so schnell vorüber. Bald werden wir alle sterben.

MUTTER PUZYRJOVA Petja, mach keine Witze. Was sagst du da?

VATER PUZYRJOV Mir scheint, er macht keine Witze. Volodja Komarov ist bereits gestorben.

MUTTER PUZYRJOVA Ist er wirklich tot?

VATER PUZYRJOV Aber natürlich, er hat sich doch erschossen. DUNJA ŠUSTROVA Mädchen, 82 Jahre Ich sterbe, im Sessel sitzend.

MUTTER PUZYRJOVA Was sagt sie?

402 Aleksandr Vvedenskij

MlŠA PESTROV Junge, 76Jahre Ein langes Leben wollte ich. Es gibt kein langes Leben. Er stirbt.

DIE AMME Kinderkrankheiten, Kinderkrankheiten. Wann wird man ihrer endlich Herr werden? Sie stirbt.

NlNA SEROVA Mädchen, 8 Jahre, weint Njanja, Njanja, was hast du? Warum hast du so eine scharfe Nase?

PETJA PEROV der einjährige Junge Die Nase ist scharf, aber Messer und Rasierklingen sind schärfer.

VATER PUZYRJOV Nur die beiden jüngsten sind uns geblieben. Petja und Nina. Nun ja, wir müssen irgendwie weiterleben.

MUTTER PUZYRJOVA Mich kann das nicht trösten. Scheint draußen die Sonne?

VATER PUZYRJOV Aber woher denn Sonne, wo doch Abend ist. Machen wir die Kerzen aus.

PETJA PEROV der einjährige Junge Ich möchte für mein Leben gern sterben. Schrecklich gern. Ich sterbe. Ich sterbe. Und ist gestorben.

NlNA SEROVA Mädchen, 8 Jahre Oh Tannenbaum oh Tannenbaum. Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum. Oh Tannenbaum. Das war alles. Sie ist tot.

VATER PUZYRJOV Jetzt sind auch sie gestorben. Es wird erzählt, der Holzfäller Fedor habe sein Studium beendet und sei Lateinlehrer geworden. Aber was ist das bloß. Ich habe Herzstechen. Ich sehe nichts mehr. Ich sterbe. Er stirbt.

MUTTER PUZYRJOVA Was sagst du? Da siehst du, ein Mann aus dem einfachen Volk, er hat das Seine bekommen. Gott, was für ein trauriges Weihnachten, was für ein trauriger Tannenbaum. Sie fällt zu Boden und stirbt.

Ende des neunten Bildes und damit des vierten Akts und damit des ganzen Stückes.

Auf der Uhr, links der Tür, ist es leer.

Julij Daniel Die Hände

Du, Sergej, bist Intellektueller, bist höflich. Darum sagst du nichts, fragst nichts. Unsre Jungs, hier aus der Fabrik, die sagen dir auf den Kopf zu: »Na, Vasja, hast du so gesoffen, daß du jetzt den Tatterich hast?!« Das geht auf meine Hände. Denkst du, ich habe nicht bemerkt, wie du mir auf die Hände geschaut und weggeguckt hast. Wie du auch jetzt daran vorbeischaust? Mein Lieber, ich verstehe das - dein Taktgefühl, du willst mich nicht verlegen machen. Doch schau nur hin, schau hin, es macht nichts. Ich nehm es dir nicht krumm. Du siehst sowas nicht alle Tage. Das, lieber Freund, kommt nicht vom Saufen. Ich trinke selten, wenn, dann in Gesellschaft oder bei Gelegenheit, wie jetzt mit dir. Wir müssen doch auf unser Wiedersehen einen trinken. Ich, mein Lieber, weiß noch alles. Wie wir den Geheimbefehl hatten, wie du mit den Weißen französisch gesprochen, und wie wir Jarolslavl eingenommen haben... Weiß du noch, du auf der Versammlung, da hast du meine Hand genommen - ich stand zufällig neben dir - und hast gesagt: »Mit diesen Händen ...« Ja-a. Na komm, schenk ein, Serjoga. Sonst heul ich noch. Ich hab vergessen, wie es heißt, dies Zittern hier, auf medizinisch. Macht nichts, ich habs aufgeschrieben, zeig ich dir später... Also - wie das mit mir gekommen ist? Das war ein Fall. Wenn ich der Reihe nach erzählen soll, dann sage ichs dir so, daß ich, als wir entlassen wurden im Sieges jähr, in Einundzwanzig, sofort zurückgegangen bin in meine alte Fabrik. Naja, klar, Ehrungen und so, ich Revolutionsheld, außerdem Parteimitglied, Arbeiter mit Bewußtsein. Natürlich gings nicht ohne das, dem einen oder ändern mußte man das Gehirn zurechtrücken. Und da ging das Gerede los: »Seht ihr, kaum habt ihrs, habt ihrs auch schon ruiniert. Kein Brot, kein Nichts...« Naja, Ich hab das unterbunden. Ich war immer hart. Mich hat man mit der Menschevikenmäkelei nicht drangekriegt. Ja. Schenk dir ein,

404 Julij Daniel

und warte nicht auf mich. So habe ich ein Jahr geackert, länger nicht, - schwupp, holn sie mich aufs Komitee. Und sagen: »Hier, Malinin, deinen Marschbefehl. Die Partei beruft dich ein, Malinin Vasilij Semenovič, in ihre Sonderkommission, in die Tscheka, zum Kampf gegen die Konterrevolution. Wir wünschen dir Erfolg im Kampf gegen die Weltbourgeoisie, und beste Grüße an den Genossen Dzerzinskij, wenn du ihn siehst.« Ja nun, - was sollte ich machen? Ich als Mann der Partei. »Melde mich zur Stelle, sag ich, ich erfülle den Auftrag der Partei.« Ich nahm den Marschbefehl, lief schnell in die Fabrik, nahm Abschied von den Jungs - und fuhr los. Ich fahre und male mir im Traum aus, wie ich Jagd mach, gnadenlos, auf das ganze Kontragesindel, damit sie unsre junge Sowjetmacht nicht mehr mit Dreck bewerfen können. Ich komme an. Und tatsächlich sehe ich Dzerzinskij Feliks Edmundovič, richte ihm aus, was die im Bezirkskomitee gesagt hatten. Er drückte mir die Hand, bedankte sich, dann zu uns allen - wir waren an die dreißig Mann dort, im Parteiauftrag, - er stellte uns in einer Reihe auf und sagte, daß man auf Sumpf kein Haus baut, man muß den Sumpf erst trockenlegen, und daß dabei alle möglichen Kröten und Nattern vernichtet werden müßten, das, sagte er, sei eine eiserne Notwendigkeit. Und dabei müßten wir alle Hand anlegen... Also, er erzählte das wie eine Fabel oder Anekdote, aber natürlich war alles klar. Er selbst todernst, kein Lächeln. Dann teilten sie uns ein. Wer du bist, was, woher - sie fragten uns nach allem. »Schulbildung?« Na, die kennst du ja, Krieg gegen Deutschland, Bürgerkrieg, dann an der Drehbank- das ist alles. Zwei Klassen Vorschule, bei den Popen... Naja, ich wurde eingeteilt zum Sonderdienst, simpel ausgedrückt: die Urteile zu vollstrecken. Sicher keine schwere Arbeit, aber leicht ist sie auch nicht. Nimmt einen schon mit. An der Front war das was andres, du weißt: entweder du ihn, oder er dich. Aber hier... Man gewöhnt sich natürlich. Er geht vor dir her, über den Hof, und du denkst und sagst dir selber: Es muß sein, Vasilij, ES MUSS. » Wenn du ihn nicht sofort umlegst, macht er, der Drecksack, die ganze Sowjetrepublik zuschanden.« Man gewöhnt sich. Getrunken hab ich natürlich, ohne das gehts nicht. Sprit haben sie uns

Die Hände 405

gegeben. Aber was die Sonderrationen angeht, und daß sie uns mit Schokolade und Weißbrot vollgestopft hätten - alles Märchen, erfunden von den Burschujs. Die Rationen waren normal, wie für gewöhnliche Soldaten: Brot, Kasa und Fisch. Sprit haben sie uns wirklich gegeben. Es ging nicht ohne, verstehtst du. Also gut. So habe ich sieben Monate gearbeitet, und da kams zu dem Zwischenfall. Wir hatten Befehl, eine Gruppe Popen abzuführen. Wegen konterrevolutionärer Propaganda. Böswilliger Verleumdung. Sie hatten ihre Gemeinden aufgehetzt. Wegen Ti-chon, dem Patriarchen, glaube ich. Oder überhaupt gegen den Sozialismus - ich weiß nicht. Mit einem Wort- Feinde. Es waren zwölf Mann. Unser Kommandant hatte uns eingeteilt: »Du, Malinin, nimmst die drei, du, Vlasenko, die, du, Golovčiner, und du...« Hab vergessen, wie der vierte hieß. Er war Lette, so ein merkwürdiger Name, keiner von uns. Er und Golovčiner gingen als erste. Und bei uns war das so eingerichtet: das Gebäude der Wachmannschaft lag genau in der Mitte. Auf der einen Seite der Raum, in dem die Verurteilten saßen, auf der ändern der Ausgang auf den Hof. Wir nahmen sie einzeln. Wenn man mit dem einen fertig war, zog man ihn mit den Jungs auf die Seite, ging zurück und holte den nächsten. Auf die Seite ziehen mußte man sie unbedingt, sonst kam man mit dem nächsten, und der sieht den Toten und fängt an, um sich zu schlagen und will sich losreißen - dann hast du nur Ärger, ist ja auch klar. Besser, sie schweigen. Also gut, Golovčiner und dieser Lette hatten ihre umgelegt, jetzt war ich an der Reihe. Und ich hatte schon vorher Sprit getrunken. Nicht, weil ich Angst gehabt hätte oder aus Schwäche für die Religion. Nein, ich bin ein Mann der Partei, bin hart, an diesen Blödsinn - irgendwelche Götter, Engel, Erzengel - glaube ich nicht, aber trotzdem war mir nicht ganz wohl. Golovčiner hats leicht, er ist Jude, die sollen nicht mal Ikonen haben, weiß nicht, ob das stimmt, aber ich sitze da, trinke, und dauernd kommt mir dummes Zeug in den Sinn: wie mich meine Mutter, als sie noch lebte, im Dorf in die Kirche mitgenommen hat, wie ich unserm Popen, Vater Vasilij, die Hand geküßt hab, und wie er - ein alter Mann - mich seinen Namensvetter genannt hat... Ja-a. Naja, also ich ging, holte den ersten, brachte ihn

406 Julij Daniel

raus. Kam zurück, rauchte ein paar Züge, brachte den zweiten raus. Ging wieder zurück, trank einen - und plötzlich war mir irgendwie mulmig. »Augenblick, Jungs, sag ich, ich bin gleich wieder da.« Lege die Mauser auf den Tisch und gehe ins Freie. Du hast zu viel getrunken, denke ich. Steck den Finger in den Hals, erleichtere dich, wasch dich, und alles geht wieder in Ordnung. Also - gesagt, getan - aber nein, mir wurde nicht leichter. Schön, denke ich, hols der Teufel, gleich bist du fertig und dann - schlafen. Ich nahm die Mauser, holte den Dritten. Der Dritte war noch jung, groß, so ein kerngesunder Popenkerl, hübsch. Ich führe ihn den Korridor entlang, schaue zu, wie er über der Schwelle seine langgeschwänzte Soutane zusammenrafft, und mir wurde plötzlich kotzübel - weiß selber nicht, was das war. Wir kamen auf den Hof. Und er reckt den Bart nach vorn, schaut in den Himmel. Ich sage: »Vorwärts, Väterchen, nicht umdrehn. Du hast dich selber ins Paradies gebetet.« Das sollte ein Witz sein, mich selber aufmuntern. Wieso - ich weiß nicht. Sowas war mir noch nie passiert, daß ich mit einem Verurteilten zu reden anfing. Also, ich ließ ihn drei Schritte vorgehn, das war Vorschrift, zielte mit der Mauser mitten zwischen die Schulterblätter und schoß. Die Mauser, weißt du selber, donnert - wie eine Kanone! Und hat einen Rückschlag, der reißt dir fast den Arm aus der Schulter. Nur, ich schaue hin -und mein erschossener Pope dreht sich um und kommt auf mich zu. Natürlich ist kein Mal wie das andere: die einen fallen sofort um, wie vom Blitz getroffen, andere drehn sich wie ein Kreisel auf der Stelle, es gibt auch welche, die gehen los und torkeln wie betrunken. Aber der kommt mit kleinen Schritten auf mich zu, als ob er segelt in seiner Soutane, als hätte ich gar nicht auf ihn geschossen. Ich sage: »Was ist, Vater, bleib stehn!« Und legte nochmal auf ihn an - auf die Brust. Und er riß sich die Soutane über der Brust auf, die Brust behaart, voller Löckchen, kommt näher und ruft aus vollem Hals: »Schieß auf mich, Antichrist! Töte mich, deinen Heiland!« Da schoß ich, schoß wieder und wieder. Und er geht weiter! Keine Wunde, kein Blut, er geht und betet: »Herrgott, Du hast die Kugel von schwarzer Hand aufgehalten! Für Dich nehme ich das Leid auf mich!... Eine

Die Hände 407

lebendige Seele sollst du nicht töten!« Und Ähnliches... Ich weiß nicht mehr, wie ich das ganze Magazin leergeschossen habe; nur weiß ich genau - danebenschießen konnte ich nicht, ich hatte ihn direkt vor der Mündung. Er steht vor mir, die Augen brennen wie bei einem Wolf, die nackte Brust, und um den Kopf so etwas wie ein Strahlen - erst später ist mir eingefallen, daß er mir die Sonne verdeckte, das Ganze war bei Sonnenuntergang. »An deinen Händen«, schreit er, »klebt Blut! Sieh dir deine Hände an!« Da warf ich die Mauser zu Boden, rannte ins Wachhaus, stieß mit jemandem in der Tür zusammen, kam ins Zimmer, und die Jungs - schauen mich an wie einen Idioten und wiehern vor Lachen. Ich schnappte mir einen Karabiner aus der Pyramide und schreie: »Bringt mich sofort zu Dzerzinskij, oder ich steche euch alle auf der Stelle nieder!« Naja, sie nahmen mir den Karabiner ab, brachten mich zu ihm, im Laufschritt. Ich kam in sein Kabinett, riß mich von den Genossen los und sage zu ihm, am ganze Leibe zitternd, habe plötzlich auch noch Schluckauf: »Feliks Edmundovič«, sage ich, »erschieß mich, ich kann den Popen nicht töten!« Sage es und falle um, an mehr kann ich mich nicht erinnern. Aufgewacht bin ich im Krankenhaus. Die Ärzte sagen: »Nervenschock.« Behandelt haben sie mich wirklich gut, sorgsam. Die Pflege, die Sauberkeit, die Ernährung für damalige Zeiten leicht. Alles haben sie kuriert, nur die Hände, du siehst ja, machen, was sie wollen. Sicher ist der Schock auf sie übergegangen. Aus der Tscheka haben sie mich natürlich entlassen. Solche Hände kann man da nicht brauchen. An die Drehbank, klar, könnt ich auch nicht zurück. Hier haben sie mich zum Lagerdienst eingeteilt. Was solls, ich stehe auch hier meinen Mann. All die Papiere, Lieferscheine kann ich allerdings nicht selber schreiben, wegen der Hände. Dafür habe ich eine Gehilfin, ein gewitztes Mädchen. Tja, so lebe ich, mein Lieber. Und das mit dem Popen, wie das war, habe ich erst später erfahren. Da war nichts Göttliches im Spiel, ach was. Unsre Jungs hatten einfach, als ich rausgegangen war, um mich frisch zu machen, das Magazin aus der Mauser genommen und ein anderes eingelegt - mit Platzpatronen. Hatten sich einen Scherz erlaubt. Ach was, ich bin ihnen nicht

408 Julij Daniel

böse - junge Kerle, und zu lachen hatten die auch nichts, da haben sie sich eben was einfallen lassen. Nein, ich nehm es ihnen nicht übel. Nur eben, die Hände... die taugen zu keiner Arbeit mehr...

Vladimir Kazakov Der Ertrunkene

ER Gestatten Sie mir daran zu erinnern wie einst

es war ich glaube in mal Novgorod

mal da noch wo kurz einstmals ...

Aber noch einstmaliger war ich Gefangener SIE Spaßvogel hören Sie auf! Wollen wir nicht lieber Küssen

spielen?

ER Gleich! Ich bin bereit Ich küsse Sie Da! SIE Sie sind ein Meister! ER Das hat mich in Gefangenschaft ein Tscherkessenmägdelein

gelehrt

Sie dichtete Lieder ich sang sie

den Dolch ans Herz gedrückt

Dann sollte ich gehen

den Weg zu dem Versammlungsplatz SIE Apropos Dolch Sie haben doch einen Band Gedichte mit

Vignette erscheinen lassen? Nicht wahr? ER Ja Wenn ich nicht irre 300 Seiten

in enggedruckter Schrift 100 Dialoge

100 Monologe Und 107 Triloge SIE Sie Listenreicher! ER Ich?

SIE Ach Sie! auch Sie! ER In Verzweiflung vor Ihren Ausrufezeichen stürze ich mich in

die Seine (stürzt sich) SIE Er war und bleibt mir im Gedächtnis

ein Mensch der Kunst Und doch... ER erscheint Guten Tag! Belästigte ich Sie auch nicht? SIE Wie kommen Sie hier herein ? Oh! ER Alles Listen von Tauchern und anderen Gruppen und

Schichten Wo befinden wir uns? In Kiev? .§JE Nein wir sind in Unterkonstantinopel

4io Vladimir Kazakov

ER Dann leben Sie wohl! Ich muß zu meinen Prozeduren SIE Und wie ist es mit unserer Verabredung? ER Sagen Sie ihnen daß ich weit ichiger bin

als ich von mir angenommen hatte Leben Sie wohl! SIE Warten Sie! Sie haben geronnenes Blut im Bart! ER Nein das sind Wasserpflanzen

Vladimir Kazakov Fabriksgelände

ERSTER Gehen wir nicht schon zu lange?

ZWEITER Eh? Das sind noch nicht wir.

ERSTER Schau! - die anderen und dritten.

ZWEITER Ja. Und Fabrikschornsteine. Die brauchen wir auch

nicht.

ERSTER Was werden wir dann tun ? ZWEITER Wir werden sein. Schau - da, eine Frau. Wir werden

sie fragen und antworten. ERSTER Meine Antwort ist schon fertig. Frag! DIE FRAU Wer sind Sie? Woher kommen Sie um diese Zeit? ZWEITER Um diese? Nicht doch. Wer hat Ihnen das gesagt? Um

ganz eine andere... Was ist das ? FRAU Das ist ein Fabriksgelände. Sehen Sie? Die Schornsteine

rauchen.

ERSTER Und worüber rauchen sie? FRAU Es sind im ganzen sieben Schornsteine und noch einige.

Und über jedem ein Rauch. Wieviel sind das im ganzen?

Darüber rauchen sie. ERSTER Ein Himmel in drei Farben: grau, schwarz und die

letzte. Baracken. FRAU Das ist ein Fabriksgelände. Ich wiederhole: das ist ein

Fabriksgelände. Und, nach einer kurzen Pause: das ist ein

Fabriksgelände. ZWEITER Ich bin der erste. ERSTER Ich bin ebenfalls der Zweite. FRAU Mein Name ist dort geblieben, Wie zärtlich er war,

erstaunlich! Sie sehen, wie rauh meine Haut, wie rissig meine Hände heute sind? Und meine Augen? Jedes Wort hat

geblitzt!... Was machen Sie auf diesem Fabriksgelände?

Sie. ERSTER Ich?

412 Vladimir Kazakov

ZWEITER Er.

FRAU Wir.

ERSTER Ist nicht der erste.

ZWEITER Wo wollen Sie hin?

FRAU Sie sprechen merkwürdig, oder höre ich merkwürdig zu!... Hören wir die Sirene heulen, beschleunigen wir die Schritte, sehen wir die Schornsteine, beschleunigen wir das Übrige. Die Augen glänzen.

ERSTER Höre ich Ihre Schritte, heule ich.

ZWEITER Und ich die Augen.

FRAU Nein.

DIE MENGE Den Fabriktoren entströmend.

FRAU Hören Sie die Stimmen?

1. STIMME Wohin? Wohin? Wohin?...

2. STIMME Was hast du dort gesehen?

3. STIMME Was für ein komischer Himmel!...

4. STIMME Vorsicht! Hier ist ein Spalt... FRAU Nun, und was antworten Sie? ERSTER Unser Arbeitstag ist zu Ende.

ZWEITER Wir gehen in die Baracken. Wir umgehen den

Spalt...

FRAU Sind Sie taub oder hören Sie nicht? ERSTER Wir umgehen alles.

ZWEITER Sie schweigt. Merkwürdig! Was hören wir zu? ERSTER Wo? ZWEITER Gestern. ERSTER Die Frau... Wo ist sie? DIE MENGE Zwei wie sie. FRAU Ich habe mich verhört, oder habe ich mich verhört? Ich

weiß nicht.

ERSTER Nicht wir. Nicht verhört. Nicht Sie wissen es. ZWEITER Nicht die anderen. FRAU Nicht auf den Schienen stehenbleiben! Die Menge verläßt

die Fabrik.

� ERSTER Wo stehen wir? Sie verlassen uns. ZWEITER Die Schienen verlassen uns, die Stimme der Frau und

sie selbst.

Fabriksgelände 413

ERSTER Das Wort »Unfall« ist unhörbar und unsichtbar. Die

Frau kommt hierher. FRAU Ich bin gekommen und schweige. ERSTER Sie ist gekommen und wir schweigen. FRAU Wir stehen auf den Schienen. ZWEITER Wir schweigen auf den Schienen. DIE MENGE Lebt wohl! Auf den Schienen!... ERSTER Warum sind sie alle so leer?

ZWEITER So einen habe ich noch nie gesehen. Mich auch nicht. FRAU Können Sie »Lebewohl« sagen? ERSTER Ich antworte nicht auf meine Fragen. Du? ZWEITER Ich nicht.

ERSTER Leer sind die Schienen, nicht wir. FRAU Wie soll ich Ihnen zeigen, was Sie nicht hören ? ERSTER Was, wir sollen nicht wir werden? Zwei Auswege, von

denen es einen nicht gibt.

ZWEITER Dieselben Worte, aber in derselben Reihenfolge. ERSTER Wo ist die Frau? Nirgends? ZWEITER Ich rufe! Hörst du?

ERSTER Die Dämmerung der Dämmerung. So hat sie gesagt. ZWEITER Und du? ERSTER Ich? ZWEITER Nein, du.

ERSTER Habe begonnen, die Schornsteine zu zählen, die Gelände. ZWEITER Ich habe nur dich gezählt. Wo ist die Frau? Wo ist sie

denn? Denn ich bin dort, wo sie ist. FRAU Auf den Schienen? Leben Sie wohl!... ZWEITER ter. ERSTER ster. ZWEITER Wo wollen Sie hin?! Ihre Hände... Sie wissen. Und

ihre dunklen Haare.., ERSTER Und Ihre langen Wimpern

Dunkel wie das Donnern der Waggons ... ZWEITER Sie ist verschwunden... Die Schornsteine sind über

dem Zählen wahnsinnig geworden. Es ist Nacht. Kein Spalt zu

sehen. Das Fabriksgelände . . .

414 Vladimir Kazakov

Die Nacht bricht an.

ERSTER Sie ist angebrochen.

ZWEITER Heult da etwas? Oder etwas nicht?

ERSTER Hörst du? Ich sehe.

ZWEITER Wem?

ERSTER Wer?

ZWEITER Keiner keinem. ERSTER Oder umgekehrt.

Vladimir Kazakov Auferweckung

DER VATER Das Schneiderhandwerk verlangt von den Fenstern gläsern blitzende Opfer... Die Nadel beschreibt langsam einen Halbkreis ...

VALERIJA seine Tochter Sie wollen die Luft durchdringen, oder irre ich mich?... Wie gut, daß Fenster in die Wände gebrochen sind! Das gestattet, taube dunkle Vorhänge davorzuhän-gen... merkwürdig, vier Wände, und jede hat ihren eigenen Charakter. Diese zum Beispiel ist ängstlich.

VATER Was hast du gesagt?

VALERIJA Nadel.

VATER Ja, ja, meine Tochter, ich werde nicht müde, diese Regel zu wiederholen. Punkt Nr. 2: die ersten Strahlen der Zahl 7 streiften den Punkt Nr. 19 in schrägem Winkel, der Tag nahm die Form eines Quadrates an, das aus einer Grundlinie und zwei ungleichen Seiten bestand. Die i. Seite: »Ich bin ungleich.« Die 2. Seite: »Ich bin traurig.«

VALERIJA Die 3. Seite: »Ich bin die Nadel.« Vater, mein Verstand bringt mich auf einen grausamen Vergleich: auf Turmuhren zeigt der große Zeiger die Windrichtung an, der andere, tote zeigt in die Richtung des Todes.

VATER Meine Überlegungen wurden durch die überraschende Ankunft meiner Selbst unterbrochen. Ich bückte mich also, richtete mich auf und horchte: die Stille kam donnernd näher.

VALERIJA Vater, beantworten Sie mir eine Frage!

VATER Schau, die Dunkelheit hat sich zu den Sternen erhoben. Wieviel Eisen!

VALERIJA Vater, ich kann Ihnen diese Frage nicht beantworten. Das ist der letzte Wunsch dieser sterbenden Minute.

VATER Natürlich möchte ich mich sofort dorthin begeben. Aber

416 Vladimir Kazakov

woher nehme ich den Mut und alles übrige, was nötig ist zur Flucht?

VALERIJA Ich weiß nicht, ob diese Dunkelheit uns hilft. Eine andere würde uns vielleicht helfen.

VATER Nein, nein und nochmals nein - das sind meine drei Jas. Die Dunkelheit besteht zur Hälfte aus Lüge und zu einem Drittel aus nichts. Wenn man sich auf den Weg macht, muß man drei Regeln vergessen: i. Mit lauten Selbstgesprächen bestärkt man den Glauben der anderen an die anderen. 2. Lunatismus ist eine unter Zahlen weitverbreitete Krankheit.

VALERIJA Ich frage mich: woraus besteht zu einem Drittel die Unsterblichkeit? Und antworte: aus einem Drittel... Was für merkwürdige Augenblicke ich sehe! Sie haben mit Sekunden nichts gemein. Wie überraschend der morgige Tag angebrochen ist!

VATER Das ist das Schicksal aller Unglücklichen - begraben zu werden zusammen mit dem eigenen Glück.

VALERIJA Die Stunde ist für unschuldig erklärt worden. Hier in Kürze mein Sebstporträt: seidige Luft berührt das dunkle Haar, die Augen zwei riesige Schweigen, von Wimpern verhangen.

DER BRÄUTIGAM erscheint Ich erscheine. Guten Tag! Als ich an dieser Nacht vorbeiging, konnte ich nicht anders als sie zu beachten ... Wie merkwürdig wir einander anschauen! Als ob Sie mich nicht wiedererkennen würden, und ich, als ob ich daran nichts erstaunlich fände... Ich stelle mich an die Wand und begegne tapfer dem Wirbelsturm der Erinnerungen. Das bin ich als Säugling, einen Säbel in der Hand, das bin ich erwachsen, das wieder als Säugling...

VALERIJA Nacht. Zwei unzertrennliche Augenblicke blitzten auf... Vater, Sie schweigen?

BRÄUTIGAM Wovon sprechen Sie? Ich verstehe mein Schweigen nicht. Ich bin von den Fenstern streng vermessen worden, habe aber nur gelächelt. Ja.

VALERIJA Ich höre eine Stimme... Die Laterne leuchtet donnernd über das Straßenpflaster. Ein Ladenschild hat sich mit

Auferweckimg 417

dem Gesicht und einem Knirschen in den auferweckten Wind gedreht. Der Dunkelheit wegen ist die Jahreszeit schwer zu bestimmen.

BRÄUTIGAM In der Dunkelheit sind alle Jahreszeiten dem Herbst ähnlich. Dieselbe Kälte und dieselbe Nacht, die im langsamen Fluß der Fenster davontreibt... Eine Erinnerung: sie ging über eine Brücke, einige Sterne rammten Pfähle in den schwarzen nächtlichen Grund, das Wasser glitzerte. Ich verbeugte mich höflich, nannte meinen Namen, der Wind trug den Namen zur Seite. Die steinernen Häuser schaukelten auf dem Wasser. Die Frau war blaß und erschrocken, an die Sekunde geschmiegt wie an ihre letzte Rettung. Ihre Augen schimmerten, so schien es, dunkel und ruhig zur Seite. Mir fiel nicht ein, was ich hätte sagen sollen. Gußeiserne Geländer, Wind und einen Klumpen Gußeisen in der Kehle. Ich begleitete sie als tapferer wortloser Schatten bis zu meinem ersten Wort. Schließlich verschwand sie, verzweifelt... Was? Es ist Morgen?!... Es ging über die Kräfte der Dächer, die Sterne aufzuerwecken...

VATER Soweit ich verstehe, ist das nicht einfach er, sondern seine Stimme. Merkwürdig, ich spreche von mir in der dritten Person, und schweige in der zweiten... Nein, die Kurve, die die Nadel beschreibt, ist manchmal so seltsam, daß man wirklich um seinen eigenen Mut zu fürchten beginnt. Was sagst du dazu, Valerija?

VALERIJA Vater, was sagen Sie dazu?

BRÄUTIGAM Ich warte, und mit mir - eine harte Wand aus Luft.

VATER Ich zögere mit der Antwort wie mit der Frage. Das ist das herbstliche Gesetz der Zahlen.

VALERIJA Zwei Unbeweglichkeiten, die sich einander nähern und auf etwas Drittes zubewegen.

BRÄUTIGAM Das bin doch ich! Sehen Sie, ich stütze mich mit dem Ellbogen auf Mitternacht wie ein Gespenst. Das blasse Gesicht, im Schrecken widergespiegelt vom Glas. Die Finger umklammern den Spazierstock.

VALERIJA Auf die Frage: »Wo aber ist das Glück?« antwortete er, das sei auf der anderen Seite unserer Selbst. Wieviel Kälte

418 Vladimir Kazakov

war in jedem Vokal! Merkwürdiges geschah an diesem Tag mit den Dächern und den an sie geschmiegten Himmeln - so als habe der Herbst den Winter eingeholt.

VATER Dächer und Auf erweckung der Sterne? Die Nadel beschreibt eine mißtrauische Kurve... Einmal bin ich aus einer Nacht zurück in eine andere gekehrt, eine Laterne hat geleuchtet. Das Gedächtnis der Laternen für Gesichter ist unerhört! Geht man an einer vorbei, erschaudert man und fühlt sich erkannt... Worüber wollte ich sprechen? Ach ja, über nichts.

BRÄUTIGAM Ihre Augen blitzten, gleichzeitig mit den Wörtern. Ich bin, wie es scheint, erkannt, wie diese Laterne.

VALERIJA In mir ist Kälte genug, um zu siegen und das nicht zu bedauern.

VATER Was ist schwieriger, einen Schwur zu leisten oder ihn zu erfüllen ?

VALERIJA In mir ist Festigkeit genug - für das eine wie das andere.

VATER Was? Ich höre nicht, ich bin taubgeworden vor Vorahnungen.

VALERIJA O Ferne! O silbrige Linie des Rückens! Der Wind trägt das Schweigen fort. Einige Fernen schnitten sich in einem Punkt. Die Strahlen der Dächer schneiden sich mit den Strahlen der Dächer. Ich bin unbeweglich, die Unbeweglichkeit überträgt sich auf die Gedanken, die Sterne sind erstarrt, es scheint, als würden Augenblicke nicht geboren, sondern auf erweckt. O Nacht! O fallende Zahl 17!

VATER Hier bin ich. Ich fürchte mich vor meinen Gedanken, denn meine Furchtlosigkeit verbreitet sich nicht über mich.

BRÄUTIGAM Ein schöner Spazierstock verleiht den Gedanken Eleganz. Zum Beispiel: man steht mit dem Rücken und dem Gesicht zur Menge, aber - Vorsicht. Eine unachtsame Geste, ein unachtsames Schaufenster - und die Scherben Ihres Spiegelbildes klirren erstaunt. Einmal waren ich und ein merkwürdiger Augenblick allein, und da geschah es.

VATER Was ist das - bewegt sich die Zeit oder nicht? Oder ist diese Stunde fest an den Himmel geheftet? Oder hat sich das

Auf erweckung 419

Eisen der Dächer gegen den Uhrzeiger bewegt? Für diese beiden Fälle habe ich einen Vorrat vollster Verwirrung.

VALERIJA Die nächste Stunde ist so nahe, daß ich sie schon sehe. Ich unterscheide steinerne Häuser, einen kalten Uferkai und Wind, der sich an den Brücken verbrennt... Vater, wo sind Sie?

BRÄUTIGAM Er errichtet Schweigen aus Zahlen und Wörtern -das wird etwas Majestätisches und Großes... Ich ging vorbei und brachte es nicht über mich. Ich beschloß, einzutreten. Hier ist der Spazierstock, hier der wertvolle Schädel und hier der ins Knopfloch gesteckte Seufzer. Ach! außerdem ist es auf den Gehsteigen so glatt, die Schaufenster sind betrunken vom Wind und den Laternen, die Menge hüpft und fliegt davon.

VATER Wo habe ich nur meinen Kummer hingesteckt?

VALERIJA Die Nacht strömt zur Spitze der Nadel - bald wird sie ganz dort sein.

BRÄUTIGAM Und hier die Handschuhe... Ich ging, mit dem Blick über das Straßenpflaster blitzend.

VATER Ich bin bis zur Nadelspitze von Vorahnungen erfüllt. Vorahnung Nr. i: 17530026910. Vorahnung Nr. 009: geht nicht in Erfüllung. Ich beschreibe den Bau des Gesichts: Stirn, Himmel, Reihen von Falten und ein Hals, gegürtet von einer einfachen Schlinge.

BRÄUTIGAM Ich bin berauscht, als hätte ich ein ganzes Fenster Licht getrunken. Die Dunkelheit ist fester geworden.

VALERIJA i. Ein Dach, von den Sternen ausgegangen. 2. Nacht + Nacht = gleich. 3. Ich bin die Tochter meines Vaters. 4.

BRÄUTIGAM Ich will einen Schritt tun und kann nicht. Ich will einen zweiten tun und kann es ebenfalls nicht. Habe ich mich nicht aus Vergeßlichkeit im Flur stehen lassen? Wo ist mein Spazierstock und mein ganzer Eifer? Ich bin schweigsam zu mir und zu den anderen. Valerija!

VATER Ich rufe meine Tochter und antworte nicht. Die große Zahl 13 ist kleiner als die kleine Zahl 559,1. Mein Vorrat an Schweigen nimmt ab. Aus der Gegenwart verdrängt in eine nicht eingetretene Zukunft. 99% meiner Selbst zu i% ebenfalls meiner Selbst.

420 Vladimir Kazakov

BRÄUTIGAM Die Laternen gehen balancierend über einen gespannten Gehsteig- das ist meine Definition der Dämmerung.

VALERIJA Ihr Schweigen ist gleichnishaft.

VATER Er spricht schon längst anderes.

BRÄUTIGAM Die Menge der Gäste war mal größer, mal kleiner, mal wieder kleiner. Merkwürdig, sie nahmen mein Verschwinden für mich. Anwesend waren auch zwei Gespenster. Gäste und Wände taumelten voreinander zurück. Wissen Sie, Kerzen, dekolletierte Dunkelheit, ich wäre entzückt gewesen, aber das Entzücken stellte sich nicht ein. Plötzlich sprang das Gespräch über auf die Auferweckung toter Sterne. Die Gespenster wechselten sogleich einen Blick, nicht wie Verschwörer, aber auch nicht wie Auferwecker. Die Meinungen der Gäste gingen auseinander, die Gespenster schlugen vor, Karten zu spielen - die Meinungen vereinigten sich. Die eisernen Strahlen der Dächer durchdrangen die Nacht, ich kann diesen Klang nicht vergessen... Ich hatte unverhofft ein gutes Blatt, mein ewiges Pech fuhr vor mir zurück und betrachtete alles voller Erstaunen. Im übrigen vergaß ich mich bald. Mich umringten Spiegel und Damen. Jemandes Dämmerung nahm mich sanft beseite und flüsterte mir etwas ins Ohr. Die Dächer mit ihrem Eisen erfüllten den gesamten Himmel und drohten, durch die Fenster des Salons hereinzudrängen. Damen, Männer und Dekolletes fuhren vor Schrecken zurück. Jemand rief mit eindringlicher und leiser Stimme, mit der der Tod den Sterbenden ruft. Ich wandte mich um, aber... da war ich schon nicht mehr...

VATER Die Rede besteht aus Wörtern, Schweigen besteht aus Zahlen, Gesten bestehen aus Luft, Verzweiflung besteht aus allem.

VALERIJA Während wir sprachen, ist die Ferne erfroren. Jetzt sind wir an der Reihe.

BRÄUTIGAM Eine glitzernde Träne, der Wind und der Spazierstock - das ist meine Ausrüstung. Dem Buchstaben A entspricht die Zahl Z. Valerija, Sie sind wortlos!

VATER Hoffen wir nicht auf Gnade. Hoffen wir auf etwas anderes.

Auferweckung 421

VALERIJA Zum ersten Mal höre ich, daß eisernes Gepolter mit drei Punkten endet...

BRÄUTIGAM Man mußte über die Macht einer Olga Rozanova verfügen, um diese Dächerlawine aufzuhalten.

VALERIJA Zwei eisige Schweigen. Welches von beiden bin ich?... Die Dunkelheit hat sich an der Nadelspitze gestochen.

BRÄUTIGAM Die Strahlen der Sterne glitzerten klirrend über das Straßenpflaster. Der Wind trug das Flüstern und die Schreie der Gäste davon. Plötzlich zeigte sich-der Schädel den Blicken der Gäste als das Symbol von Tod und Leben. Mein Gesicht richtete sich jäh nach oben, wie eine steinerne Wand. Tränen stiegen über die eiserne Treppe hinauf zu den Augen. Der Wind schaukelte heulend das blecherne Numernschild meines Schicksals. Kalte glitzernde Sterne stürzten klirrend in die Augen...

VATER Wieviel feierliches Licht und feierliche Kälte zu nicht festgesetzter Stunde! Das ist wie eine Abdankung der Nacht.

VALERIJA Es war dunkel vor Knirschen.

VATER Das Jüngste Gericht ist das Gericht der Zahlen.

BRÄUTIGAM Aber wir sind doch so durchsichtig, daß man in uns keine Nägel schlagen kann!

VATER Tochter und Fenster sprechen miteinander in der Sprache der Kälte.

VALERIJA Auf dem Gipfel des Windes zu stehen bedeutet noch nicht, gekreuzigt zu sein.

BRÄUTIGAM Als ich an meinem Spiegelbild vorbeiging, nickte es mir mit einem gläsernen Spazierstock zu. Das Schaufenster blitzte, im schrägen Winkel zur Luft. Mein Schädel und ich sahen einander lächelnd an. Ebenso ein Stern sah uns an. Die Gestalten der Gäste erschienen blutend und krampfhaft zuk-kend, wie aus einem verletzten Gedächtnis ...

VATER Bevor ich höre, muß ich verstehen - das ist eine Laune von Menschen, die es immer mit dem Schweigen zu tun haben.

BRÄUTIGAM Jetzt waren die Gespenster von den übrigen schon nicht mehr zu unterscheiden. Die Stelle der Dächer hatte der Himmel eingenommen. Sie türmten sich krachend eines über das andere. Und die Himmel einer über den anderen.

422 Vladimir Kazakov

VALERIJA Soweit ich verstehe, hat die Auferweckung nicht stattgefunden. Also, soweit ich höre, hat sie auch nicht stattfinden können. Vor dem Hintergrund der Dunkelheit erscheint Schweigen als Kälte.

BRÄUTIGAM Das ist das zufällige Ziel meines Besuchs.

VALERIJA Wieviel Kälte und Ruhe in seiner Kälte und Ruhe!

VATER Unter zwei Übeln wähle ich das mittlere. Wie jeder, der in einer Trauerprozession schreitet, werde ich dem Leben und dem Tod zu gleichen Teilen gehören. Meine Devise ist die römische Zahl XIII. Von nun an kehre ich zu meinem neuen Handwerk zurück. Eine hügelige Landschaft erinnert mich immer an das Handwerk des Totengräbers. Das Licht der gestorbenen Sterne erinnert mich an dasselbe. Die Dunkelheit nimmt immer deutlicher die scharfen Konturen der Kälte an. Ich nehme immer deutlicher die feierlichen Konturen meiner Selbst an. Ich triumphiere wie die Malerei, die von Aleksej Kazakov Besitz ergriffen hat!

Venedikt Erofeev Die Walpurgisnacht, oder Schritte des Komturs

Tragödie

Personen:

LEITENDER ARZT DER ANSTALT (DER DOKTOR)

NATHALIE \

LUCY l Krankenschwestern

TAMAROČKA J

BORJA, Krankenpfleger, genannt Knochenbrecher

GUREVIČ

Das Ganze spielt am 30. April, dann in der Nacht, dann in den frühen Morgenstunden des i. Mai.

ERSTER AKT - DER PROLOG

Der Aufnahmeraum. Für den Zuschauer links die Jury: der leitende Arzt der Anstalt, der dem Komponisten Georgij Siviri-dov sehr ähnlich sieht, mit beinahe quadratischem Gesicht und vollkommen quadratischen Brillengläsern (im folgenden einfach der Doktor). Zu beiden Seiten von ihm zwei Damen in weißen Kitteln: Tamarocka, die beinahe das halbe Proszenium einnimmt, und die leicht gebeugte, stets abwesende Lucy, mit Brille und Papieren. In ihrem Rücken schreitet gemessen der Sanitäter und Krankenpfleger Bor ja auf und ab.

Zur anderen Seite des Tisches der soeben vom »Pestkarren« (der Ersten Hilfe) eingelieferte Gurevic.

DOKTOR Ihr Name? GUREVIČ Gurevic.

424 Venedikt Erofeev

DOKTOR Also Gurevič. Und womit können Sie beweisen, daß Sie Gurevič heißen und nicht... Haben Sie irgendwelche Papiere bei sich?

GUREVIČ Nein, ich hasse Papiere. Rene Descartes hat einmal gesagt...

DOKTOR rückt die Brille gerade Vorname, Vatersname?

GUREVIČ Von Descartes?

DOKTOR Nein, Ihrer.

GUREVIČ Lev Isaakovič.

DOKTOR über die Brille hinweg, zur bebrillten Lucy Notieren Sie.

LUCY Verzeihung, was soll ich notieren?

DOKTOR Alles! Alles notieren!... Leben Ihre Eltern noch?

GUREVIČ Ja.

DOKTOR Und die heißen?

GUREVIČ Isaak Gurevič. Meine Mutter, Rozalija Pavlovna...

DOKTOR Heißt auch Gurevič?

GUREVIČ Ja. Aber sie ist Russin.

DOKTOR Und wen lieben Sie mehr, Mutter oder Vater? Für die Medizin ist das sehr wichtig.

GUREVIČ Alles in allem doch meinen Vater. Als ich mit ihm den Hellespont durchschwamm...

DOKTOR Notieren Sie: Liebt seinen jüdischen Vater mehr als seine russische Mutter... Und wie kommen Sie in den Hellespont? Wenn mich meine Geographiekenntnisse nicht trügen, gehört der noch nicht zu unserem Territorium.

GUREVIČ Wie soll ich das sagen. Alles Territorium ist unser. Genauer - wird unser werden. Nur lassen sie uns nicht hinfahren, wahrscheinlich aus Gründen der Friedenssicherung: damit wir uns zufriedengeben mit unserem Sechstel der Erde.

DOKTOR Aha... und ist er sehr breit, dieser Hellespont?

GUREVIČ Einige Bosporusse.

DOKTOR Sie messen Entfernungen in Bosporussen? Sie haben Glück, Patient, Ihr Nachbar im Krankensaal wird jemand, der mißt die Zeit in Nachttischen und Hockern. Sie werden sich gut vertragen. Und was ist ein Bosporus?

Die Walpurgisnacht 425

GUREVIČ Sehr einfach. Das verstehen sogar Sie. Wenn ich morgens aus dem Haus gehe und Gurgelwasser hole, mißt mein Weg zum Kaufhaus genau 670 Schritt - und das ist laut Brockhaus exakt die Breite des Bosporus.

DOKTOR Alles klar. Und unternehmen Sie solche Ausflüge oft?

GUREVIČ Je nachdem. Nicht so oft wie andere. Aber ich dafür immer im vollen Ernst. Ich immer nur dann, wenn ich traurig bin...

DOKTOR Und mit welchem Geld haben Sie... jeden Tag diesen Ihren Bosporus überschritten? Das ist sehr wichtig.

GUREVIČ Mir ist egal, welche Arbeit ich mache, ich mache alles... Massenaussaat von Buchweizen und Hirse... oder umgekehrt... Im Moment arbeite ich im Lebensmittelkaufhaus, als Aufpasser.

DOKTOR Und wieviel zahlt man Ihnen da?

GUREVIČ Genau so viel, wie meine Heimat für nötig hält. Und wenn mir das zu wenig wäre und ich damit nicht einverstanden wäre und wenn ich meine Heimat fragen würde: »Leva, ist dir das zu wenig? Sollen wir dir was drauflegen?« Dann würde ich sagen: »Schon gut, Heimat, laß nur, du hast doch selber keinen Scheiß zu fressen.«

DOKTOR überlegen Soweit ich verstehe, sind Sie eher freier Seefahrer, als Kaufhausdetektiv. Aufstehen. Beine zusammen. Mit den Augen zwinkern. Arme nach vorn.

GUREVIČ tut, wie ihm befohlen Darf ich mich wieder setzen?

DOKTOR Bitte sehr. Im Grunde ist schon alles klar. Aber - noch ein Detail: ich frage nicht, ob Sie verheiratet sind, aber gibt es für Sie eine Frau, zu der Sie Zuneigung verspüren, die Sie durchs Leben begleitet?

GUREVIČ Natürlich gibt es die. Genauer: hat es gegeben. Als wir gemeinsam den Hindukusch durchschwammen... hat sie sich den Kopf angerannt... an den Felsen von Britisch Samoa. Und in dem Augenblick... - Gurevič ist den Tränen nahe � genau in dem Augenblick hat das Schicksal dem Maestro den Taktstock aus der Hand genommen. Ich bin abgesoffen, aber es hat mich an Land gespült - freut Sie, daß es mich an Land gespült hat?

426 Venedikt Erofeev

DOKTOR Aus dem Hindukusch?

GuREVIČ Aus dem Hindukusch. Und was das kostet, aus dem Hindukusch an Land zu schwimmen, wenn man schon die Dardanellen hinter sich gelassen hat!

DOKTOR Genau. Ein Patient wie Sie ist eine große Seltenheit für uns, schön, daß Sie nicht ertrunken sind. Und beim Schwimmen, hatten Sie da eine Flasche bei sich?

GUREVIČ Was denken Sie! Und was für einen Panzerknacker! Essigsaures Ammoniak - das hält kein Haifisch aus. Kommt ein Haifisch geschwommen, kippt man sich und seiner Freundin ein paar Tropfen davon auf den Kopf - und Schluß, die Haifische verlieren die Orientierung, verlieren ihren leeren Kopf, na, und zum Abschied lecken sie deiner Freundin die Waden... aber wer wird in so einer Situation schon eifersüchtig werden, lächerlich... Wenn man schon fast im Karakorum ist...

DOKTOR Welchen Tag haben wir heute? Jahr? Monat?

GUREVIČ Wen interessiert das schon? Als wäre das für Rußland nicht völlig egal - Tage, Jahrtausende...

DOKTOR Verstehe. Und - haben Sie manchmal Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Alpträume, hören Sie Stimmen...

GUREVIČ Damit kann ich nicht dienen, nein. Aber...

DOKTOR Was »aber«?

GUREVIČ Ich meine ... Warum zum Beispiel habe ich die ganze Welt befahren, das Kuen-Lung erklettert, die Gipfel von Kontiki bestiegen - und habe dabei nur das eine gelernt: in der Stadt Archangelsk gibt man die leeren Flaschen am besten in der Rosa-Luxemburg-Straße ab!

DOKTOR Sonstige Merkwürdigkeiten dieser Art?

GUREVIČ Viele sogar. Zum Beispiel habe ich manchmal den Wunsch, daß der Himmel aus lauter Wassermännern besteht. Daß es keine anderen Sternbilder mehr gibt. Und daß man mir - hoch über mir die Wassermänner - etwas wegnimmt, etwas Wesentliches, aber nicht das Teuerste.

Der Doktor und die Schwestern werden nervös. In ihrem Rücken schreitet unerschütterlich der Knochenbrecher Borja auf und ab.

Die Walpurgisnacht 427

GUREVIČ Aber was scheren mich Wassermänner und Plejaden, wenn ich auf einmal etwas Merkwürdiges an mir entdecke: ich habe festgestellt, daß ich, wenn ich den linken Fuß hebe, nicht gleichzeitig auch den rechten heben kann. Dieses Unvermögen habe ich dem Fürsten Golicyn anvertraut...

Der Doktor gibt ein Zeichen mit dem linken Auge: Lucy soll mitschreiben. Diese beugt träge ihr sommersprossiges Gesicht nach vorn.

GUREVIČ ... und wir haben getrunken, getrunken und getrunken ... um Klarheit in die Gedanken zu bringen... Und ich fragte ihn flüsternd - um niemanden zu stören - aber wen hätten wir schon stören können, wir waren ja allein, außer uns war niemand da... ich fragte ihn also, um niemanden zu stören, flüsternd: Und warum geht meine Uhr anders herum? Er schaute mich an, dann die Uhr, dann sagt er: »Man merkt es dir nicht an, und getrunken hast du, glaube ich, nur wenig, aber... meine Uhr geht auch verkehrt herum.«

DOKTOR Das Trinken schadet Ihnen, Lev Isaakovič...

GUREVIČ Als wüßte ich das nicht. Mir das zu sagen, ist dasselbe, als wollten Sie dem Mohr von Venedig sagen, der eben, erschüttert über seine Tat, erwacht, - als wollten Sie ihm sagen, daß das Zusammendrücken der Luftröhre und Tracheen die Paralyse des Atmungszentrums infolge einer Asphyxie bewirken könne.

DOKTOR Ich denke, das genügt... Also mit dem Fürsten Golicyn... Und mit Lords, Grafen und Marquis haben Sie nie gesoffen?

GUREVIČ Oh doch. Da ruft mich doch zum Beispiel Graf Tolstoj an...

DOKTOR Lev?

GUREVIČ Warum denn Lev? Graf, also dann unbedingt Lev! Ich heiße doch auch Lev und bin kein Graf. Levs Urenkel ruft an und sagt, er hätte da zwei Flaschen Imbirnaja auf dem Tisch, aber nichts dazu zu essen, außer zwei Čapaev-Witzen...

DOKTOR Und wohnt er weit von Ihnen, dieser Graf Tolstoj ?

428 Venedikt Erofeev

GUREVIČ Nein, ganz in der Nähe. Metro Novokuzneckaja, und da gleich um die Ecke. Wenn Sie lange keine Imbirnaja getrunken haben ...

DOKTOR Und wie halten Sie es mit Josephe de Maistre? Mit dem Vicomte d'Anemone? Würden Sie die auch an den Zaun bitten und mit ihnen trinken, direkt aus der Flasche? Dieses... wie sagten Sie, dieses ... Gurgelwasser?

GUREVIČ Aber mit Vergnügen. Nur müßten an diesem Zaun unbedingt Winden wachsen... Schön wären auch Anemonen ... Aber was man so hört, sind die alle emigriert.

DOKTOR Die Anemonen?

GUREVIČ Wenn es nur die Anemonen wären. Anemonen, Josephinen, Krokusse - alle, alle fliehen. Und warum fliehen sie? Und wohin? Mir zum Beispiel gefällt es hier. Wenn mir eins nicht gefällt, dann nur das Verbot des Vagabundierens. Und... die Mißachtung des Wortes. Mit allem anderen...

DOKTOR sein bevollmächtigter Ton gebt in einen außerordentlichen über Und wenn über unsere Heimat nun die Katastrophe hereinbricht? Es ist doch für niemanden ein Geheimnis, daß unsere Feinde nur von dem einen Gedanken leben, uns zu destabilisieren, um uns dann endgültig... Sie verstehen? Das sind keine Lappalien. An Tamaročka gewandt. Wieviele Nationalitäten, Sprachen und Völker haben wir in Rußland?

TAMAROČKA Ach weiß der Kuckuck... Ein halbes Tausend sicher.

DOKTOR Sehen Sie: ein halbes Tausend. Und was denken Sie, im Fall des Falles, Auge in Auge mit dem Gegner - welcher Stamm ist da der Zuverlässigste? Sie sind ein gebildeter Mensch, verstehen etwas von Winden und Anemonen, wissen, daß sie aus irgendeinem Grunde von uns fliehen... Wenn nun der Sturm losbricht - in wessen Reihe werden Sie stehen, Lev Isaakovič?

GUREVIČ Ich bin grundsätzlich gegen jeden Krieg. Der Krieg verdirbt die Soldaten, bringt die Formationen durcheinander

» und macht die Uniformen schmutzig. Großfürst Konstantin Pavlovič... Aber das hat nichts zu sagen. Sobald mein Vaterland am Rand der Katastrophe steht...

Die Walpurgisnacht 429

DOKTOR zu Lucy Notieren Sie auch das.

GUREVIČ Sobald mein Vaterland am Rand der Katastrophe steht

und zu mir sagt: »Leva! hör auf zu saufen, nimm dein Bett und

wandle...« - dann...

Belebung im Saal. Von rechts hört man Absätze klappern, und herein kommt zielstrebig, aber ohne Eile die Krankenschwester Nathalie. Ihre Augen nehmen beinahe die Hälfte ihres lächelnden Gesichts ein. Grübchen in den Wangen. Die tiefschwarzen Haare werden im Nacken von einer unvorstellbaren Spange zusammengehalten. Alles riecht nach slawischer Demut, aber auch nach Andalusien.

DOKTOR Sie kommen wie gerufen, Natalija Alekseevna.

Der übliche Austausch von Begrüßungen unter den Damen,

usw.

NATHALIE setzt sich neben Lucy Ein Neuzugang... Gure-vič?!... Wie alt? Wie...

DOKTOR Im Wesentlichen ist unsere Unterhaltung mit dem Patienten bereits beendet. Lenken Sie nicht ab, Natalija Alekseevna, und bitte keine Privatgespräche... Wir haben nur noch einige Umstände zu klären, und dann - in den Krankensaal...

GUREVIČ beflügelt von Nathalies Anwesenheit Ich liebe Rußland, es umfaßt ein Sechstel meiner Seele. Jetzt wahrscheinlich noch ein bißchen mehr... Gelächter im Saal. Jeder normale Staatsbürger bei uns hat ein tapferer Soldat zu sein, so wie jeder normale Urin eine hell-bernsteinfarbene Färbung haben muß. Er rezitiert hingebungsvolle Cheraskov: Bereit das theure Vaterland zu schützen. Bekämpfen froh das ganze Weltall wir.

Mich hält hiervon nur diese Überlegung ab: für so eine Heimat zu kämpfen bin ich, ein moralischer Schwächling, einfach unwürdig.

DOKTOR Aber warum denn? Sie werden hier geheilt...

43 o Venedikt Erofee v

GUREVIČ Naja, geheilt - ich werde aber trotzdem nie begreifen, welcher Panzer in welche Richtung rollt. Natürlich werde ich mich vor jeden beliebigen Panzer werfen, mit Handgranate oder sogar ohne...

DOKTOR Wieso ohne, was hätte das für einen Sinn?

GUREVIČ Den Feind wirds in der Luft zerreißen, so oder so, auch wenn man sich ohne etwas vor ihn wirft... Ich rate Ihnen, mehr zu lesen... Und selbst wenn kein Panzer in der Nähe wäre, eine Schießscharte findet sich bestimmt. Egal, zu wem sie gehört. Ohne zu zögern, werde ich mich auf sie werfen, und werde auf ihr liegenbleiben, bis unser Rotes Banner über dem Kapitol weht.

DOKTOR Lassen Sie Ihre Witze. Idioten, davon werden Sie sich sofort überzeugen, haben wir hier mehr als genug. Wie beurteilen Sie Ihren Allgemeinzustand? Oder halten Sie, im Ernst, Ihr Gehrin für intakt?

GUREVIČ während der Doktor mit den Fingern auf die Tischplatte trommelt Und Sie - Ihres?

DOKTOR giftig Patient, ich hatte Sie gebeten, nur auf meine Fragen zu antworten; Ihre werde ich beantworten, sobald Sie völlig geheilt sind. Also, wie ist das mit Ihrem Allgemeinzu-stand, Ihrer Ansicht nach?

GUREVIČ Schwer zu sagen... Ein merkwürdiges Gefühl... In nichts vertieft... Über nichts besorgt... Niemandem zugeneigt ... Und als ob ich mit jemandem verabredet wäre, aber mit wem, wann und wozu - ist nicht zu verstehen... Wie okkupiert, okkupiert in einer Sache, gemäß dem Vertrag über gegenseitige Hilfe und enge Freundschaft, aber trotzdem okkupiert... und dann... über nichts besorgt, aber auch an nichts gekreuzigt... Kurz, schwimmend in Glückseligkeit -aber dennoch nicht dort... na... wie im Bauch der Schwiegermutter ... Applaus.

DOKTOR Sie meinen, Sie drückten sich unklar aus, aber Sie irren. Und diese Possen werden wir Ihnen austreiben. Ich hoffe, bei all Ihrer Neigung zu Zynismus und Angeberei werden Sie unsere Medizin respektieren und im Krankensaal nicht anfangen zu randalieren.

Die Walpurgisnacht 431

GUREVIČ mit einem schnellen Blick auf Nathalie, die ihren

weißen Kittel zurechtzupft

Mein Vater sagte einst zu mir: »Du, Le'va, wirst Wenn du erwachsen bist, ein Bonvivant!« Geworden bin ichs nicht. Seit meiner Jugend Hab ich mir angewöhnt: gehorche jedem, Nur dem natürlich, der es wert ist. Ja: Die Zwangsjacke - mein Kinderhemd, In ihr bin ich geboren... DOKTOR unterbricht ihn, die Stirn gerunzelt Ich dachte, ich

hätte Sie schon mehrmals gebeten, Ihre Witze zu lassen. Sie

sind nicht auf der Bühne, sondern im Aufnahmeraum einer

Klinik. Können Sie nicht sprechen wie ein normaler Mensch,

ohne diese... diese...

NATHALIE sagt ihm vor Shakespeareschen Jamben. DOKTOR Genau, ohne Jamben, wir haben hier schon Schwindel

genug. GUREVIČ Ich werds nicht wieder tun... Sie sprachen von

unserer Medizin, ob ich Achtung vor ihr hätte? Achtung ist

ein zu stumpfsinniges Wort, viel zu flach... Ich bin in sie verliebt - und das Ganz ohne Faxen und Grimassen -In all ihre Erfolge, Niederlagen, In all ihre Geburtswehen des Therapierens, In ihre körperlichen Schwächen wie die geistigen, In ihren Vorrang überall im All, in die Vernunft Die nie verdunkelt, auch in ihre Augen, In ihren Schweif, in ihre Mähne, in den Mund, In ihre...

Während dieser Tirade tritt Pfleger Borja leise, von hinten an den Deklamierenden heran, in Erwartung des Zeichens, auf das hin er ihn an den Haaren packen und hinausschleppen soll.

DOKTOR Na-na-na-na, genug jetzt. Im Irrenhaus führt man keine klugen Reden... Können Sie genau beantworten, wann man Sie das letzte Mal hier eingeliefert hat?

43^ Venedikt Erofee v

GUREVIČ Natürlich. Nur, sehen Sie - ich messe die Zeit ein wenig anders. Selbstverständlich nicht in Fahrenheit, nicht in Nachtschränken, nicht in Reaumur. Aber doch ein klein wenig anders ... Mir zum Beispiel ist wichtig, wie weit dieser Tag von der Herbstgleiche entfernt ist oder... na... von der Sommersonnenwende... oder noch so einer Sauerei. Wie die Windrichtung zum Beispiel. Wir, die Mehrheit, wissen nicht mal, wenn Nordostwind ist, wohin er eigentlich weht: aus Nordosten oder nach Nordosten, uns ist das Jacke wie Hose... Agamemnon, der König von Mykenae dagegen, er hat seine Lieblingstochter Iphigenie, die Jüngste, unter das Opfermesser gelegt - und zwar nur, damit Nordostwind kam und kein anderer...

DOKTOR hat die Erregung des Patienten bemerkt, gibt allen übrigen ein Zeichen Ja... aber Sie sind von der gestellten Frage abgewichen, der Nordost hat sie mitgerissen. - Alle außer Natalija lachen. � Also wann hat man sie das letzte Mal hier eingeliefert?

GUREVIČ Ich erinnere mich nicht... mehr genau... Auch nicht an die Winde... Ich erinnere mich nur: an diesem Tage hatte der Scheich von Kuweit, Abdallah-as-Salam-as-Sabach, eine neue Regierung ernannt mit Prinz Sabach-as-Salam-as-Sabach an der Spitze... 84 Tage vor der Sommersonnenwende... Ja, um ganz genau zu sein: an diesem Tage war etwas geschehen, das sich für volle fünf Jahre ins Gedächtnis von Millionen einprägte: die leere Vodkaflasche, die bis dahin - je nach Volumen - 12 oder 17 Kopeken gekostet hatte, kostete von diesem Tage an 20 Kopeken.

DOKTOR bringt die losprustenden Damen durch einen Blick zum Schweigen Sie sind also der Meinung, daß in der Geschichte der Sowjetunion während der letzten fünf Jahre kein bedeutenderes Ereignis stattgefunden hätte?

GUREVIČ Wohl kaum... Ich wüßte nicht, welches ... nein.

DOKTOR Ihr Gedächtnis versagt, und nicht nur das. Letztes Mal war Ihre Diagnose: an Polyneuritis grenzende schwere Alkoholintoxikation ... Diesmal liegt sie komplizierter. Ein halbes Jahr werden Sie wohl bei uns bleiben müssen...

Die Walpurgisnacht 433

GUREVIČ springt auf, auch alle anderen springen auf Ein halbes Jahr!! Bor ja drückt ihn mit geübtem Griff auf den Stuhl zurück.

DOKTOR Wundert Sie das? Sie haben ein sauberes, offen zutageliegendes Syndrom. Unter uns gesagt, sind wir seit geraumer Zeit dazu übergegangen, auch diejenigen zu behandeln, die, oberflächlich gesehen, keinerlei Anzeichen psychischer Zerrüttung aufweisen. Aber wir dürfen nicht übersehen, daß diese Patienten zur Dissimulation fähig sind. Diese Menschen begehen in der Regel bis an ihr Lebensende kei$e asoziale oder verbrecherische Handlung, zeigen nicht das geringste Symptom einer nervlichen Anomalie. Aber gerade dadurch sind sie gefährlich und müssen der Behandlung unterzogen werden. Schon aufgrund ihres inneren Widerstandes gegen soziale Anpassung...

GUREVIČ begeistert Na wunderbar!... Trotz alledem bin ich verliebt In sie, die Medizin, in die Triumphe Des breiten Zugriffs auf uns alle - Spucke ist sie Allen erstaunten Kontinenten in die Augen, In ihre Selbstgenügsamkeit, in ihre Frechheit, In ihren Schweif nochmal und in...

DOKTOR seine Stimme geht in die eines ^Würdenträgers über Über diese Jamben, dachte ich, hätten wir schon vor längerem Einigkeit erzielt. Ich habe einige Erfahrung, und ich verspreche Ihnen: die Jamben werden Ihnen hier binnen einer Woche vergehen. Und auch all Ihre Sarkasmen. In ein-zwei Wochen werden Sie sprechen wie ein Mensch und ganz normale Dinge sagen. Sie sind ein wenig auch Dichter?

GUREVIČ Wird man bei Ihnen auch davon geheilt?

DOKTOR Aber warum denn so? Und - wer ist Ihr Vorbild? Wer ist Ihr Lieblingsdichter?

GUREVIČ Martynov natürlich...

DOKTOR Leonid Martynov?

GUREVIČ Nein, Nikolaj Martynov... Und Georges d'Antes.

NATHALIE nutzt die allgemeine Unruhe Also d'Antes schreibst du jetzt ab?

434 Venedikt Erofeev

GUREVIČ Nein-nein, früher habe ich auf meine eigene Art geschrieben, aber mit der ist Schluß. Vor vier Wochen noch habe ich zehn Gedichte pro Tag fabriziert - davon waren in der Regel neun unvergeßlich, fünf-sechs waren epochal und zwei-drei unsterblich... Aber heute - nein. Zur Zeit improvisiere ich ä la Nekrasov. Wollen Sie eins hören über den Sozwettbewerb? Oder geht auch das nicht? DOKTOR Warum nicht? Sozwettbewerb ist doch... GUREVIČ Ich mache es kurz. Sieben Bauern kommen zusammen und streiten, wieviel Eier man aus einer Leghenne herauspressen kann. Die Leute vom Bezirkszentrum und die Hähne selbstverständlich ahnen nichts Böses. Um sie herum eine Menge Grünfutter für Silo, Schweinemast, Wimpel - und die Bauern legen los:

Roman sagte: 170,

Demjan sagte: 180,

Luka sagte: 500.

Zweitausendeinhundertsiebzig, -

sagten die Gebrüder Gubin,

Ivan und Mitrodar.

Der alte Pachom schlug die Augen nieder

Und sagte, den Blick auf den Boden gerichtet:

Einhunderteinunddreißigtausendvierhundertvierzehn.

Da sagte Prov: eine Mulljon. Soll ich weitermachen?

DOKTOR winkt ab Nein, das genügt... Boris Anatolijevič, Natalija Alekseevna, bringen Sie den Patienten bitte auf Krankensaal Nr. 4. Und unverzüglich in die Badewanne. Zu Gurevič. Wasserscheu sind Sie hoffentlich noch nicht? GUREVIČ Nicht daß ich wüßte. Außer, daß sich für mich mit der Badewanne eine Menge blutiger Assoziationen verbindet. Eben jenen König von Mykenae, Agamemnon, den ich vorhin erwähnte - haben sie bei seiner Rückkehr aus Pergamon in der Badewanne mit dem Beil erschlagen. Und der große Revolutionstribun Marat...

LUCY hört nicht zu, an den Arzt gewandt Aber warum denn auf Vier? Dort sind nur stinkende Proleten... Dort siecht er

Die Walpurgisnacht 43 5

dahin und kommt auf suizidale Gedanken. Meines Erachtens gehört er auf Drei. Da sind Prochorov, Eremin, die bringen ihn auf Trab...

DOKTOR »Suizidale Gedanken«, sagen Sie... Z# Gurevič. Noch eine letzte Frage. Hatten Sie jemals, und sei es im tiefsten Inneren, den Gedanken, sich selbst auszulöschen?... oder einen Ihrer Nächsten?... Denn Krankensaal Nr. 4 ist nicht Nr. 3, da müssen wir aufpassen ...

GUREVIČ Hand aufs Herz, ich habe schon einmal einen Menschen ins Jenseits befördert - damals war ich... ich weiß nicht mehr, wie alt, noch klein, aber es geschah drei Tage vor Neumond... am ekelhaftesten war mir damals mein glatzköpfiger Onkel, ein Verehrer von Lazar Kaganovič, schlüpfrigen Witzen und Hühnerbouillon. Und mir hatte mein blondgelockter Freund Edik Gift besorgt, von dem er sagte, es sei nicht nachweisbar und habe verzögerte Wirkung. Ich habe es meinem Onkel in die Hühnerbouillon geschüttet - und was meinen Sie? Genau 26 Jahre später ist er unter schrecklichen Qualen verreckt...

DOKTOR Hmja... Zum Kuckuck mit Ihrem Onkel. Aber gegen sich selbst haben Sie noch nie die Hand erheben wollen?

GUREVIČ Doch, und zwar erst vorgestern, als die Überschwemmung kam...

DOKTOR Die Sintflut?

GUREVIČ Ach was, Sintflut. Angefangen hat alles mit wolken-bruchartigen Regenfällen in Orechovo-Zuevo... Bei uns in Rußland hat es in letzter Zeit viele merkwürdige lokale Katastrophen gegeben, in der Gegend von Kostroma sind am hellichten Tag Brustkinder, Bulldozer und alles mögliche zum Himmel aufgefahren. Und niemand wundert sich mehr darüber. Ähnlich war es in Orechovo-Zuevo: die Regen peitschten sieben Tage und sieben Nächte, mitleidslos und ohne Unterlaß, und die Erde versank, gemeinsam mit den Himmeln des Himmels...

DOKTOR Und wer, zum Teufel, hat Sie nach Orechovo-Zuevo verschleppt?! Sie, einen Kaufhausdetektiv?...

436 Venedikt Erofeev

GUREVIČ

O Dasein eines Detektivs bis an das Grab!

Er mußte überall sein Brot verdienen:

Als Konformist, Nonkonformist,

Als Usurpator. Als Anthropophage

Im Dienste Japans als Spion,

Am Institut der Ewigen Abscheulichkeit... Kurz, als die Elemente über der Stadt zusammenschlugen, hatte ich ein Boot bei mir mit zwölf eingeborenen Ruderern. Außer uns war nichts und niemand mehr auf der Wasseroberfläche ... Und da, ich weiß nicht am wievielten Tage unserer Irrfahrt und nach wievielen Nächten vor der Sonnenwende -sank das Wasser, und aus dem Wasser tauchte die Nadel des Stadtkomitees des Komsomol... Wir machten daran fest... Aber welch ein Anblick sich uns bot: die totale Verwüstung der Herzen, Schreie aus dem Inneren der eingedrückten Häuser... Da beschloß ich, ein für alle Male, Schluß mit mir zu machen, und wollte mich in die Nadel des Stadtkomitees stürzen...

DOKTOR faßt sich an den Kopf, gibt Boris und Nathalie einen Wink, den Patienten auf schnellstem Wege in den Krankensaal abzuführen.

GUREVIČ Augenblick noch, Kinder!... Und als meine Kehle schon über der Spitze des Stadtkomitees hing, die Spitze des Stadtkomitees unter meiner Kehle, - da hat mir ein Freund aus dem Boot, einer der Ruderer, um mich aufzuheitern und von meiner seelischen Umnachtung abzulenken, ein Rätsel aufgegeben: »Zwei Ferkel laufen in einer Stunde acht Verst. Wieviele Ferkel laufen in einer Stunde eine Verst?« Da begriff ich, daß ich den Verstand verliere. Und so bin ich hier. Er erhebt sich von dem Stuhl. Übertrieben höflich ist ihm dabei Borja behilflich. Und seit diesem Tag die Geistesverwirrung... Nacht und Nebel... ich bringe alles durcheinander, Kälber, Ferkel, den Mamaj-Hügel, Malachov-Hügel... »NATHALIE Ist dir nicht schwindlig, Lev? Geh langsam, schön langsam... Nathalie führt ihn am linken, Borja am rechten Arm. Das geht alles gleich vorbei, wir bringen dich zu Bett...

Die Walpurgisnacht 437

GUREVIČ gebt gehorsam, ergeben Und trotzdem bringe ich alles durcheinander, Kälber, Ferkel, Hügel... Henry Ford und Ernest Rutherford... Rembrandt und Willy Brandt...

DOKTOR ruft ihnen nach Krankensaal Drei. Glykose, Pyra-cetam.

GUREVIČ entfernt sich mit seinen Begleitern, seine Stimme immer gedämpfter Upton Sinclair und Sinclair Lewis, Sinclair Lewis und Lewis Carroll, Vera Mareckaja und Maja Pljasecka-ja, Jacques Offenbach und Ludwig Feuerbach... Kaum mehr hörbar. Viktor Bokov und Vladimir Nabokov... Enrico Caruso und Robinson Crusoe...

Vorhang

losifBrodskij Marmor

Zweites Jahrhundert nach unserer Ära.

Die Zelle von Publius und Tullius: ein idealer Raum für zwei: ein Mittelding zwischen einem Einzimmer--Appartement und der Kabine eines Raumschiffs. Die Einrichtung: eher Palladio als Piranesi. Der Blick aus dem Fenster muß den Eindruck von beträchtlicher Höhe vermitteln (sagen wir, vorüberziehende Wolken), denn das Gefängnis befindet sich in einem riesenhaften stählernen Turm von etwa einem Kilometer Höhe. Das Fenster ist entweder rund wie ein Bullauge oder hat abgerundete Ecken wie ein Fernseh schirm.

PUBLIUS Vielleicht ist die Freiheit gar nicht besser als der Turm, wer weiß ... ich erinnere mich nicht... Aber Freiheit ist eine Variation auf das Thema des Todes. Auf das Thema des Ortes, an dem er eintritt. Anders gesagt, auf das Thema des Sargs... Und das hier ist schon der Sarg. Ungewiß ist nur - das Wann. Das Wo ist klar. Und diese Klarheit, Tullius, macht mir Angst. Die einen ängstigt die Ungewißheit. Mich - die Klarheit.

TULLIUS Was hast du nur gegen diese Räumlichkeit... Schön, sie haben etwas übertrieben mit den versteckten Kameras... Aber das verstärkt nur die Ähnlichkeit mit der Freiheit ... Wer weiß, vielleicht hast du ja auch recht. Vielleicht spielen sie uns das Ganze wirklich nur vor. In Aufzeichnung. Gut möglich, das alles nur etwas Künstliches ist. Wäre es die Realität, die würde nie so starke Emotionen auslösen.

PUBLIUS Hier werde ich sterben - egal, ob es Realität ist oder künstlich...

440 losif Brodskij

TULLIUS Das ist der Nachteil des Raumes, Publius... Der wichtigste, würde ich sagen... Daß es in ihm einen Punkt gibt, an dem wir zu existiren aufhören... Ich denke, deshalb wird ihm so viel Aufmerksamkeit geschenkt.

PUBLIUS Die Zeit hat solche Punkte aber auch. Mehr als genug...

TULLIUS in belehrendem Tonfall Die Zeit, Publius, hat alles, nur nicht das. Besonders, seit die Zahlen und Daten abgeschafft worden sind... Raum dagegen... kann jeder Punkt werden... Darum wird er auch so häufig gemalt. Alle diese Landschaften. Studien nach der Natur. Das reine Unterbewußte ... Mit der Zeit funktioniert diese Nummer nicht... Es sei denn ein Porträt, oder Stilleben...

PUBLIUS Dir ist also egal - wo?

TULLIUS Mir ist egal wo, mir ist auch egal wann.

PUBLIUS Tja, die römischen Tugenden! Standhaftigkeit der Patrizier! Mucius Scaevola! Die Hände im Feuer! Wenn dir egal ist, wo und wann, was interessiert dich dann? Das Wie?

TULLIUS Mich interessiert - das Wieviel.

PUBLIUS Wieviel-was?

TULLIUS Wieviele Stunden Wachsein das für den Computer benötigte Minimum darstellen, um meine Existenz als Sein zu bestimmen. Ich meine, daß ich am Leben bin. Und wieviele Tabletten ich auf einmal nehmen muß, um dieses Minimum zu gewährleisten.

PUBLIUS - ???

TULLIUS Versteh mich nicht falsch. Es geht nicht darum, daß ich es leid wäre, mich mit dir zu unterhalten. Obwohl - manchmal schon. Auch nicht darum, daß ich die ganze Nacht nicht geschlafen habe. Was ebenfalls stimmt. Ich möchte mich nur tatsächlich der Zeit anpassen. Das heißt, ihrem Rhythmus. Da ich kein Dichter bin, der einen neuen schaffen könnte... Das einzige, was ich möchte, ist - mein Dasein ein bißchen monotoner zu gestalten. Weniger melodramatisch. Mehr auf den Zuschauer abgestellt... Grob gesagt - mehr zu schlafen. Acht Stunden Schlaf, sechzehn Wachsein: diese Version der Zeit kenne ich. Vielleicht ist es möglich, das umzudrehen.

Marmor 441

PUBLIUS bestürzt über das Gehörte Wie meinst du das?!

TULLIUS Na, sechzehn Stunden Schlaf und acht Wachsein. Oder achtzehn Stunden Schlaf, und sechs Wachsein. Je kürzer das Wachsein, desto mehr Schlaf - und desto interessanter die Version der Zeit. Der Raum, Publius, weißt du, ist immer gleich - horizontal. Die Zeit dagegen... Ich habe schon so manches ausprobiert. Zum Beispiel tagsüber schlafen und nachts nicht. Oder drei Tage und Nächte hintereinander wachbleiben und umgekehrt. Aber erstens verbraucht man, unter den hiesigen Bedingungen - er nickt zum Fenster -, zusätzlich Energie zur Bestimmung von Tag und Nacht. Und vierundzwanzig Stunden kann man nicht so einfach messen. Zweitens - und das beunruhigt mich am meisten - gibt es ein bestimmtes Minimum an Wachzustand, bei dessen Unterschreitung der Computer die NahrungsVersorgung einstellt. Dann müßte ich zu dir betteln kommen. Essen gegen ein paar Schlaftabletten tauschen. Und der ganze Plan wäre im Eimer. Ganz zu schweigen davon, daß wir in Verhältnisse eintreten würden, die Tiberius bei der Organisation dieses Turms nicht vorgesehen hatte und die uns höchstwahrscheinlich selber unangenehm wären...

PUBLIUS schnell Was meinst du mit »unangenehm« ?

TULLIUS Nun, Tauschgeschäfte, Diebstahl, Verdächtigungen, Denunziationen beim Praetor... du hast doch in Rom gelebt ... Und bis ich dem Praetor erklärt habe, worum es geht, und bis er sich entschlossen hat, mir zu glauben...

PUBLIUS Vielleicht frage ich den Praetor, wieviele Tabletten er dir geben kann?

TULLIUS Auf keinen Fall! Im Flüsterton, den Zeigefinger an die Lippen gelegt. Ich habe keinen Anspruch mehr auf Schlaftabletten. Ich habe meine Ration schon letzten Monat aufgebraucht ... Nein, niemand darf es wissen... Das ist ein Geheimnis... Wenn sich ein Dichter beruflich für die Zeit interessiert, dann ich aus Liebhaberei. Und Liebhaber handeln intuitiv... Du, zum Beispiel, wieviel nimmst du für die Nacht?

PUBLIUS Zwei, zweieinhalb. Drei.

442 losif Brodskij

TULLIUS Also - drei Tabletten sind acht Stunden Schlaf. Sechzehn Stunden sind demnach sechs Tabletten. Merken wir uns: sechzehn gleich sechs. Das heißt, sechs gleich sechzehn. Angenommen, wir brauchten siebzehn Stunden. Um auf siebzehn zu kommen, erhöhen wir die Dosis von sechs auf -wieviel? Stop. Wir teilen sechzehn durch sechs. Das heißt, Stunden durch Tabletten. Das ergibt... Stop. Quatsch. Wir teilen Tabletten durch Stunden. Sechs durch sechzehn. Und erhalten eine Bruchzahl. Publius, kannst du dem Gedankengang folgen?

PUBLIUS Mit neidvollem Entzücken.

TULLIUS Warte, es geht noch weiter. Also eine Bruchzahl plus... Bin schon wieder durcheinander. Aber selbst wenn wir mit ganzen Zahlen operieren, ergibt das: eine Tablette entspricht vier Stunden Schlaf. Das heißt, wenn wir 17 Stunden lang die Wanzen plattdrücken wollen, brauchen wir... brauchen wir... sechs Stück und ein Schwänzchen... So daß wir... - unsicher - wir brauchen...

PUBLIUS Wozu brauchst du Zeit? Hast du noch nicht genug? Wir haben lebenslänglich.

TULLIUS Das ist es ja, Freund Publius. Lebenslänglich geht allmählich in todesähnlich über. Und wenn das so ist, geht das auch umgekehrt... Ich meine, es gibt schon zu Lebzeiten die Möglichkeit zu erfahren, wie es dort drüben aussieht... Auch ein Römer darf sich solch eine Chance nicht entgehen lassen.

PUBLIUS Über den Zaun schauen willst du?

TULLIUS schreit beinahe Aber die Zeit schaut doch dauernd herüber!...

PUBLIUS Spionieren. Durchs Schlüsselloch... Spanner.

TULLIUS In gewissem Sinne ja. Aber ohne zu schauen. Mit geschlossenen Augen. In horizontaler Lage.

PUBLIUS Als wir mit unserer Kohorte in Gallien standen...

TULLIUS Publius! Ich flehe dich an! Bei allem, was dir heilig ist...

PUBLIUS ... habe ich einen Griechen gekannt. Guter Geschäftsmann. Immobilienhändler. Und der hatte ein Haus. Sechzehn oder siebzehn Stockwerke - ich weiß nicht mehr. In

Marmor 443

dem wohnten ganz normale Familien. Mann, Frau, ein Kind. Und was hat die Bestie sich einfallen lassen? Hat ihnen statt Glühbirnen Miniaturkameras eingeschraubt. Für drei Sester-zen konnte man eine ganze Stunde Familienleben beobachten. Also die Kopulation. Und der Witz bestand darin, daß sie es an dem Tag einmal auch nicht treiben konnten... Dann waren deine Sesterzen durch den Schornstein. Aber sie konnten es auch ganz wild treiben...

TULLIUS Warum erzählst du mir das?

PUBLIUS Die Leute haben Schlange gestanden! Weil, da gabs das Moment der Ungewißheit. Du weißt, wie einen das heiß macht! Vor allem, wenn das Kind klein ist... Und sie es erst schlafen legen... Und es dann mittendrin aufwacht... und anfängt zu quäken. Ha!... Und sie, heiß, auf gegeilt wie eine Katze, rutscht vom Bett und schiebt ab ins Kinderzimmer... Dann auch noch blond... Dann kommt sie wieder, und das Ding von dem Alten...

TULLIUS Hör auf, habe ich gesagt!

PUBLIUS Hat sich dumm und dämlich verdient, dieser Grieche. Hat später eine ganze Kette aufgemacht. »Argus & Co.« hat sie geheißen. Nie gehört?

TULLIUS Nein.

PUBLIUS Du bist also von selber drauf gekommen.

TULLIUS zählt die Tabletten in dem Röhrchen In der guten alten Zeit, Publius, hat man Menschen wie dir die Zunge rausgerissen, die Ohren abgeschnitten und die Augen ausgestochen. Oder die Haut bei lebendigem Leib abgezogen. Oder kastriert ... Vielleicht ertrage ich das alles überhaupt nur, weil jemanden zu bestrafen, der bereits bestraft ist - erstens durch die Zelle, zweitens durch galoppierende Gehirnerweichung, -tautologisch wäre. Theater auf dem Theater.

PUBLIUS Ach könntest du doch in weiche Hundescheiße treten ... Er legt die Hand auf den Bauch. Bald Essenszeit.

TULLIUS Ich lege mich hin. Hab immerhin letzte Nacht nicht geschlafen. Er zählt die Tabletten ab. Schlafen, schlafen... Friß mir mein Essen nicht ganz weg, ja... Was haben wir heute?... Taubenleberpastete und... Forelle auf Storchen-

444 losif Brodskij

eiern... Tja, endlich einmal Fisch... Laß mir wenigstens die Eier übrig... als Frühstück... Zur Sicherheit nehme ich -schüttet sie sich auf die Hand - acht. Schenkt Wein in sein Glas; schluckt die Tabletten und trinkt nach.

PUBLIUS Geh nicht weg, warte... Und was soll ich - tun? Sechzehn Stunden lang?

TULLIUS Siebzehn.

PUBLIUS Noch länger! Hast du mal an mich gedacht? Egoist! Patrizier! Ihr seid doch alle gleich! Deshalb kann euch auch niemand ausstehn... Und was soll ich tun? Ich kann dir gestohlen bleiben, ja?

TULLIUS Laß das Gebrüll! Sieh ein bißchen fern. Hör Musik. Dann ist Spaziergang. Die Bücher... Da, lies diese Klassiker ... Ein Klassiker liest sich angenehmer, wenn man weiß, wie er ausgesehen hat...

PUBLIUS Und mit wem soll ich mich unterhalten?! Selbstgespräche führen, ja? Aber ich... Siebzehn Stunden. Allein. Das ist doch zum Verrücktwerden... Das halte ich nicht aus...

TULLIUS Was ist da schon auszuhalten, wovon redest du... Er gähnt. Im Gegenteil - ich lasse dich in Ruhe... Gähnt. Und wenn ich aufwache, erzähle ich dir, was ich gesehen habe... von der Zeit... was sie dort drüben für Filme zeigen... Er gähnt.

PUBLIUS Hör auf zu gähnen!... Er packt Tulius an dem Saum der Toga. Warte!... leg dich noch nicht hin... Wie kannst du ... - erfaßt sich an den Kopf- mich allein, in diesem Pi-Er-Quadrat... als Punkt, um den der Zirkel geschlagen wird... Was machst du bloß, du Schuft... Ich bin doch auch ein Mensch... Hör auf zu gähnen!!! Oh, mir springt gleich der Kopf. Was ist - verstehst du nicht?!..,

TULLIUS gähnt mit weit offenem Mund Ein Mensch, Publius ... Ein Mensch - er gähnt wieder � ein Mensch, was ist Besonderes daran... Er gähnt. Dreh dich um.

PUBLIUS Wieso?

TULLIUS Ich muß die Schlaftabletten verstecken. Und mich umziehen.

Marmor 445

PUBLIUS dreht sich um Ich hätte sie sowieso nicht genommen... Mach nicht so lang.

TULLIUS gähnend Sof... sof... Er versteckt die Tabletten im Käfig das Kanarienvogels. Sofort, sofort. Er geht in seinen Alkoven zurück. Ah - er gähnt - aber wo ist meine Toga?... die wollene...

PUBLIUS dreht sich um Nimm lieber die weiße.

TULLIUS Man hat dich gebeten, dich umzudrehen. Ich ziehe mich um...

PUBLIUS Ich habe doch nur... ganz kurz gespickt... Warum nimmst du die? Nimm die weiße.

TULLIUS beinahe nackt,, gähnt Nein, lieber die graue... sieht der Zeit ähnlicher. Denn die, Publius - er gähnt - ist grau... wie der Himmel im Norden... oder die Wellen dort... Er gähnt; breitet die Toga weit aus. Siehst du?... So sieht die Zeit aus ... oder - er faltet zwei Hälften zusammen - so... Oder -er faltet sich noch anders - so ... Ein grauer Lappen. Er hüllt sich in die Toga und legt sich hin.

Pause.

PUBLIUS Wie kannst du nur. Und ich weiß nicht mal, wieviel Zeit vergeht. Wo sie doch auch die Sanduhren abgeschafft haben.

TULLIUS Nur nicht nervös werden. Ich wache von alleine auf. Wenn die siebzehn Stunden um sind. Er gähnt. Das heißt für dich, siebzehn Stunden sind vergangen... wenn ich aufwache ...

PUBLIUS Wie kannst du nur...

Pause.

TULLIUS Publius!

PUBLIUS Ja?

TULLIUS Tu mir einen Gefallen.

PUBLIUS Was?

TULLIUS Rück Horaz ein bißchen näher zu mir.

446 losif Brodskij

Publius ruckt die Büste naher.

TULLIUS Jaha. Danke. Und Oo ... - er gähnt - Ovid auch.

PUBLIUS rückt die Ovidbüste näher So?

TULLIUS Jaha... noch ein bißchen...

PUBLIUS So?

TULLIUS Noch näher...

PUBLIUS Klassiker... Ein Klassiker steht dir näher als der

einfache Mensch... TULLIUS gähnt Als wer? PUBLIUS Als der einfache Mensch... TULLIUS Was?... Der Mensch... Der Mensch, Publius...

er gähnt � der Mensch ist einsam... Er gähnt erneut. Wie ein

Gedanke, den man vergißt.

Vorhang

Dmitrij Prigov

Ich spiel auf der Harmonika

Stück mit Gesang und Publikumsbeschimpfung

Personen :

VASJA

PETJA

KOLJA

3 Polizisten und der Zuschauerraum

Der 'Zuschauer betritt den Saal und findet,, daß auf der Bühne -bei geöffnetem Vorhang und der Abwesenheit jeglicher Dekorationen, was bekräftigt, daß all das kein erfundener Ort, sondern einzig und allein die Bühne ist - jemand liegt und schläft. Der Zuschauer macht es sich auf seinem Sitz bequem und wartet. Schließlich erhebt sich der, der auf der Vorderbühne liegt, räkelt und streckt sich, als wache er auf. Er heißt Vasja. Der Name paßt zu ihm. Er ist jung, schlank, aber gut genährt. Er weiß ebenfalls, daß er sich im Theater befindet und nicht in einem imaginären Raum.

VASJA räkelt sich Mich hat was gebissen. Mich hat was gebissen. Kratzt sich. Schautauf dem Boden herum, sucht nach dem, was ihn gebissen haben könnte. Da läuft es. Ein Skorpion. Er holt ein Messer aus der Tasche, ein selbstgemachtes, aber schön und groß. Versucht mit dem Messer, das Insekt zu treffen. Zack! Daneben! Flink, das Aas. Ein Skorpion. Hopp! Aus! Mitten durch. Und der Kopf ist in den Saal geflogen. Hebt das Messer mit dem Körperrest des Insekts hoch. Zappelt noch. Ja ja, ein Skorpion. Giftig. Aber wo ist der Kopf? Schaut in den Saal, wohin der Kopf geflogen ist. Entdeckt ihn. Da! Will sich

448 Dmitrij Prigov

verpissen, das Aas! Zieht einen Stiefel aus, zielt und wirft ihn in den Saal. Einen Augenblick lang ist unklar, ob er getroffen hat oder nicht. Er schaut. Scheiße, vorbei. In den Saal. Eh, gib mir den Stiefel rauf. Jemand gibt ihn ihm. Er reißt den Stiefel an sich, ohne denjenigen, der ihn ihm gibt, eines Blickes zu würdigen, stellt ihn neben sich und beobachtet aufmerksam den Kopf des Insekts. Tja! Das erste Mal muß man treffen. Aber warte. Er zieht den anderen Stiefel aus, zielt lange, wirft. Da-aa. Habt ihr gesehen? Treffer! Habt ihr gesehn? Treffer. Eh, gib mir den Stiefel! Dich meine ich, gib mir den Stiefel! Jemand gibt ihn ihm, er reißt ihn ihm aus den Händen. So. Betrachtet wieder die Spitze seines Messers. Und der zappelt immer noch. Lebt noch, das Aas. Kann nur nicht mehr beißen. Der Skorpion. Giftig. Das Aas. Fängt an zu singen, man errät die Melodie: »Ich spiel auf der Harmonika...« In den Saal. Los, mitsingen. Eh! Alle. Ich spiel auf der Harmonika! Los!

In diesem Augenblick erscheinen seine beiden Freunde, Kolja und Petja. Kolja ist groß, Petja klein, aber sichtlich bösartig. Vasja sieht sie und vergißt den Saal.

KOLJA Eh, Vasja. PETJA Eh, Vasja.

Vasja schweigt, aber man sieht, daß er den Gruß der Freunde hört. Er schweigt, um es spannend zu machen.

KOLJA Guter Platz hier. Schaut sich wie ein Fremder um. Die Bretter eben, wie ein Tisch. Hockt sich hin, streicht mit der Hand über die Bretter. Kann man drauf spielen, und trinken.

VASJA Eh, hallo. Kommt her. Kolja rückt sitzend näher, Petja setzt sich ebenfalls.

PETJA unterbricht Alles klargegangen gestern, wie immer. Weißen für uns, roten für die Weiber, und ab in die Hütte. Eine kriegte Schiß, hat sich verpissen wollen. Der hab ich... Da hat sie gespurt.

Ich spiel auf der Harmonika 449

Schweigen. Vasja schaut Kolja lange und aufmerksam an. Dem fällt es plötzlich ein.

KOLJA Ist ja gut, Vasja. Zieht eine Flasche und drei Gläser aus den riesigen Taschen seines langen und überhängenden Jak-ketts. Öffnet die Flasche, stellt die Gläser auf, schenkt ein, indem er sich langmacht, fast über den Bühnenboden kriecht -achtet, daß er gerecht verteilt. Vasja bekommt ein bißchen mehr. Sie trinken. Sitzen, schweigend. Also gehn wir, oder? Schaut Vasja an.

VASJA Ist noch zu früh.

PETJA Bleiben wir eben noch hier. Er flezt sich auf den Boden, schnippt mit dem Zeigefinger etwas weg.

VASJA singt Ich spiel auf der Harmonika... Ihm fällt der Saal wieder ein. Mitsingen, alle. Steht auf und rudert schwerfällig mit den Armen - er dirigiert. Ich spiel auf der Harmonika... Na! Ich spiel auf der Harmonika! Schlecht! Rudert energischer. Nochmal! Ich spiel auf der Harmonika und alle schauen zu... Der Saal fällt leise ein. Nochmal. Alle zusammen. Ich spiel auf der Harmonika. Und alle schauen zu! Bleibt vor einem Zuschauer in der ersten Reihe stehen. Warum singst du nicht?

ZUSCHAUER leicht irritiert, aber stolz Ich... ich... Und wieso? Warum ich?

VASJA Warum singst du nicht mit, du Drecksack?

KOLJA faßt Vasja unschlüssig am Ärmel Vasja, laß ihn.

VASJA schlägt Kolja, ohne sich nach ihm umzudrehen, jäh auf die Hand, der läßt Vasjas Ärmel los. Vasja weiter in drohendem Ton zu dem Zuschauer. Warum singst du nicht mit, Drecksack? Warum du nicht mitsingst, will ich wissen. Er springt von der Bühne und nähen sich mit unangenehmem, aber schönem federnden Gang langsam dem Zuschauer, beugt sich direkt über dessen Gesicht. Warum singst du nicht mit, frage ich!

ZUSCHAUER fährt zurück und drückt sich gegen die Sessellehne, die ihn am weiteren Zurückweichen hindert, spricht mit einem Rest von Stolz Ich? Ich? Nichts. Wieso?

450 Dmitrij Prigov

VASJA hebt langsam den linken Arm, hebt ihn bis Höhe der N äse des "Zuschauers, der mit einem Stöhnen verstummt Warum singst du nicht, wenn alle singen, Drecksack?

ZUSCHAUER schreit Was wollen Sie von mir? Dazu haben Sie kein Recht!

VASJA packt ihn an der Brust, der Zuschauer sackt in sich zusammen; zu Petja und Kolja Eh, kommt mal her. Petja und Kolja springen augenblicklich von der Bühne und helfen ihm, den Zuschauer auf die Bühne zu zerren.

ZUSCHAUER Hilfe! Hilfe!

VASJA äfft ihn nach Hilfe! Hilfe! In den Saal. Na?

ZUSCHAUER Hilfe! Hilfe.

Sie zerren ihn auf die Bühne. Schleppen ihn zur Bühnenmitte. Drehen ihn mit dem Gesicht zum Publikum. Petja und Kolja halten ihn an den ausgestreckten Armen fest.

VASJA geht auf den Zuschauer zu und beugt sich über dessen Gesicht Warum singst du nicht? Kannst du nicht singen? Was ist, hast du was gegen mich?

ZUSCHAUER in einem neuerlichen Anfall von Mut Dazu haben Sie kein Recht!

VASJA schlägt zu, der Zuschauer krümmt sich, richtet sich nach einer Weile wieder auf Und nun?

ZUSCHAUER Ich ich...

VASJA greift dem Zuschauer in die Jackentasche. Findet dort eine rote Ausweiskarte, schaut sie sich näher an und kommt damit an die Rampe Aha, wissenschaftliche Hilfskraft. Hilfskraft, soso. Und eine Visage! Guckt euch mal die Visage an! Er lacht. Oj, ich kann nicht mehr! Zu Petja und Kolja. Eh, kommt mal her!

Petja und Kolja lassen den Zuschauer los und gehen zu Vasja. Der Zuschauer will die Arme sinken lassen, doch Petja dreht sich um, . worauf der Zuschauer die Arme sofort wieder hebt. Petja, Kolja und Vasja schauen sich das Photo an und lachen.

Ich spiel auf der Harmonika 451

PETJA Oj, ich kann nicht mehr! Diese Visage!

KOLJA Oj, so eine Visage! Lacht kehlig. Hy-hy!

ALLE lachen zusammen Ha-ha-ha!

VASJA zeigt das Photo ins Publikum Sowas Komisches! Warum lacht ihr nicht? Beugt sich zur ersten Reihe vor und geht die ganze Bühnenbreite ab. Warum lacht ihr nicht? Ist das nicht komisch? Die ersten Reihen fangen an zu lachen. Dann lacht der ganze Saal. Na also. Die lachen über dich, Hilfskraft. Ja. Er hebt vom Boden das Messer mit dem aufgespießten Insekt auf, geht auf den Zuschauer zu. Hält ihm das Messer mitten ins Gesicht. Da, sieh mal! Schaus dir genau an. Ist das ein Skorpion? Ja? Schau mal, er zappelt noch mit den Beinchen. Der Kopf ist weg, in den Saal geflogen. Ist das ein Skorpion?

Ja?

ZUSCHAUER Ich... ich weiß nicht. Ich... Ich bin Hydrodynamiker.

VASJA Was? Ich habe dich was gefragt! Ist das ein Skorpion?

ZUSCHAUER stotterndy durcheinander Ich bin Hydro... Aber soviel ich weiß, gibt es diese Art Säuge...

VASJA Was?

ZUSCHAUER ... Insekten nur in südlichen... in unseren Breiten...

VASJA schlägt zu, Petja und Kolja halten den Zuschauer,, damit er nicht zu Boden geht Ich sage, das ist ein Skorpion.

ZUSCHAUER Wenn Sie darauf bestehen...

VASJA Ist das ein Skorpion?

ZUSCHAUER Wenn Sie... ja, ein Skorpion.

VASJA Und wovon lebt ein Skorpion ?

ZUSCHAUER Ich... ich weiß es nicht.

VASJA Ah, das weißt du nicht. Aber ich weiß es.

Er beginnt, dem Zuschauer die Reste des Insekts in den Mund zu stopfen. Der Zuschauer wehrt sich. Petja und Kolja lassen seine Arme los und helfen Vasja. In diesem Augenblick reißt sich der Zuschauer, niemand weiß wie, los und flüchtet durch den Saal zum Ausgang. Vasja, Petja und Kolja stürzen ihm fluchend nach. Der Zuschauer entkommt.

452 Dmitrij Prigov

VASJA Ist entwischt, der Drecksack. Macht nichts. Schon gut. Kommt, singen wir was. Ich spiel auf der Harmonika... In den Saal. Alle mitsingen. Eins, zwei - los! Ich spiel auf der Harmonika...

Petja und Kolja gehen durch die Zuschauerreihen und beobachten aufmerksam die Zuschauer, mal mit aufmunternden, mal mit drohenden Gesten. Die Zuschauer fallen eilig in den Gesang

VASJA Nochmal. Alle zusammen. Ich spiel auf der Harmonika

und alle schauen zu. Oh, was für eine hübsche Braut. Wir

müssen uns kennenlernen. Ich heiße Vasja. Und er Petja.

Warum singen Sie nicht mit? Gefällt Ihnen das Lied nicht? Er

packt das Mädchen an der Hand. MÄDCHEN entreißt ihm die Hand Lassen Sie mich! VASJA Gefalle ich Ihnen nicht? Er packt sie wieder an der Hand,

sie will sich erneut losreißen, aber es gelingt ihr nicht, Vasja ist

stark, Petja, ich gefalle ihr nicht. Und gefalle ich dir? PETJA kommt näher, desgleichen Kolja Sehr sogar. VASJA zu dem Mädchen, das sich windet und versucht, sich aus

den Armen von Petja und Kolja loszureißen Sehen Sie, er sagt

die Wahrheit.

MÄDCHEN Loslassen! Hilfe! Bürger, helfen Sie mir! VASJA Na, was ist, Bürger? PETJA Na, was ist, Bürger? KOLJA lacht Hy-hy-hy. MÄDCHEN Hilfe! Hilfe! VASJA zerrt das Mädchen mit Hilfe von Petja und Kolja vor zur

Bühne Was ist, Bürger? So ein hübsches Mädchen. Und

ihr?

Jemand aus dem Saal will aufstehen, um dem Mädchen zu Hilfe zu kommen. Petja holt zum Schlag gegen ihn aus. Der Zuschauer setzt sich.

MÄDCHEN Hilfe! Hilfe!

Ich spiel auf der Harmonika 453

Vasja, Petja und Kolja zerren das Mädchen auf die Bühne. Petja und Kolja halten sie den Armen fest. Vasja tritt zur Seite, betrachtet sie von Kopf bis Fuß, gebt zu ihr, faßt sie am Kinn, dreht ihr Gesicht nach links und nach rechts.

VASJA Eine schöne Braut.

MÄDCHEN Hilfe! Hilfe!

VASJA zu Petja und Kolja, mit gespieltem Erstaunen Und warum

gefalle ich ihr nicht? Betrachtet sich selbst. Ich bin doch auch

nicht häßlich. Oder bin ich eine Mißgeburt? PETfA Schön bist du. KOLJA Hy-hy. MÄDCHEN Hilfe! Hilfe! VASJA Dann wollen wir sie mal ausziehen.

Nach kurzem Widerstand haben sie dem Mädchen das Kleid ausgezogen.

MÄDCHEN Hilfe! Hilfe!

VASJA Ach, was für ein hübsches Höschen. Und der Büstenhalter! Kommt näher, schaut sie sich an, berührt sie mit dem Finger. Diese Farbe.

PETJA schaut ebenfalls, berührt sie mit dem Finger Diese Farbe, genau.

KOLJA Und das Gummi. Zieht an dem Gummi.

MÄDCHEN Hilfe! Hilfe!

VASJA Los, weiter. Sie ziehen dem Mädchen Hose und Büstenhalter aus Aha!

PETJA Hi-hi-hi!

KOLJA Hy-hy-hy!

MÄDCHEN Hilfe! Hilfe!

VASJA Und jetzt legt sie um!

Petja und Kolja versuchen, das Mädchen zu Boden zu werfen. In diesem Augenblick, niemand weiß wie, reißt sich das Mädchen los und flüchtet durch den Saal zum Ausgang. Vasja, Petja und Kolja stürzen ihr fluchend nach. Sie entkommt.

454 Dmitrij Prigov

VASJA Ist entwischt, das Aas.

PETJA Sie ist weg.

KOLJA Sie ist weg.

VASJA Auch gut. Er schaut in die Runde, erinnert sich. Macht nichts. Kommt, singen wir was. Ich spiel auf der Harmonika ... In den Saal. Alle zusammen. Eins, zwei - los! Ich spiel auf der Harmonika und alle schauen zu... Nochmal! Zusammen! Ich spiel auf der Harmonika... Der Zuschauerraum singt. Zu einer alten Frau, die seine Aufmerksamkeit erregt. Oma, was ist? Ist was komisch?

ALTE FRAU Ja, Jungchen, es ist komisch.

VASJA Und was findest du komisch?

ALTE FRAU Es ist komisch, Jungchen, einfach komisch.

VASJA Komm mal mit, Oma, gleich wird es noch komischer.

ALTE FRAU Was machst du, Jungchen.

VASJA Nichts, Oma, gar nichts. Erführt sie auf die Bühne. Petja und Kolja halten sie an den Armen fest.

ALTE FRAU Kinder, was macht ihr mit mir?

VASJA Nichts, Oma, nichts. Wir machen nur Spaß. Stört dich dein Kleid nicht? Das haben wir gleich. Sie fangen an, ihr das Kleid auszuziehen.

ALTE FRAU Jungchen, was machst du? Ich bin eine alte Frau.

VASJA Laß nur, Oma, wir helfen dir.

ALTE FRAU fängt am ganzen Körper merkwürdig an zu zucken Oh! Oh! Oh! Oh!

VASJA Oma, gleich ist alles gut.

Die alte Frau zuckt immer stärker und schneller, sackt in sich zusammen und hängt in den Armen von Petja und Kolja.

PETJA Was hat sie? KOLJA Ist sie etwa tot?

VASJA schleicht auf die Alte zu, schaut sie an Doch, genau das. Ist abgekratzt, das Aas. Los, nichts wie weg.

Sie gehen in verschiedene Richtungen, vorsichtig und lautlos. In diesem Augenblick ertönen Trillerpfeifen der Polizei. Alle drei

Ich spiel auf der Harmonika 455

zucken zusammen und ersterben. Sie stehen. Aus drei Ecken, genau denen, in die Vasja, Petja und Kolja hatten verschwinden wollen, erscheinen die 3 Polizisten. Sie sind stramm, groß, in frischen Uniformen. Sie gehen frei, spielerisch, lässig, fast wie im Ballett. Vasja, Petja und Kolja erschrecken und weichen auf Zehenspitzen zur Bühnenmitte zurück, wo noch immer die alte Frau liegt. Sie weichen zurück, die Polizisten rücken unerbittlich und heiter gegen sie vor. Die Polizisten schauen sich fröhlich die Alte an, schauen die Freunde an, schauen in den Zuschauerraum, und das mehrmals. Dann klopfen die Polizisten jeweils dem, der ihnen am nächsten steht, auf die Schulter und lächeln.

1. POLIZIST in den Saal. Das war nur Spaß. VASJA He-he-he.

PETJA Hi-hi-hi. KOLJA Hy-hy-hy.

2. POLIZIST Einfach ein Spaß. Theater, würde ich sagen. VASJA He-he-he.

PETJA Hi-hi-hi. KOLJA Hy-hy.

STIMME Aus DEM SAAL Ein schöner Spaß!

Vasja, Petja und Kolja und die 3 Polizisten zucken zusammen.

1. POLIZIST Wer hat das gesagt? STIMME Ein schöner Spaß!

2. POLIZIST Wer hat das gesagt? VASJA Wer hat das gesagt? PETJA Wer hat das gesagt? KOLJA Wer hat das gesagt?

Die Polizisten gehen in den Saal hinunter und zerren einen Mann aus den Sitzreihen. Der wehrt sich, aber sie zerren ihn auf die Bühne.

ZUSCHAUER Hilfe! Hilfe! VASJA äfft ihn nach Hilfe! Hilfe!

45 6 Dmitrij Prigov

1. POLIZIST Folgen Sie mir! ZUSCHAUER Hilfe! Hilfe!

2. POLIZIST Folgen Sie mir!

Die Polizisten schleppen den Zuschauer hinter die Bühne, von wo aus der Ferne zu hören ist: Hilfe! Hilfe!

VASJA Also schön. Jetzt wollen wir was singen. Ich spiel auf der Harmonika... Alle zusammen. Eins, zwei - los! Ich spiel auf der Harmonika und alle schauen zu... Der Saal singt.

Ende

Vladimir Sorokin Pelmeni

Personen:

IVANOV, NlKOLAJ IVANOVIČ, 61 Jahre, ein fülliger Mann von mittlerem Wuchs, Parkwächter, ehemals Fähnrich

IVANOVA, NATALJA FEDOROVNA, 58 Jahre, Rentnerin, ehemals Arbeiterin in einer Schuhfabrik

Die kleine Küche der Ivanovs: Gasherd, daneben ein niedriger, mit Kasserollen vollgestellter Tisch, daneben der Ausguß, darüber ein Trockengestell für Geschirr, in der Ecke ein kleiner Eisschrank. Inmitten der Küche ein runder Tisch mit einer Wachstuchdecke, auf dem die Ivanova Teig knetet; sie trägt ein Hauskleid, die Ärmel heraufgekrempelt, und Schürze. Neben ihr auf einem Küchenhocker sitzt Ivanov und liest Zeitung. Er trägt ein kariertes Oberhemd, das in die langen Unterhosen gestopft ist, die, ihrerseits, in graue Wollsocken gestopft sind.

IVANOVA knetet schwungvoll den Teig So... und so... und

so...

IVANOV ohne den Blick von der Zeitung zu heben He? IVANOVA Knetet sich - so. IVANOV Ja und?

IVANOVA Na mit Milch eben, so... IVANOV Mit Milch?

IVANOVA Jaha... mit Milch... wird er gut... IVANOV Du machst sie heute mit Milch? IVANOVA Aber ja... IVANOV Schmeckt das besser? IVANOVA Aber ja. Und der Teig wird gut...

458 Vladimir Sorokin

IVANOV raschelt mit der Zeitung Ein Wetter wird das wieder...

IVANOVA Was sie voraussagen?

IVANOV Jaha. Hier... Schneestürme und Verwehungen. Und

nachts 26 Grad. IVANOVA O je. Wir müssen den Kohl reinholen. Sonst erfriert

er.

IVANOV Im Faß? Unsinn. Einen Sack drüber und Schluß. IVANOVA knetet weiter, schüttelt den Kopf Er erfriert. Und

wenn er erst mal Frost gekriegt hat, kannst du ihn mit dem Beil

abhacken...

IVANOV Mach dich nicht verrückt. Ich sage dir, er erfriert nicht. IVANOVA Er erfriert... wenigstens wegrücken sollten wir ihn. IVANOV Richtig. Wegrücken und zudecken. IVANOVA Ja-ja, zudecken, aber Wind kriegt er trotzdem ab... IVANOV Immer mußt du widersprechen! Letzten Winter hat der

Wind ihm nichts gemacht.

IVANOVA Letzten Winter. Aber diesen - wer weiß. IVANOV Diesen kommt er auch durch. IVANOVA Wer weiß, wer weiß... IVANOV Er kommt durch.

IVANOVA So... und so... Immer mußt du streiten... IVANOV schaut in die Zeitung Ha... sie haben sie verurteilt. IVANOVA Wen?

IVANOV Ja, Schmiergelder haben sie genommen. IVANOVA Wer? IVANOV Na... der Direktor des Großmarkts V. P. Sokolov...

und dieser... Augenblick... Gemüsemarktleiter I. I. Aref-

jev.

IVANOVA Sie haben sie verurteilt? IVANOV Verurteilt, ja... Sokolov - acht Jahre, und diesen...

Arefjev zu fünf. Das gesamte Vermögen konfisziert. IVANOVA Ja... das Spiel ist aus... und er bleibt nicht

hängen... IVANOV Das Spiel ist aus. Das hat er nun von seiner Habgier,

der Wichser. IVANOVA lacht Ja. IVANOV Haben sich die Grube gegraben, die Jungs.

Pelmeni 459

IVANOVA Aber es ging ja auch um Geld...

IVANOV Geld mag jeder.

IVANOVA Ist doch klar.

IVANOV Molokanov bei uns mit dem Benzin, genau dasselbe -

eins, zwei und beiseite. Und dann schnapp - und juhu. Die

Raffer, die fallen dann auch rein. IVANOVA Aber Raffer gibts doch heute überall. IVANOV Natürlich.

IVANOVA Jeder rafft, wo es nur geht... Wo es geht, raffen sie. IVANOV Je größer das Maul, desto größer der Hunger. IVANOVA Uuh... und Mäuler haben die... so. Solche Mäuler. IVANOV Da kann man arbeiten, aufpassen wie ein Schießhund -

die stehlen. IVANOVA Sie stehlen und sagen dir noch, wie mans macht...

und am Ende bist du der Dumme. IVANOV Weil die meisten einfach zu dumm sind. Nicht um

Anzeige zu erstatten, sie wissen einfach nicht, wohin sie sich

wenden sollen. IVANOVA Wer erstattet schon Anzeige. Bei wem auch... siehst

du, siehst du, es wird zu viel... da... IVANOV Aber Ordnung muß sein. Überall muß alles so sein, wie

es zu sein hat. Hier dagegen stiehlt jeder, und niemand

kümmert sich darum. IVANOVA Sich drum kümmern... uuh. Wer wollte die schon

verfolgen. IVANOV Verfolgen könnte man sie schon, sie verfolgen nur

einfach nicht die Richtigen. Wir hatten solche in der Einheit,

lauter so Dickmäuler. Die Köche haben gestohlen, die Lagerverwalter haben gestohlen, die Vorgesetzten haben gestohlen.

Und schuld waren die Fähnriche. Strafverfahren leiten können

sie schon, wenn man sie zwingt. IVANOVA Es wird zu viel... na ja... Sie nimmt ein Nudelholz

vom Tisch. Und so wird es bleiben. IVANOV faltet die Zeitung zusammen, gähnt Aaach... oh...

da ist was...

IVANOVA Hast du Zahnschmerzen? IVANOV Aber nein... das Reißen...

460 Vladimir Sorokin

IVANOVA rollt den Teig aus Uuuh... genau so wird es bleiben. IVANOV legt die Zeitung auf den Eisschrank Seit heute morgen

war alles gut. Aber der Frost jetzt, gleich hat man Rheuma...

Er reibt sich den Rücken. IVANOVA Du hast gestern nach Vodka angestanden, da hat es

dich erwischt.

IVANOV Gestern war es nicht kalt. IVANOVA Ja ja, nicht kalt. Nicht kalt, nicht kalt... und dann

auf einmal... la-la... IVANOV Das ist doch... Ist das etwa Frost? In Archangelsk sind

vierzig Grad unter Null, drei Monate lang. Und man rennt aus

dem Badehaus, und direkt in den Schnee. IVANOVA hantiert geschickt mit dem Nudelholz Ja ja...

Schwachsinn... IVANOV Petrenko, unser Politkommissar, hat das immer so

gemacht. Und bei Schnupfen... Vodka getrunken und ins

Bett. Das hier ist doch kein Frost. IVANOVA Doch, es ist Frost. Frost ist immer Frost... die

Gesundheit setzt man nicht auf Spiel. IVANOV Fünfundfünfzig habe ich mit Jaščenko im Lazarett

gelegen, und das war nicht geheizt. Auch die Krankensäle

nicht. Die Heizung war kaputt. IVANOVA streicht über den ausgerollten Teig Huu... wie ein

Bettuch... aber wohin jetzt... IVANOV Füllen wir sie jetzt?

IVANOVA Füllen... mit dem Füllen hat es noch Zeit... IVANOV Worauf denn warten. IVANOVA nimmt vom Tisch ein Glas, dreht es um und beginnt,

aus dem Teig Kreise auszustechen So... und so. Und dann

wird gefüllt... Mit dem Füllen hat es noch Zeit... IVANOV Darin bin ich ein Meister. IVANOVA Ich weiß, ich weiß... IVANOV Werden es zu viele?

IVANOVA Schau doch, wieviel Teig es ist... wohin damit... * IVANOV Und die Füllung? IVANOVA Die Füllung ist deine Sache. Im Eisschrank steht die

Schüssel mit dem Fleisch.

Pelmeni 461

IVANOV Hast du es noch nicht durchgedreht?

IVANOVA Wann soll ich es denn durchgedreht haben? Ich mache

den Teig. IVANOV Und warum sagst du kein Wort? Ich hätte es längst

gemacht.

IVANOVA Dann machs doch.

IVANOV Und ich sitze hier und denke, wir füllen sie gleich. IVANOVA Füllen, füllen! Es ist noch viel zu tun... IVANOV Und sagt kein Wort. Tja... der Kopf. IVANOVA Ich habe auch nur zwei Hände. IVANOV Wo ist der Wolf? IVANOVA Da unten drin. IVANOV So... Er holt den Fleischwolf hervor, schraubt ihn am

Tisch fest, holt aus dem Eisschrank eine Schüssel mit Fleischstücken.

IVANOVA Hast du es gefunden? IVANOV Ist das alles? IVANOVA Was denn sonst. IVANOV Hm. Alles auf einmal? IVANOVA Was denn sonst... alles auf einmal... Sticht weiter

Teig aus.

IVANOV Und wo hinein? IVANOVA Ah... nimm dort die Kasserolle... unten... die

grüne...

IVANOV holt die Kasserolle hervor, stellt sie unter den Wolf So. IVANOVA Der Knoblauch ist schon beim Fleisch, ich hab ihn

schon geschält. IVANOV Klar... Er beginnt das Fleisch durchzudrehen.

Etwa fünf Minuten arbeiten beide schweigend.

IVANOVA So. Sie stellt das Glas zurück auf den Tisch neben dem

Herd.

IVANOV Stells weiter weg, sonst werf ichs runter. IVANOVA rückt das Glas weiter weg Ja... IVANOV Ist so wenig... IVANOVA Ja nun... es waren Knochen dran...

462 Vladimir Sorokin

IVANOV Es rinnt.

IVANOVA Schau mal, den ganzen Tisch... Sie verteilt auf dem

Tisch die Teigstücken.

IVANOVA Mehr nicht? Dreht weiter Fleisch durch den Wolf. IVANOVA Ich weiß nicht mehr, wohin mit dem Teig. IVANOV Das Fleisch ist ganz gut, glaube ich. IVANOVA dreht sich nach ihm um Hast du es alles durch? IVANOV Ein bißchen noch. IVANOVA Komm, ich mache weiter. IVANOV Wieso denn. Das mach ich fertig. IVANOVA Salzen mußt du es noch... Sie holt ein Ei aus dem

Eisschrank. IVANOV So, fertig... Er hört auf zu drehen und wischt sich die

Hände an ihrer Schürze ah. IVANOVA Die war doch ganz frisch... jetzt kann ich sie wieder

waschen. IVANOV Schon gut, Mutter, sei nicht böse. Ich gehe scheißen.

Er geht hinaus. IVANOVA lacht Geh nur, geh nur... Teufel, die ganze Schürze

hat er mir vollgemacht... Betrachtet ihre Schürze, wischt sich

dann die vom Mehl weißen Hände ab und beginnt die Füllung

zu mischen, in die sie zuvor das Ei schlägt. IVANOV kommt nach etwa fünf Minuten zurück Na, wie siehts

aus?

IVANOVA Fertig. Jetzt können wir sie füllen. IVANOV setzt sich an den Tisch Schnell, schnell, ich will was zu

fressen. IVANOVA Also los. Sie rückt einen zweiten Hocker heran, setzt

sich neben ihn.

IVANOV Mich holst du doch nicht ein. IVANOVA lacht, während sie Pelmeni formt Wie sollte ich. IVANOV formt Darin bin ich nämlich Meister. Wenn es bei uns

zu Hause Pelmeni gab, hat meine Mutter immer mich gerufen ... Wo soll ich sie hinlegen?

IVA.NOVA Ach, einfach hierhin... an den Rand... leg sie da hin... IVANOV Hast du auch Pfeffer dran? IVANOVA Was denn sonst. Natürlich hab ich Pfeffer dran...

Pelmeni 463

IVANOV Ohne Pfeffer keine Pelmeni...

IVANOVA Als erstes, noch vor dem Ei hab ich Pfeffer drangetan. IVANOV Ohne Pfeffer wird das Scheiße, aber keine Pelmeni. IVANOVA Ich mache sie nie ohne Pfeffer. Immer tue ich Pfeffer

dran. IVANOV Mir haben Solovej und Frau mal welche ohne Pfeffer

vorgesetzt. Also das war schlimmer als was weiß ich... ohne

Pfeffer...

IVANOVA Knoblauch, Pfeffer, und richtig gesalzen, natürlich. IVANOV freut sich an den geformten Pelmeni Ha. Besser als

jedes Weibsbild. IVANOVA lächelt Natürlich... IVANOV Darin bin ich einfach Meister. IVANOVA Und der schnellste, mit dir kommt niemand mit. Sie

lacht.

IVANOV So... meine Jungs... Er formt vergnügt Pelmeni. IVANOVA Es bleibt Teig übrig.

IVANOV So, ihr Rekruten! Stillgestanden! Links um! IVANOVA Wir haben zu wenig Füllung... IVANOV Links, zwo, drei, vier... IVANOVA Wir müssen das Wasser aufsetzen. IVANOV Glatzköpfe... IVANOVA steh t auf, läßt Wasser in einen Topf laufen, stellt ihn

auf den Herd, zündet das Gas an Kolj, willst du sie in Brühe? IVANOV Hopp... tauglich für den Dienst an der Heimatfront ...

IVANOVA Kolj. In Brühe? IVANOV Was denn sonst! Natürlich. Ohne Brühe, Mutter, gibt

es sie nur in der Kantine. IVANOVA Das stimmt. IVANOV Dort gibt es sauren Kvas zu trinken... wird Scheiße

druntergemischt, friß nur... IVANOVA salzt das Wasser, gibt ein Lorbeerblatt hinein Wir

haben auch frische Sahne, hab ich auf der anderen Seite

gekauft. IVANOV formt weiter hingebungsvoll Pelmeni Hopp... und

hopp...

464 Vladimir Sorokin

IVANOVA Ich mag sie lieber ohne Brühe... Setzt sich an den Tisch und formt Pelmeni.

IVANOV Pelmeni formen muß man können...

IVANOVA Ich habe Mehl verschüttet.

IVANOV Hast du das Wasser aufgesetzt?

IVANOVA Was denn sonst.

IVANOV Schnell, Mutter, schnell. Ich will was zu fressen.

IVANOVA lacht Es kocht gleich.

IVANOV Hopp... tauglich für den Dienst an der Heimatfront ...

IVANOVA Warte, es sind schon so viele...

IVANOV Macht nichts, ich habe viel Platz. Wir machen sie alle...

IVANOVA Und stellen sie dann in den Eisschrank.

IVANOV Wir fressen sie alle, Mutter, dem Feind lassen wir nichts übrig:

IVANOVA Hast du einen Schwung!

IVANOV Keinen Schritt zurück! Hopp...

IVANOVA Warte, Kolj, es fängt an zu kochen...

IVANOV Wieviel sind es?

IVANOVA Es reicht, es reicht längst.

IVANOV Komm, ich tu sie ins Wasser.

IVANOVA Das mache ich schon, bleib du nur sitzen...

IVANOV Komm.

IVANOVA sammelt Pelmeni ein Ich mache das, bleib sitzen!

IVANOV Na komm...

IVANOVA wirft die Pelmeni ins kochende Wasser So...

IVANOV holt aus dem Eisschrank eine Flasche Vodka und macht sie auf Pelmeni, Pelmeški, wie gut.

IVANOVA sieht, was er tut, schüttelt den Kopf Kolj, trink nicht.

IVANOV Schon gut, Mutter, bleib bei deinem Kochtopf.

IVANOVA Kolj, trink nicht. Es wird böse enden.

IVANOV Kümmer dich um deinen Kochtopf.

IVANOVA Du besäufst dich, und dann ist wieder der Teufel los.

IVANOV wirft den Flaschenverschluß in die Ecke Schon gut, hör auf mit dem Scheiß. Gib die Gläser rüber.

IVANOVA Ich trinke nicht mit.

Pelmeni 465

IVANOV Du wirst, du wirst. Her mit den Gläsern.

IVANOVA Ich trinke nicht.

IVANOV Die Gläser: Bin ich etwa Alkoholiker, daß ich allein trinke?

IVANOVA Ich trinke nicht mit!

IVANOV Die Gläser!

IVANOVA Herrgott... Stellt zwei Gläser auf den Tisch.

IVANOV schenkt sein Glas voll, das seiner Frau nur zu einem Viertel Schon besser.

IVANOVA Laß es lieber, Kolj.

IVANOV Schluß mit dem Gerede. Bring uns Kohl.

IVANOVA Sofort... Sie nimmt. einen Teller und verläßt die Küche.

IVANOV trinkt sein Glas in einem Zug aus Au verdammt... uah... Es riecht am Ärmel seines Hemds und schenkt sich das Glas wieder voll.

IVANOVA kommt mit einem Teller Sauerkohl herein Hier.

IVANOV Gib her, Mutter. Nimmt den Kohl mit den Händen, stopft ihn sich in den Mund.

IVANOVA geht zum Herd lii... sie sind schon verkocht...

IVANOV Kohl kauend Was, sind sie fertig?

IVANOVA Sie kommen schon hoch... Nimmt einen Schöpflöffel, einen tiefen Teller und schöpft die Pelmeni hinein.

IVANOV Mir viel Brühe.

IVANOVA Ja natürlich. Hier. Gibt ihm den Teller.

IVANOV Aha ...Er setzt den Teller ab.

IVANOVA nimmt sich selber Pelmeni Hol mal die Sahne.

IVANOV holt das Glas Sahne aus dem Eisschrank So-ho...

IVANOVA stellt das Glas ab, setzt den Teller auf dem Tisch ab Warte, ich räume noch den Teig ab. Stellt den Teig in den Eisschrank, wischt mit einem Lappen die Mehlreste vom Tisch.

IVANOV hebt das Glas Also, Mutter - dienen wir der Sowjetunion!

IVANOVA setzt sich, hebt ihr Glas Oh, wenn du doch nicht trinken würdest...

IVANOV Gerede! Trinkt sein Glas aus, ißt Kohl hinterher.

IVANOVA trinkt einen Schluck aus ihrem Glas Pfui...

466 Vladimir Sorokin

IVANOV Das ist runtergegangen. Er nimmt sich saure Sahne, mischt sie unter die Pelmeni, probiert. Gut, wie immer.

IVANOVA Sind sie gut?

IVANOV Hervorragend. Ich darf Ihnen unseren Dank aussprechen.

IVANOVA Ist genug Salz dran?

IVANOV Genau richtig. Füllt sein Glas erneut.

IVANOVA bläst in ihren Teller, probiert Scheinen gut zu sein...

IVANOV Sehr gut, Mutter. Auf ein neues.

IVANOVA Kolj, es reicht, trink nicht.

IVANOV Schluß damit. Komm, komm, sonst hast du gar nicht getrunken. Na.

IVANOVA wehrt ab Ich trinke nicht mit.

IVANOV Trink. Na!

IVANOVA nimmt widerwillig ihr Glas In Gottes Namen, den einen Schluck...

IVANOV Also dann. Und Frieden im Himmel. Er trinkt. Au verdammt...

IVANOVA nippt nur Uh, ist der bitter.

IVANOV Hast du einen Knochen erwischt? Er ißt mit Appetit.

Eine Weile essen sie schweigend.

IVANOV schenkt sich den Rest Vodka ein Also dann, Mutter.

IVANOVA Was, hast du schon die ganze Flasche ausgetrunken?

IVANOV Ja und! Wir aus Pskov, wir schlagen uns durch! Komm.

IVANOVA Kolj, es reicht. Iß lieber.

IVANOV Komm, komm!

IVANOVA Es wird böse enden. Du wirst wieder...

IVANOV Ach was! Die Artillerie ist der Gott des Krieges!

Komm!

IVANOVA Oh, wirklich...

IVANOV Auf deins! Stößt mit ihr an und trinkt. IVANOVA Oh je. Stellt ihr Glas auf den Tisch. IVANOV Gut, die Pelmeški.

Beide essen schweigend.

Pelmeni 467

IVANOVA Willst du einen Nachschlag?

IVANOV hebt den Kopf, schaut seine Frau durchdringend an Was?

IVANOVA schaut ihn erschrocken an Was hast du?

IVANOV Das hast du getan?

IVANOVA Kolj, was hast du?

IVANOV Was sagst du?

IVANOVA Herrgott, schon wieder... Kolj a...

IVANOV schaut sie weiter durchdringend an Was hast du...

IVANOVA schluchzend Kolja...

IVANOV Red keinen Scheiß! Was sitzt du hier herum?

IVANOVA Kolja, Koljenka... nicht... Sie fängt an zu weinen.

IVANOV Nur weiter... Warum bis du hier...

IVANOVA erhebt sich furchtsam und geht zur Tür Mein Gott.

IVANOV steht jäh auf, wobei der Teller umstürzt: die Pelmeni rollen über den Tisch, die Bouillon tropft herunter Stillgestanden!

IVANOVA erstirbt, hebt die Hände an den Mund und weint lautlos.

IVANOV tritt dicht an sie heran, schaut ihr lange in die Augen, zeigt dann zum Fenster Hast du das getan?

IVANOVA Was?

IVANOV Was meinst du?

IVANOVA weint Nicht, Kolja.

IVANOV zeigt auf den Hocker Komm her.

IVANOVA Nicht... Kolja, ich gehe.

IVANOV Komm her. Komm hierher.

IVANOVA setzt sich auf den Hocker Mein Gott...

IVANOV stützt sich mit den Händen auf den Tisch und schaut stehend auf die Ivanova herab Was hast du getan?

IVANOVA Nichts habe ich getan, Kolja.

IVANOV schaut sie an Warum hast du das getan?

IVANOVA weint Warum trinkst du, Kolja.

IVANOV seufzt Wieso... soll ich wieder gehn?

IVANOVA Kolja, Kolja...

IVANOV Sitzen bleiben, sitzen bleiben.

IVANOVA weint, die Hände vorm Gesicht Kolja... Kolja...

468 Vladimir Sorokin

IVANOV fegt eine Handvoll Pelmeni vom Tisch, holt langsam

aus und wirft sie der Ivanova ins Gesicht Da... IVANOVA wehrt sich mit den Händen, weint Nicht, Kolja... IVANOV. stutzt sich auf den Tisch, schaut die Ivanova an Na... IVANOVA weint, wischt sich mit der Schürze das Gesicht ab. IVANOV Klar hast du kapiert. Wischt weitere Pelmeni vom Tisch

und wirft sie auf die Frau. IVANOVA wehrt sie ab Kolja, verzeih... IVANOV Alte Sau... Streckt über den Tisch die Hand nach ihr

aus. Komm... IVANOVA wehrt seine Hand ab Nicht, Koljenka. Koljenka,

nicht!

IVANOV Komm... komm...

IVANOVA duckt sich unter seiner Hand Koljenka, nicht. IVANOV Komm her... hierher... du Aas... IVANOVA Kolja... Koljenka... verzeih mir... verzeih mir... IVANOV packt sie an der Hand, zieht sie zu sich herüber Na...

du Sau... IVANOVA ringt mit ihm über dem Tisch Kolja... Koljenka,

verzieh mir, verzeih mir, Koljenka, nicht! IVANOV zieht sie an sich Komm her... IVANOVA weint Nicht, Koljenka! IVANOV holt aus, schlägt sie auf den Kopf, aber trifft nicht genau

Drecksau... IVANOVA jammert in hohen Tönen Nicht! Nicht! Nicht, Kojen-

ka, ich sage alles!

IVANOV schlägt in ihre linke Hand verkrallt, auf sie ein. IVANOVA Koljenka, Liebster, nicht! Ich sage alles, alles, wie es

sich gehört!

IVANOV schlägt weiter auf sie ein Du Aas... hast mich verpfiffen ...

IVANOVA Kolja! Koljenka! Wehrt seine Schläge ab. IVANOV Luder... Luder.. .da... Schlägt sie. IVANOVA Kolja! Kolja! Kolja! IVANOV Aas... IVANOVA Kolja! Ich sags! Ich sage alles, wie es sich gehört!

Kolja! Wie es sich gehört!

Pelmeni 469

IVANOV zieht sie an sich Luder...

IVANOVA Koljenka! Ich sage alles! Kolja! Wie es sich gehört.

Hör auf!

IVANOV Das warst alles du... du, altes Luder... IVANOVA Kolja, hör auf! Ich sage dir alles! Hör auf! IVANOV Luder... ein Luder... das bist du... Er stößt sie von

sich, die Ivanova taumelt zurück, während er mit der Brust

auf den Tisch fällt und den Teller seiner Frau zu Boden wirft. IVANOVA schreit Kolja! Kolja! Kolja! IVANOV wälzt sich schwer auf dem Tisch Du hast mir das

angetan...

IVANOVA Koljenka, ich sage dir alles, alles! IVANOV erhebt sich vom Tisch, wischt sich Bouillon und Sahne

aus dem Gesicht Was habe ich dir gesagt... Was habe ich

gesagt...

IVANOVA Kolja, ich sags, ich sage alles! Nur hör auf! IVANOV schaut sie an, stützt sich schwankend auf den Tisch. IVANOVA Verzeih mir, Koljenka! IVANOV Hierher... hierher... IVANOVA Soll ichs gleich sagen? Soll ich? IVANOV lockt sie mit dem Finger Komm, hierher... Alles in

seiner Form... IVANOVA hebt flehentlich die Hände an die Brust Ich machs

hier, Kolja. Kann ichs nicht von hier. IVANOV Hierher... Dreckstück... IVANOVA Koljenka, ich mach es von hier. Ja? Darf ich? IVANOV Alles in seiner Form... wie es sich gehört. IVANOVA Darf ich? Darf ich? IVANOV Alles in seiner Form... IVANOVA Darf ich?

IVANOV nickt Rührt euch... rührt euch... rührt euch... IVANOVA Ach, Kolja!

IVANOV Ich höre... los... deinen Lebenslauf... los... IVANOVA seufzt erleichtert auf und beginnt gleichmäßig, ohne

zu stocken Ich, das Streichholz mit Namen Probkova, wurde

in einem Eimer geboren, verbrachte meine Kindheit und

Jugend an einem alten Ort. Danach absolvierte ich im Jahre

47° Vladimir Sorokin

Sechsundvierzig eine Büchse voll Scheiße. Später arbeitete ich neben einer Scheuerleiste in einer Dreckecke, und im Jahr Siebenundfünfzig zog ich um in ein Bierglas, wo ich zur Maschinistin ausgebildet wurde.

IVANOV nickt Weiter...

IVANOVA fährt fort Und hier begegnete ich einem guten Menschen mit Namen Nikolaj Ivanovič Ivanov, der mich an seiner Brust wärmte, und mein Leben besserte sich. Und die Menschen begannen mich zu achten, obwohl ich eine Filzlaus bin. Aber Nikolaj Ivanovič sorgte für mich und...

IVANOV haut mit der Faust auf den Tisch, daß Bouillon und Sahne in alle Richtungen spritzen Stillgestanden! Stillgestanden! Stillgestanden!

IVANOVA Koljenka... Kolja...

IVANOV hat den Schlucken Wo ist dein Großvater?

IVANOVA voller Bereitschaft Mein Großvater ist in der Kiste.

IVANOV Und... wo... ist Ljuba?

IVANOVA Ljuba arbeitet in der Apotheke.

IVANOV Wo ist Nikolaj, und wo Zorka?

IVANOVA Sie sitzen auf der Hühnerleiter.

IVANOV Und wer ist Korablev?

IVANOVA Korablev ist ein Scheißhaufen.

IVANOV nickt schweigend, stützt sich auf den Tisch Ja. l. ja... Und dieses... Dorf? Warum ist da ein Dorf?

IVANOVA schnell Weil sie ausgebombt worden ist.

IVANOV nickt Ja... das ist bekannt. Und... was für Wetter haben wir heute?

IVANOVA Ein Wetter mit Beulen.

IVANOV nickt befriedigt Ja... das ist bekannt... jetzt... jetzt... Er schluckt. Jetzt sagen Sie uns, Genossin Gefreite, wo ist Ihr Schiffchen?

IVANOVA Mein Schiffchen... mein Schiffchen haben die anderen gegen Vodka eingetauscht.

IVANOV Klar... Und wo ist der Tisch?

IVANOVA Der Tisch steht unter dem Fleisch.

IVANOV Wie heißen Sie?

IVANOVA Probkova.

Pelmeni 471

IVANOV Aha... und haben Sie... das ...

IVANOVA Was, Kolja?

IVANOV Ich... Er seufzt schwer und setzt sich auf den Hocker.

Ich...

IVANOVA vorsichtig Kolja, was ist? IVANOV Das... Reibt sich das Gesicht mit beiden Handflächen.

Du... Wer bist du? IVANOVA Die Probkina.

IVANOV Aha... das heißt... und erinnerst du dich... IVANOVA An was, Kolja?

IVANOV Erinnerst du... dich... als der Gummi... IVANOVA Der Gummi?

IVANOV Ja, der Gummi ...Er reibt sich das Gesicht. IVANOVA Ja, ich erinnere mich. Sie nickt. IVANOV nickt ebenfalls Ja... ja. Und du bist die Probkina? IVANOVA Die Probkina, ja. IVANOV Und ich... will pissen. IVANOVA Gleich, Kolja... Sie geht hinaus und kommt rasch

mit einem emaillierten Nachttopf zurück. Hier... IVANOV Ah... rührt euch... Er spreizt die Beine, holt sein

Glied heraus, die Ivanova hält ihm den Nachttopf drunter.

Ivanov pinkelt.

IVANOVA Gut, Kolja... Sie zeigt ihm den Nachttopf. IVANOV nickt Ja... es muß sein... IVANOVA Hier, Kolja?

IVANOV bewegt konzentriert die Lippen Ja... hier. IVANOVA stellt den Nachttopf auf den Tisch, hält ihre linke

Hand hinein, während sie die rechte Ivanov auf den Kopf legt

Ich bin so weit, Koljenka.

IVANOV Du weißt... es ist das beste. Gleich richtig. IVANOVA nickt Ja, Kolja. IVANOV Ich hatte Kameraden! Kameraden! IVANOVA Ja, Kolja. IVANOV Stillhalten ... du hör zu. IVANOVA Ja, Koljenka. IVANOV brüllt Sie haben sie geschlagen! IVANOVA Koljenka.

4/2 Vladimir Sorokin

IVANOV Ich hab es nicht als erster begriffen, aber man braucht

das Ganze. Hörst du? Das Ganze! IVANOVA Selbstverständlich, Kolja. IVANOV schreit Das Beste!!! Das Beste!!! IVANOVA Koljenka! Koljenka! IVANOV Und die Hände schön... daß alles richtig wird... wie

es sein muß... Zapfenstreich, Zapfenstreich. IVANOVA Zapfenstreich.

Sie nimmt die Hand aus dem Nachttopfund überreicht ihn ihrem Mann. Ivanov hält den Nachttopf an die Brust gedrückt und schaut lange hinein. Währenddessen kniet die Ivanova vor ihrem Mann nieder. Der schaut noch eine Zeitlang in den Nachttopf, nimmt ihn dann am Griff und leert ihn auf dem Kopf seiner Frau

IVANOV Zapfenstreich. Er stellt den leeren Nachttopf auf den Tisch, steht auf und trocknet sich, ohne jedes Anzeichen von Trunkenheit, Gesicht und Hände an dem beim Ausguß hängenden Handtuch. Die Ivanova steht auf und geht schweigend hinaus, gleich darauf folgt ihr Ivanov.

Anhang

Nachwort

i

Russisches Theater und dramatischer Realismus gelten uns als Synonyme. Ist bei uns von russischem Theater die Rede, so versteht man darunter zumeist und ausschließlich das realistische Theater, das Drama des XIX. Jahrhunderts. Seien es die klassischen Komödien eines Nikolaj Gogol, Der Revisor und Die Heirat, seien es Aleksandr Ostrovskijs Komödien aus dem Moskauer Kaufleute-Milieu, etwa Wölfe und Schafe, seien es die glanzlosen Kleinbürgerdramen Maksim Gorkijs oder die naturalistischen Tragödien Lev Tolstojs aus dem Leben der russischen Bauern, Die Macht der Finsternis zum Beispiel - immer steht der Begriff des russischen Theaters für das gesellschaftsbezogene Stück, den realitätsnahen Konflikt, das kritische Abbild der sozialen Verhältnisse - sowie für das besonders geschärfte gesellschaftliche und politische Bewußtsein seiner Autoren.

Dieser Kanon ist ein Zerrbild, auch wenn er in Deutschland durch die Spielpläne der Stadt- und Staatstheater jahrzehntelang beglaubigt und in Rußland durch die jahrzehntelange Herrschaft der Doktrin vom sozialistischen Realismus sanktioniert worden ist. Und dieses Zerrbild, grotesk schon in seiner Lückenhaftigkeit, wird nicht weniger grotesk durch das Mißverständnis, das diesem Katalog nachträglich die Dramen Anton Čechovs als naturalistische Stimmungsbilder des russischen Fin de siecle hinzufügt.

Das Erscheinungsbild des russischen Realismus wäre, allein für das XIX. Jahrhundert, um eine nicht geringe Anzahl wahrlich realistischer Texte zu ergänzen - etwa um die Stücke von Michail Saltykov-Sčedrin und Aleksej Pisemskij, um die Bilder der Vergangenheit, jene berühmte Trilogie von Aleksandr Suchovo-Kobylin (zu schweigen von den vielen russischen Dramatikern des XIX. und XX. Jahrhunderts, die zu Recht unbekannt geblie-

476 Nachwort

ben sind), - es bliebe literatur- und geistesgeschichtlich dennoch ein Torso.

Denn die Übereinkunft des Realistischen in der dramatischen Literatur - im vorrevolutionären Rußland immerhin verstanden als Auftrag an den Schriftsteller, die Aufklärung voranzutreiben und sich an der Beseitigung sozialer Mißstände zu beteiligen -läßt zwangsläufig weite Bereiche des Literarischen außer acht, die für die Entwicklung des dramatischen Denkens und der Theatersprache in Rußland von entscheidender Bedeutung waren und zum Teil bis heute sind.

Zu nennen wäre hier das dramatische Hauptwerk Aleksandr Griboedovs, 1795-1829, die Komödie Verstand schafft Leiden, die zweite klassische russische Komödie, die Sprache und Denken der Russen nicht minder nachhaltig geprägt hat als der Revisor von Gogol; zu nennen wären hier die romantischen Tragödien von Michail Lermontov, 1814-1841; zu nennen wären die epischen Komödien von Ivan Turgenev, 1818-1883, der als Dramatiker begonnen hat und dessen Stücke in ihrer leisen feinen psychologischen Analyse als Vor-Formen der Dramen Anton Čechovs zu sehen sind; zu nennen wären die hintersinnig-phantastischen und keineswegs nur satirischen Dramolettes jener legendären fiktiven Dichtergestalt namens Kozma Prutkov: seine Werke - Aphorismen, Gedichte, Dramen, verfaßt von Aleksej Tolstoj und den Gebrüdern Aleksandr, Aleksej und Vladimir Zemčuznikov - sind Kernstücke des absurden Humors der Russen, als Sprichwörter, Sentenzen und geflügelte Worte bis heute lebendig.

Zu nennen wären hier jedoch vor allen anderen die Dramen Aleksandr Puškins, und unter ihnen besonders der Zyklus der »Kleinen Tragödien« - Der geizige Ritter, Der steinerne Gast, Mozart und Salieri und Das Gelage während der Pest, sämtlich im Herbst des Jahres 1830 entstanden: klassisches Theater, vollendet in der (kleinen) Form, das reine philosophische Theater.

Russische Absurde 477

Puškin, Shakespeare und Prosper Merimee hatte Ivan Turgenev vor Augen, als er 1844 im Vorwort zu seinem Einakter Zwei Schwestern über die Forderungen der zeitgenössischen Theaterkritik spottete:

»Kluge Menschen sagen, ein Drama müsse - wie war das doch?... - das Milieu der Gegenwart, eine bestimmte, klar umrissene Gesellschaft darstellen... entschuldigen Sie, an Weiteres kann ich mich nicht erinnern. Klugen Menschen stimmt man gerne zu, aber nicht immer ist es möglich, ihre Ratschläge zu befolgen.«

Es wäre müßig, darüber zu spekulieren, wie das Fragment im »spanischen« Stil, dem diese Sätze voranstehen, geendet hätte. Turgenev unterstreicht mit seiner Äußerung, daß in der Kunst, in der Literatur, andere und ihm wichtigere Bereiche existieren als das verlangte kritische Abbild der sozialen Verhältnisse. Schärfer faßt viele Jahrzehnte später das Manifest der Leningrader Avantgardegruppe Oberiu, der »Vereinigung für eine reale Kunst«, denselben Gedanken: Aleksandr Vvedenskij und Daniil Charms, die Hauptvertreter dieser Vereinigung, lehnen 1927, als die sozialistische Aufbau-Literatur bereits im Begriff ist, sich zu formieren, realistische Logik und Ausdrucksformen für die Kunstform Theater kategorisch ab und fragen provokativ: »Wer hat denn gesagt, daß die Alltagslogik für die Kunst verbindlich sei? Die Kunst hat ihre eigene Logik, und diese zerstört den Gegenstand nicht, sondern hilft, ihn zu erkennen.« Im Mythos des Sisyphos unterscheidet Albert Camus - im Stichwort »Unzufriedenes Denken« - zwischen Schriftstellern der bequemen Gewißheiten und Autoren, die den Widerspruch des Absurden annehmen, um ihn zu bestehen. Thesenliteratur, »das beweisende Werk« - Camus nennt es »das hassenswerteste von allen« - »läßt sich am häufigsten von einem zufriedenen Denken inspirieren. Man beweist darin die Wahrheit, die man zu besitzen glaubt. Damit setzt man Vorstellungen in die Welt, und Vorstellungen sind das Gegenteil von Denken.« Vom Denken, das unweigerlich auf das Absurde stoßen werde, verlangt Camus dasselbe wie vom Kunstwerk, nämlich: »Auf-

478 Nachwort

lehnung, Freiheit und Mannigfaltigkeit« - auch und obwohl dieses Kunstwerk nichts anderes manifestieren werde als die »tiefe Nutzlosigkeit«, die absurde Sinnlosigkeit aller menschlichen Existenz, die es zu akzeptieren und der es zu widerstehen gelte.

Diese Forderung läßt an Čechovs künstlerisches Credo denken, der, als zčjähriger, seinem Bruder die »Bedingungen des Kunstwerks« mitteilt: »i) Abwesenheit langgezogener Wortergüsse politisch-sozial-ökonomischen Charakters; 2) absolute Objektivität; 3) Wahrhaftigkeit in der Beschreibung der handelnden Personen und Gegenstände; 4) äußerste Kürze; 5) Kühnheit und Originalität; meide das Klischee; 6) Herzlichkeit.« Der Camus-schen Forderung verblüffend nah ist aber auch, was Aleksandr Puškin in seinen Überlegungen Über das volkstümliche Drama 1830 festhält:

»Was braucht der dramat. Schriftsteller? Philosophie, Objektivität, das staatsmännische Denken des Historikers, Scharfsinn, lebhaftes Einfühlungsvermögen, keinerlei Voreingenommenheit durch eine Lieblingsidee. Freiheit.«

Der Begriff »Freiheit«, mit dem dieses Fragment endet, ist in Puškins Manuskript unterstrichen.

3

Von einem nichtrealistischen oder philosophischen oder gar einem absurden Theater der Russen war und ist bis heute kaum etwas zu hören, - zu lesen allenfalls im Zusammenhang mit der postfuturistischen Gruppe Oberiu.

Dies hat Gründe, die nicht allein in den ideologischen Verordnungen sowjetischer Literaturfunktionäre zu suchen sind, nicht nur im Verbot jeder nichtmarxistischen Literatur und Philosophie nach 1917, sondern auch allgemein im Literaturverständnis und im literarischen Geschmack vieler russischer Leser und Literaturkritiker. Man weiß, der stalinistische Apparat hat ungezählte Schriftsteller und Dichter, die den offiziösen Rezepten ablehnend gegenüberstanden, unterdrückt, zum Schweigen verurteilt, in Gefängnissen und Irrenanstalten gesteckt, moralisch und physisch vernichtet - unter ihnen auch die beiden Dichter,

Russische Absurde 479

die heute, da die russische Öffentlichkeit sie zur Kenntnis zu nehmen beginnt, vorsichtig als »Vorläufer« des absurden Theaters in Rußland bezeichnet werden: Aleksandr Vvedenskij und Daniil Charms.

Doch die Realismus-Doktrin, die Thesenliteratur im Dienste des sozialistischen Aufbaus als Teil des vaterländischen Auftrags an den Schriftsteller hat der Stalinismus aus dem XIX. Jahrhundert übernommen und unter sowjetisch-sozialistischem Vorzeichen wiederbelebt, mit Maksim Gorkij, dem Bitteren, als Galions-figur. An diesem Auftrag, dem Wohl der Allgemeinheit zu dienen, im Gegensatz zu seinen Fähigkeiten als Künstler, zweifelt und verzweifelt schon bei Anton Cechov, in der Möwe, der Schriftsteller Trigorin:

»Ich liebe dieses Wasser hier, die Bäume, den Himmel, ich empfinde die Natur, sie erweckt in mir die Leidenschaft, den unüberwindlichen Wunsch zu schreiben. Aber ich bin doch nicht nur Landschaftsmaler, ich bin doch auch Staatsbürger, ich liebe meine Heimat, mein Volk, ich fühle, daß ich, als Schriftsteller, auch verpflichtet bin, über das Volk zu sprechen, über seine Leiden, über seine Zukunft, über die Wissenschaft, über die Menschenrechte und so fort und so fort, und ich spreche auch über alles, beeile mich, werde von allen Seiten getrieben, man ist mir böse, ich hetze von hier nach da wie der Fuchs, dem die Hunde im Nacken sitzen, ich sehe, daß das Leben und die Wissenschaft voranschreiten und voranschreiten und daß ich zurückbleibe und zurückbleibe, wie der Bauer, der den Zug verpaßt hat - und schließlich und endlich fühle ich, daß ich eben doch nur Landschaften schildern kann, in allem übrigen bin ich falsch, falsch bis ins Mark.«

Gerade der Name Čechovs aber ist es, der im Zusammenhang mit dem absurden Theater, vor allem den Stücken Samuel Becketts immer wieder genannt wird. Den Verdacht, daß ihm die Dramen Anton Cechovs vielleicht mehr bedeuten als andere, hat Samuel Beckett erst im hohen Alter, 1986, bestätigt. Auf die Frage, wo und ob er sich je über Cechov geäußert habe, antwortete Beckett auf einer Postkarte, die das Kolosseum in Rom darstellte, einsilbig, aber mit dem erhellenden Satz:

480 Nachwort

»I don't think I ever uttered my admiration for Chekhov. There was never a smile like his.«

Liebevoller wird das Lächeln Čechovs kaum jemand beschreiben können, denn hinter dieser Bemerkung steht der ganze Beckett, Becketts Werk, Inbegriff des philosophischen absurden Theaters. Becketts Čechov-Satz legt aber außerdem nahe, das absurde Theater weniger eng zu fassen, als es Martin Esslin, der erste Theoretiker des Theaters des Absurden, am Werk von Beckett, lonesco und des frühen Adamov tut. Versteht man es mit Wolf gang Hildesheimer als »philosophisches Theater«, das »weniger eine Rebellion gegen eine hergebrachte Form des Theaters [ist] als gegen eine hergebrachte Form der Weltsicht, wie sie sich des Theaters bedient und auf ihm manifestiert«, so stellt sich das Problem des absurden Theaters in einem weiteren und, wie es scheint, angemesseneren Rahmen. Denn das Gefühl des Absurden, die Wahrnehmung der Welt als absurd läßt sich nicht auf die Philosophie des französischen Existentialismus beschränken -diese Wahrnehmung ist eine Menschheitserfahrung, die spätestens seit dem Zeitalter der Aufklärung Spuren im Denken und in der Literatur aller Völker hinterlassen hat. »Eine Welt«, schreibt Camus, »die sich erklären läßt, und sei es auch mit unzureichenden Gründen, ist eine vertraute Welt. In einem Universum jedoch, das plötzlich der Illusion und des Lichts der Vernunft beraubt ist, fühlt sich der Mensch als Fremder. Aus diesem Exil gibt es keinen Ausweg, weil es in ihm keine Erinnerung an eine verlorene Heimat und keine Hoffnung auf ein gelobtes Land gibt. Die Scheidung des Menschen von seinem Leben, des Schauspielers von seinem Hintergrund ist genau das Gefühl der Absurdität.«

Von diesem Gefühl durchdrungen ist nicht nur jede Seite von Franz Kafka und James Joyce. Der Schock, den er erste Weltkrieg - der Zusammenbruch der vertrauten Welt in Europa -auslöste, hat das existentielle Gefühl der Absurdität schon damals Schriftstellern aller europäischen Kulturen offenbart und vor Augen geführt - so dem čechischen Erzähler Richard Weiner (Der leere Stuhl), dem kroatischen Erzähler Miroslav Krleza (Die Rückkehr des Filip Latinovič), Ivo Andrič ebenso wie dem

Russische Absurde

serbischen Lyriker Miloš Crnjanski (Ithaka) - russischen Autoren zumal, wo der Weltkrieg in die Oktoberrevolution und in einen Jahre währenden Bürgerkrieg mündete; die Prosa Isaak Babels und Viktor Šklovskijs Sentimentale Reise, auch Zoo oder Briefe nicht über die Liebe - einer der ersten literarischen »Berichte« aus der nachrevolutionären Emigration - sind beredte Zeugnisse des absurden Weltgefühls aus russischer Sicht. Sohn eines russischen Emigranten (namens Bobovnikov) war der französische Erzähler Emmanuel Bove, dessen Romane, zum Beispiel Meine Freunde, die Wahrnehmung des Absurden, der Fremdheit und des Ausgeschlossenseins aus der vertrauten Welt mit eisiger Schärfe erfahrbar machen - so wie, in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, die Texte, Gedichte und Dramen von Aleksandr Vvedenskij und Daniil Charms. Wolfgang Hildesheimer zieht in seiner Betrachtung Über das absurde Theater einen Satz von Albert Camus heran, der die Entstehung des Gefühls des Absurden auf die kürzest mögliche Formel bringt: »Das Absurde«, sagt Camus, »entsteht aus der Gegenüberstellung des Menschen, der fragt, und der Welt, die vernunftwidrig schweigt.«

Womöglich ist dieser Satz die vernünftigste Erklärung der Dramen Čechovs. Čechov, der, wie Beckett, stoisch lächelnd und mit »sanftem Zynismus«'5" in seinen Theaterstücken jede Antwort verweigert (weil es ihm viel mehr darauf ankam, das Problem, »die Frage richtig zu stellen«), schrieb noch im Angesicht des Todes, 1904, an seine Frau: »Du fragst: was ist das Leben? Das ist, als wollte man fragen: was ist eine Mohrrübe? Eine Mohrrübe ist eine Mohrrübe - mehr ist darüber nicht zu sagen.«

Der Mensch, der fragt - angesichts einer Welt, die fremd ist und die vernunftwidrig schweigt - das ist Aleksandr Puškins Gelage während der Pest. Der Text dieser »kleinen Tragödie« macht deutlich: das Bewußtsein des Absurden ist in der russischen Dichtung von allem Anfang - also von Puškin - an gegenwärtig;

Diesen Ausdruck verdanke ich dem Dichter Vladimir Sorokin.

482 Nachwort

und es scheint, als literarische Wahrnehmung, in Rußland sogar früher und schärfer ausgeprägt zu existieren als anderswo. Dies hat nicht unwesentlich zu tun mit dem Zustand der Welt, wie diese sich dem russischen Dichter darbot und bis heute darbietet. In keinem Land der zivilisierten Welt war - und ist -die Kluft zwischen Sprache und Sein, zwischen öffentlich behauptetem Anspruch und Lebenswirklichkeit so groß wie gerade dort. In keinem Land Europas hat sich der Mensch, der fragte, derart ohnmächtig und fremd vorkommen müssen wie in Rußland, konfrontiert mit einer Welt, zu deren zweiter Natur das Beharrungsvermögen geworden war - und ist, einer Welt, die verharrt in Rückständigkeit und Armut, in stumpfer Lethargie, ergeben in Gott oder Schicksal oder, wie es heute heißt, in den Zustand der Stagnation. Die Hoffnung auf Evolution hat schon Anton Cechov immer wieder ironisiert, vernichtender, weil gar nicht ironisch hat vor ihm Saltykov-Sčedrin darüber gesprochen, schon die Lektüre der Geschichte des Dorfes Gorjuchino von Aleksandr Puškin stimmt nicht unbedingt hoffnungsfroher: der Widerspruch zwischen dem hoffnungslos Primitiven und dem Gewünschten, dem Feinen, Komplizierten, Raffinierten, bestimmt die Wahrnehmung der Welt in der russischen Literatur in besonderem Maß. Die »Potemkinschen Dörfer« sind eine genuin russische Prägung - und einen Roman wie die Toten Seelen hat nur ein Russe schreiben können.

Aus dieser Kluft resultiert eines der Wesensmerkmale allen absurden Theaters, das Aleksandr Puškins schon in seinem Fragment Über die klassische Tragödie als das Wesen jeder dramatischen Kunst nennt - »die Verbindung des Komischen mit dem Tragischen«; für Nikolaj Gogol heißt diese Verbindung »Lachen unter Tränen«. - Aus dieser Kluft resultiert eine Besonderheit der russischen Wahrnehmung des Absurden: die Durchdringung des Absurden mit Mitteln des realistischen Theaters. Die Absurdität der Welt konstituiert sich durch eine nur geringfügige, kaum merkliche Überspitzung und Verschiebung (der Fiktion) des Realen: Nikolaj Gogol, Saltykov-Ščed-rin, Suchovo-Kobylin und Nikolaj Erdman sind in ihren Theaterstücken diesen Weg gegangen.

Russische Absurde 483

4

Das Gefühl des Absurden kann einen - wie Camus im Mythos des Sisyphos anschaulich beschreibt - zu jeder Zeit, an jeder Straßenecke anspringen. Es ist weder an ein Lebensalter noch an bestimmte Schreibweisen gebunden, es ist keiner literarischen Stilepoche zuzuordnen. Man begegnet ihm in den Uhu-Grotesken Alfred Jarrys, in den Stücken der Dadaisten und Surrealisten wie in den Mikrodramen Robert Waisers, man begegnet ihm in den Dialogen Konrad Bayers ebenso wie in Georg Büchners »melancholischem Meisterwerk, dieser Tragikomödie des Leerlaufs und der Frustration«, wie Hildesheimer Leonce und Lena einmal genannt hat.

Anders als in anderen europäischen Literaturen und ungeachtet aller stilistischen Unterschiede bilden die russischen Dichter des Absurden eine feste Kette, die nicht zu zerreißen ist. Eine Besonderheit der russischen Dichtung auch dies: sie besteht aus einem weit und fein verästelten System, einem Geflecht der Bezüge, versteckten Hinweise, der direkten und indirekten Zitate, das durchaus eigentümlich ist und sich nur aus den besonderen Bedingungen erklären läßt, unter denen in Rußland Literatur rezipiert wird und Literatur entsteht. Was für die Forschung heute (Stichwort: Intertextualität) ein beliebtes Studienobjekt ist, war für russische Dichter oft weniger (obgleich auch) ein literarisches Spiel als vielmehr ein verläßliches Verfahren, anzuschreiben gegen das Vergessen: gegen das Vergessenwerden dessen, was nicht vergessen werden darf. Die Dichtungen Vladimir Kazakovs sind hierfür besonderes Beispiel. Kazakov schreibt den Roman Der Fehler der Lebenden^ in dem er unübersehbar den Anfang des Idioten von Dostoevskij parodiert und leiht sich, als Titel, die Umkehrung des absurden Dramoletts Der Fehler des Todes von Velimir Chlebnikov - zu einer Zeit, da in Rußland Dostoevskij praktisch verboten war und Velimir Chlebnikov schon gar niemand drucken wollte. Nicht anders lossif Brodskij, der mit seinem absurden, möglicherweise unübersetzbaren Versdrama Gorhu-nov und Gorčakov den Dichtern des Oberiu, Charms und vor allem Aleksandr Vvedenskij ein Denkmal setzt - zu einer Zeit,

484 Nachwort

als diese in Rußland vergessen waren und ihre Dichtungen nur wenigen Eingeweihten überhaupt bekannt waren. Wenn Aleksandr Vvedenskij in einem seiner letzten Gedichte aus dem Jahr 1941, der Todes-Vision Wo. Wann, gleich mehrmals den Namen Puškins anruft, so verweist dies außerdem auf ein grundsätzlich anderes Verhältnis russischer Dichter zur eigenen Klassik als das der Deutschen etwa zu Goethe. Dieses Verhältnis ist eines der uneingeschränkten Verehrung und der Liebe, und es liegt nicht nur in Puškins genialem Werk begründet, sondern auch in seiner Person. Das Bild Puškins ist das des ewig jungen Rebellen, eines russischen Vorfahren des »homme revolte« - und mit ihm hat sich der gebildete Russe allemal lieber identifiziert als mit Generälen und Geheimen Räten.

Peter Urban

Die Autoren des Bandes. Nachweise

BLÖK, Aleksandr Aleksandrovič, 1880-1921. Lyriker, Dramatiker, Essayist, neben Andrej Belyj Hauptvertreter des russischen Symbolismus (der Petersburger Schule), einer der größten russischen Dichter des XX. Jahrhunderts. Werke in deutscher Übertragung: Die Zwölf\ deutsch von Paul Celan, Frankfurt, S. Fischer Verlag; Werke in } Bänden, hg. v. Fritz Mierau, Berlin/DDR, Volk & Welt, 1978, dass. im selben Jahr im Carl Hanser Verlag, München.

Dramen: Balagan [Die Schaubude] 1905, UA Petersburg 30. 12. 1906 in der Regie von Vs. Mejerchold; Die Unbekannte 1906; Der König auf dem Platz 1906; Das Lied des Schicksals. Dramatisches Poem 1907/1921; Rose und Kreuz 1912; Ramses. Szenen aus dem Leben des alten Ägypten 1919.

DIE UNBEKANNTE [Neznakomka], geschrieben 1906, russisch erstmals in der symbolistischen Zeitschrift Vesy, Mai-Juli 1907; die am Theater von V. F. Kommissarzevskaja, St. Petersburg, in der Regie von Vs. Mejerchold geplante Uraufführung fand nicht statt. Erst am 3.2. 1913 wurde das Stück vom Studio Junger Schauspieler des Künstlerischen Theaters S. Chaljutina uraufgeführt. Deutsche Übersetzungen von: Alix Rohde-Liebenau, Berlin 1946; Johannes von Guenther, München 1947; Lieselotte und Martin Remane, Berlin 1978. Erstveröffentlichung der Neuübersetzung. Die Unbekannte, ein Herzstück des symbolistischen Theaters, steht in engstem Zusammenhang mit Bloks Großstadtlyrik und dem Mythos von der »Schönen Dame«, dem Blök einen ganzen Gedichtband gewidmet hat, die Verse von der Schönen Dame, die, als mythische Gestalt, mal als Halbweltdame, mal als Herrscherin der Welt, als die Weltseele und als Geliebte des Dichters in Erscheinung tritt und in dieser irisierenden Mischung provoziert hat. Den Hinweis auf �» R M. Dostoevskij gibt Blök durch die beiden Motti, die der Unbekannten voranstehen:

486 Blök � Brodskij

»Das Bild stellte eine Frau von wahrhaft außergewöhnlicher Schönheit dar. Photographiert war sie in einem schwarzen Seidenkleid von überaus schlichtem und elegantem Schnitt; die Haare, offenbar dunkelblond, waren schlicht frisiert, für den Alltag; die Augen dunkel, tief, eine nachdenkliche Stirn; ihr Gesichtsausdruck leidenschaftlich und leicht überheblich. Im Gesicht war sie ein wenig abgehärmt, vielleicht auch blaß.« Und:

»- Aber woran haben Sie erkannt, daß ich es bin? Wo haben Sie mich früher schon gesehen? Ich weiß wirklich nicht, mir ist, als hätte ich ihn irgendwo schon einmal gesehen.

- Mir scheint, ich habe Sie auch schon irgendwo gesehen. -Aber wo? Wo?

- Ihre Augen habe ich bestimmt schon irgendwo gesehen... aber das kann nicht sein! Mir ist nur... Ich bin hier noch nie gewesen. Vielleicht ein Traum.«

BRODSKIJ, losif Aleksandrovič, * 1940.

Lyriker, Essayist, Dramatiker. 1972 aus der Sowjetunion ausgebürgert, lebt seither, unter amerikanisiertem Namen (Joseph Brodsky), in den USA. 1987 erhielt Brodskij den Nobelpreis für Literatur.

Vom lyrischen Werk Brodskijs, der, noch mit Anna Achmatova befreundet, der Strenge der Gedankenlyrik der Akmeisten (Achmatova, Mandelštam) verpflichtet ist, geben die bisherigen deutschen Übersetzungen nur einen fragmentarischen Eindruck: Römische Elegien und andere Gedichte, deutsch von Felix Philip Ingold, München 1985; ferner: Erinnerungen an Leningrad. Essays 1987; Flucht aus Byzanz. Essays 1988, alle im Carl Hanser Verlag, München.

MARMOR [Mramor], russisch, in Buchform erstmals im Verlag Ardis, Ann Arbor 1984, erschien deutsch 1988 im Carl Hanser Verlag München/Wien und ist das bisher erste auf deutsch bekanntgewordene Drama Brodskijs, das hier in einem Aus-Schnitt vorgestellt wird.

Marmor ist indes nicht der erste Dialogtext Brodskijs. Was Brodskij über Marmor sagt - funny and morbid - gilt in weit

Brodskij � Cechov 487

stärkerem Maß für das Versdrama Gorbunov und Gorčakov, 1965-1968, das, wie Die Walpurgisnacht von �» Venedikt Ero-feev - in einer Nervenheilanstalt angesiedelt ist und spielt zwischen dem poetischen, also suspekten Träumer Gorbunov und seinem Bewacher, dem mit der Anstaltsleitung kollaborie-renden Spitzel Gorčakov, der sein Opfer am Ende, in einer inszenierten Zellenschlägerei, erschlägt. Dabei ist Brodskij s Drama nicht nur ein echtes Versdrama bewußt in der Tradition Puškins, nicht nur ein Text, der die Thematik des Wahnsinns von Gogol bis �> Vvedenskij wieder aufnimmt, sondern der auch in seiner komplizierten Verstechnik wie kaum ein Theaterstück der neueren russischen Literatur den Einfluß der Dichtung der Oberiuten auf jüngere russische Dichter bezeugt.

CECHOV, Anton Pavlovič, 1860-1904.

Erzähler, Dramatiker, Schriftsteller, der wie kaum ein anderer russischer Autor des XIX. Jahrhunderts - und zwar sowohl in der erzählerischen Literatur als auch im Drama - das Puškinsche Gebot der Kürze, des Gedankenreichtums und der Originalität befolgt hat. Als Erzähler, vor allem aber als Dramatiker einer der wichtigsten europäischen Autoren der Gegenwart; früh, schon bei Prägung des Begriffs des absurden Theaters, in seiner Bedeutung für das Theater Samuel Becketts erkannt (M. Esslin, M. Kesting u. v. a.), prägend für die Dialoge des Welttheaters des gesamten XX. Jahrhunderts, inclusive der Filmsprache. Auch in der russischen Literatur des XX. Jahrhunderts von großem Einfluß, wobei die Verbindung zwischen der Kurzprosa Čechovs zur Kürzestprosa des �> Daniil Charms mit Sicherheit eine der interessantesten darstellt.

In deutscher Übersetzung: Das dramatische Werk und Sämtliche Einakter, hg. und übersetzt von Peter Urban, Zürich, Diogenes Verlag, 1973-1974, 1980; Das erzählerische Werk, textidentisch mit den Gesammelten Werken in Einzelbänden, hg. v. Gerhard Dick und Wolf Düwel, Rütten & Loening, Berlin 1960-1968; Briefe in fünf Bänden, hg. v. Peter Urban, Diogenes Verlag, Zürich 1979.

Cechov � Charms

Dramen: Vaterlosigkeit (Platonov), um 1880; Ivanov. Drama 1887; um diese Zeit: Einakter wie Der Bär, Der Heiratsantrag u. a.; Der Waläschrat. Komödie 1889; Die Möwe. Komödie 1896; Onkel Vanja. Szenen aus dem Landleben 1897; Drei Schwestern. Drama 1901; Der Kirschgarten. Komödie. 1904. SCHWANENGESANG [Lebedinaja pesnja], mit dem Untertitel Kalchas, geschrieben nach der gleichnamigen Erzählung von 1886, erschien erstmals in dem Almanach Sezon, Nr. i, 1887. Hier nach der Ausgabe Sämtliche Einakter, Zürich, Diogenes 1980.

ERZWUNGENE ERKLÄRUNG [Vynuzdennoe zajavlenie] erschien erstmals anonym am 22. April 1889 in der Zeitung Novoe vremja, St. Petersburg. Mehr oder weniger direkte Anspielung des Satirikers und Humoristen Cechov auf die Vorreden des �-» Kozma Prutkov zu seinen Dramen, in der Unterschrift Rekurs auf N. V. Gogols Erzählung Der Mantel [Akakij Tarantulov]. Deutsche Erstveröffentlichung.

ÜBER DIE SCHÄDLICHKEIT DES TABAKS [O vrede tabaka], Einakter, geschrieben 1886, an dem Cechov jedoch mehrmals gefeilt hat und den er 1902, nochmals redigiert, in die Werkausgabe letzter Hand bei A. F. Marks, St. Petersburg, übernahm. Hier zitiert in der Übersetzung Sämtliche Einakter, Zürich, Diogenes.

CHARMS, Daniil Ivanovič, Pseudonym für: Daniil Ivanovič Juvačev, 1905-1942.

Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Klassiker der russischen Literatur für Kinder, Philosoph des Absurden. Wie �» Aleksandr Vvedenskij Ende der 2oer Jahre Mitglied verschiedener Leningrader Avantgardegruppen, so der Gruppe »Radiks« und der »Vereinigung für eine reale Kunst«, abgekürzt: Oberiu; Rezitator der Werke �> Aleksandr Bloks und �» Velimir Chlebnikovs. Wie Vvedenskij lebte Daniil Charms hauptsächlich vom Verfassen von Kinderliteratur, übersetzte u. a. Wilhelm Busch (Plisch und Plum) ins Russische; von seinen eigentlichen Arbeiten Wurde, mit Ausnahme einiger Gedichte 1927/28, zu Lebzeiten von Charms in der Sowjetunion nie etwas veröffentlicht. Ein erster Band mit »Arbeiten für Erwachsene« erschien erst 1989. -

Charms 489

Die Entdeckung der Poesie der Oberiuten durch Literaturwissenschaft und durch die junge Generation von Dichtern und Schriftstellern setzte in Rußland Ende der 6oer Jahre ein. Seitdem beeinflussen Charms und Vvedenskij ganze Generationen junger russischer Lyriker und Dramatiker. - Von nicht unwesentlichem Interesse ist die Verbindung zwischen Charms und �» Kozma Prutkov.

Werke: Sobranie sočinenij (Lyrik), hg. v. Michail Mejlach und Vladimir Erl, 4 Bände, Bremen, K-Presse 1978, 1980 und 1988; Polet v nebesa (Auswahl: Lyrik, Prosa, Dramatik, Briefe), hg. v.

A. Alaksandrov, Moskau 1989.

In deutscher Übersetzung: Fälle. Prosa, Szenen, Dialoge,

Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag 1970; Geschichten von

Himmelkumov und anderen Persönlichkeiten, Friedenauer

Presse, Berlin 1983; Fälle. Szenen, Gedichte, Prosa, Zürich

1984; Fallen. Prosa, Szenen, Kindergeschichten, Briefe, Zürich

1985, beide im Haffmans Verlag; Briefe an K. V Pugaceva 1933,

Friedenauer Presse, Berlin 1988.

Dramen: Die Komödie der Stadt Petersburg [Komedija goroda

Peterburg], geschrieben 1927 und nur als Fragment erhalten

geblieben, russisch erstmals in der Werkausgabe Mejlach/Erl,

Band I, 1978.

Elizaveta Bam, 1927, UA Leningrad, Haus der Presse, am 24. i.

1928.

ELIZAVETA BAM, von Charms datiert: »I2.-24. Dezember

1927«, UA am 24. Januar 1928 im Rahmen des Oberiuten-

Abends »Drei linke Stunden« im Haus der Presse, Leningrad,

realisiert von D. Charms, A. Vvedenskij, Igor Bachterev und

B. Levin.

Am Theater des Hauses der Presse wirkte um diese Jahre auch der Avantgarde-Regisseur und Futurist Igor Terentjev, der dort am 9. 4. 1927 seine berühmte Inszenierung von Gogols Revisor herausgebracht hatte und der ab 1928 in Aufsätzen und Manifesten das Haus der Presse zum Theater des LEF erklärte, jener »Linken Front der Künste« um Sergej Tretjakov und �> V. V. Majakovskij, die 1927 eine Neuauflage ihrer Zeitschrift LEF durchgesetzt hatte. Wie der Literaturwissenschaftler N. I.

49° Charms � Chlebnikov

Chardziev berichtet, hatte Charms das Manuskript der Elizaveta Bam deshalb an Majakovskij geschickt, doch die erhoffte Publikation unterblieb.

Über das Verhältnis von Charms zu Majakovskij ist wenig bekannt, das sich auch schriftlich belegen ließe, doch sind sowohl künstlerische als auch ideologisch-politische Differenzen zwischen beiden kaum zu übersehen. Für Majakovskij als Politbarden und Sänger der Revolution scheint Charms nur Hohn und Spott übrig gehabt zu haben; dies ergibt der Vergleich von Maljakovskijs Agitprop-Epos Chorošo [deutscher Titel: Gut und schön] mit der Komödie der Stadt Petersburg, die Charms unmittelbar nach Erscheinen des Majkovskij-Poems niederschrieb und die - auch - als direkte Antwort auf Majakovskij s Revolutionspathos zu lesen ist.

MlNIDRAMEN: sämtlich übersetzt nach dem Manuskript der Bände V und VI der Werkausgabe Mejlach/Erl. Das Stück MAKAROV UND PETERSEN NR. 3 erschien erstmals russisch in der Zeitung Kniznoe obozrenie v. 3.4. 1987, dann in dem Sammelband Polet v nebesa im Zyklus Fälle. Zu Makarov und Petersen Nr. 3: das Wort »Malgil« ist eines der für Charms typischen Rätselwörter oder auch »Neologismen«, das einerseits auf den Begriff der Magie [magija] verweist, andererseits aber auch eine Verballhornung des russischen Wortes für das Grab [mogila] darstellt.

CHLEBNIKOV, Velimir [bürgerlich: Viktor] Vladimirovič, 1885-1922.

Lyriker, Sprachforscher und Experimentator, Welten-Entwerfer und Visionär, Erfinder der universellen, gleichwohl auf dem Russischen beruhenden »Sternensprache« sowie eines historischen Daten- und Zahlensystems, das es ihm - im Dialog Lehrer und Schüler von 1910 - ermöglichte, den Sturz eines Weltreiches im Jahre 1917 vorherzusagen: die Februar- und die Oktoberrevolution. Maßgeblicher und erfindungsreichster Dichter des russischen Futurismus und, neben Aleksandr Blök, einer der für die gesamte Entwicklung der russischen Lyrik des XX. Jahrhunderts wichtigsten Autoren.

Chlebnikov 491

In deutscher Übersetzung: Werke in zwei Bänden, hg. v. Peter Urban, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1972; Ziehn wir mit Netzen die blinde Menschheit, Sammlung, hg. v. Magda Erb, Verlag Volk & Welt, Berlin/DDR 1984.

Dramen: Die bislang einzige Chlebnikov-Werkausgabe, erschienen 1929-1933 (5 Bde., hg. v. N. Stepanov, Vorwort von Jurij Tynjanov), die unter Freunden und Kennern Chlebnikovs einen Aufschrei der Empörung auslöste und 1940 ergänzt wurde durch den von N. L Chardziev und T. Gric edierten Band Neizdannye proizvedenija, zählt in Band IV insgesamt 12 dramatische Texte Chlebnikovs, darunter auch die vier in diesem Band vorgestellten. Tatsächlich ist die Zahl der Dramentexte Chlebnikovs, entsprechend seiner Poetik, die die Grenzen der tradierten Gattungen bewußt negiert, um etliches höher - schon 1923 führte der Maler Vladimir Tatlin, im eigenen Bühnenbild, Chlebnikovs opus magnum, die Summe des poetischen GEuvres, Zangezi als Theaterstück auf, in der Rolle des Sehers und Schamanen Zangezi: Vladimir Tatlin.

Eine Formulierung Majakovskijs, der sich noch 1922 als »Mitstreiter« und Schüler Chlebnikovs bekannt hat, begründet die Wahl von vier Texten des Autors in diesem Band: Chlebnikov »stellte die poetische Aufgabe, gab ihrer Lösung eine Form - die Nutzung dieser Lösung zu praktischen Zwecken überließ er anderen«. Chlebnikovs Dramentexte markieren eine Entwicklung des dramatischen Denkens über zwei Jahrzehnte, sie sind mehr Ideen, Entwürfe eines neuen Theaters denn ausformulierte Stücktexte. Sie alle verbindet die - später bei �» Daniil Charms und �> Vladimir Kazakov wiederkehrende - Thematik der »Zeit als Maß der Welt« [vremja - mera mira] und das Thema des Todes.

FRAU LENINE [Gospoza Lenin], geschrieben unter dem Eindruck der symbolistischen Stücke Maurice Maeterlincks um 1909, zu einer Zeit, da Maeterlinck - schon eine Empfehlung Anton Čechovs an A. S. Suvorin 1895, später an Stanislavskij -auf russischen Bühnen viel gespielt wurde, erstmals erschienen in dem futuristischen Almanach Dochlaja luna [Der verreckte Mond], 1913.

492 Chlebnikov � Daniel

WELTVOMENDEHER [Mirskonca], geschrieben vermutlich 1912, Erstdruck in dem von Aleksej Kručenych edierten Futuristen-Almanach Rjav [Wau] 1913. Der heute - von A. E. Parnis und V. P. Grigorjev gedruckte Text ist, im Gegensatz zum Erstdruck, mit normalen Interpunktionszeichen versehen. DER FEHLER DES TODES [Ošibka smerti], geschrieben 1915, im Manuskript datiert: »23/X 1915«, Erstdruck in dem Almanach gleichen Titels, Moskau 1917. Deutsche Erstveröffentlichung. Das Stück, dem Chlebnikov große Bedeutung beimaß, parodiert einerseits Das Gelage während der Pest von �> A. S. Puškin, zum anderen das Theater der Dekadenten, etwa �» A. Bloks Unbekannte, auch F. Sologubs Tragödie Der Sieg über den Tod. Den Titel des Stückes variiert �> V. Kazakov mit seinem Roman Der Fehler der Lebenden. - Zu Lebzeiten Chlebnikovs hat es mehrere Versuche einer Aufführung des Stückes gegeben, u. a. mit V. Tatlin, Vs. Mejerchold und A. S. Lurje, der dazu Musiken geschrieben hat; die Uraufführung fand schließlich August/September 1920 in Rostov-am-Don unter einem anonym gebliebenen Regisseur statt. - Vgl. hierzu das Höllenspiel von A. Kručenych und V. Chlebnikov, deutsch von L. Harig, Friedenauer Presse, Berlin 1986.

DIE GÖTTER [Bogi], geschrieben 1921, im Manuspkript datiert mit »lo/X 1921«, Erstdruck dieses ersten russischen Dramas in Lautsprache [Zaum] in Band IV der Chlebnikov-Werkausgabe. Das dem Stücktext vorangestellte Gedicht datiert Chlebnikov auf den »9/V 1919«.

Die im Dialog betonten Vokale sind in der deutschen Fassung unterstrichen,.

DANIEL, Julij Markovič, 1925-1988.

Lyriker, Erzähler, Übersetzer, bekanntgeworden unter dem

Pseudonym Nikolaj Arzak, 1966 gemeinsam mit Andrej Sinjav-

skij - alias Abram Terc - wegen »antisowjetischer Propaganda«

zu 5 Jahren Straflager verurteilt.

Werke: Prosa ab 1952; Begstvo [Die Flucht] 1957; Govorit

Moskva [Hier spricht Moskau], Novelle, 1962; dass., ergänzt

durch weitere Erzählungen, New York 1966.

Daniel � Dostoevskij 493

In deutscher Übersetzung: Hier spricht Moskau, deutsch von Hendrik Berinson und Lotte Stuart, Zsolnay Verlag, Wien und Hamburg 1967.

HÄNDE [Ruki], geschrieben Mitte der 5oer Jahre, russisch erstmals in der 2., erweiterten Auflage des Bandes Govorit Moskva, New York 1966. Erstveröffentlichung der Neuübersetzung. Obgleich die Fiktion inzwischen durch Erzählungen und Inter-vies mit noch lebenden »Tschekisten«, den Vollstreckern des Roten Terrors, durch Publikationen etwa in Moscow News, Ogonek u. a. überholt scheint, bleibt dieser kleine Monolog -russisches Gegenstück zu Qualtingers Herrn Karl - trotz realistischem Gewand ein zentraler Text der Bewältigung des politischen Absurden.

DOSTOEVSKIJ, Fedor Michajlovič, 1821-1881. Schriftsteller, Romancier, Erzähler, Kulturkritiker und Philosoph. In deutscher Übersetzung: Gesammelte Werke, München, Piper-Verlag; Deutscher Taschenbuchverlag; Gesammelte Werke in Einzelbänden, Berlin/DDR, Rütten & Loening. BOBOK [Bobok] erschien erstmals in der Zeitschrift Grazdanin vom 5. Februar 1873, Nachdruck in Band X der Dostoevskij-Werkausgabe, 1882, im Zusammenhang des Tagebuchs eines Schriftstellers, i. Buch, Text VI. Deutsch erstmals in: F. M. Dostoevskij, Tagebuch eines Schriftstellers, Aus dem Russischen von Alexander Eliasberg, 4 Bände, Musarion Verlag, München 1923/1924. Erstveröffentlichung der Neuübersetzung. Die Übersetzung des Titels lautet: Böhnchen, kleine Bohne; im vorliegenden Text ist jedoch weniger der semantische als vielmehr der lautmalerische Wert des Wortes von Bedeutung. Dem russischen Text vorangestellt ist eine kurze Vorrede: »Dieses Mal veröffentliche ich Aufzeichnungen einer Person<. Ich bin es nicht; es handelt sich um eine gänzlich andere Person. Ich denke, mehr ist als Vorwort nicht nötig.« Ungeachtet diese Vorworts sind in den Text, der als Ganzes eine Replik auf Gogols Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen darstellt, zahlreiche persönliche Anspielungen und Seitenhiebe ein-

494 Dostoevskij � Erdman

gegangen, so etwa die Episode mit dem Porträt, das öffentlich ausgestellt wird: das berühmte Dostoevskij -Porträt des Malers V. G. Perov hatte einen Rezensenten veranlaßt zu der Bemerkung, das sei das Bildnis eines »Menschen, der von schwerer Krankheit erschöpft« sei.

ERDMAN, Nikolaj Robertovič, 1902-1970. Schriftsteller, Dramatiker und Theatermann, Drehbuchautor, als Dramatiker in der Tradition von �> Nikolaj Gogol und �» Aleksandr Suchovo-Kobylin, aber auch des satirischen Theaters von �» V. V. Majakovskij, nämlich der Stücke Das Schwitzbad und Die Wanze.

Dramen: Das Mandat [Mandat] 1925, UA Moskau 1925 in der Regie von Vs. Mejerchold; Der Selbstmörder [Samoubijca] 1930. Dramatisierungen des Romans Das Dorf Štepančikovo von F. M. Dostoevskij, 1957; des Romans Ein Held unserer Zeit von Michail Lermontov, 1960, für eine Inszenierung von Jurij Lju-bimov.

DER SELBSTMÖRDER [Samoubijca], geschrieben 1930, keine Uraufführung des Stückes zu Lebzeiten Erdmans in der Sowjetunion; russisch erstmals in der Exilzeitschrift Novyj zumal 19737 1974, in Buchform 1980 in Ann Arbor im Verlag Ardis; diesem russischen Text folgt auch die hier vorgelegte Neuübersetzung des I. Aktes. Der vollständige Stücktext erschien zuletzt in der Anthologie Der Selbstmörder. Satirische Dramen von Leonow, Bulgakow, Soschtschenko und Erdman, hg. v. G. Düwel, Leipzig, Reclam, 1983.

Das Stück ist, wie auch Das Mandat, eine politische Satire auf die Zustände der NEP-Zeit, jener auf den »Kriegskommunismus« folgenden Jahre, während deren Privateigentum und kapitalistische Produktion in begrenztem Umfang wieder zugelassen wurden; Satire jedoch mit stark absurdem Einschlag schon im politischen Bereich, indem Erdman das Undenkbare nicht nur denkt, sondern schlicht zum Ausgangspunkt der Komödie macht, nämlich die Existenz eines arbeitslosen Arbeiters im ersten sozialistischen Staat, der das Recht auf Arbeit zur Verfassungsnorm erhoben hatte. Literarisch, als Theatertext, erscheint

Erofeev � Gogol 495

Erdmans Selbstmörder als Parodie auf die Komödie Tarelkins Tod von A. Suchovo-Kobylin - der I. Akt des Selbstmörders wirkt wie das exakte Spiegelbild des Tarelkin mit sowjetischen Vorzeichen.

EROFEEV, Venedikt, 1938-1990.

Schriftsteller, Essayist, Dramatiker. In Deutschland bekanntgeworden mit dem Roman Die Reise nach Petuschki [Moskva-Pe-tuški], 1969 geschrieben, russisch erstmals in Buchform Paris 1977,2i98i; deutsch, übertragen von Natascha Spitz, München, Piper Verlag, 1978.

DIE WALPURGISNACHT [Valpurgieva nočj] ODER SCHRITTE DES KOMTURS, geschrieben 1984, Tragödie in fünf Akten, erschien russisch erstmals in der Exil-Zeitschrift Kontinent Nr. 45, 1985 und ist der erste Theatertext Erofeevs; er erschien, geringfügig gekürzt, in Heft 4, April 1989, der sowjetischen Zeitschrift Teatr.

Dem Erstdruck in Kontinent vorangestellt war, anstelle eines Vorworts, ein Brief Erofeevs, der alternativ die Titel Die Nacht auf Ivan Kupala und/oder Die Dissidenten vorschlägt und erklärt, bei der Walpurgisnacht handele es sich um Teil zwei eines geplanten Triptychons mit dem Titel Drei Nächte. Dieses Triptychon »beachtet sämtliche Boileauschen Kanons: Erste Nacht - Annahmestelle für [leere] Vodkaflaschen; Zweite Nacht - 31. Abteilung der Nervenheilanstalt; Dritte Nacht -Russisch-orthodoxe Kirche, vom Vorhof bis zum Altar. Desgleichen die [Einheit der] Zeit: Abend - Nacht - Morgendämmerung. Deutsche Erstveröffentlichung.

GOGOL, Nikolaj Vasiljevič, 1809-1852.

Erzähler, Romancier, Dramatiker, Klassiker der russischen Nationalliteratur, Klassiker des grotesken Humors und des Absurden jedoch mehr in der Prosa als in seinen dramatischen Werken, vgl. Die toten Seelen, die Novellen Der Mantel, Die Nasey das Porträt und vor allem die Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen.

496 Gogol � Kazakov

Die eine echt absurde Szene aus dem Revisor, der klassischen russischen Komödie, die die Suada der bestechlichen Beamten, die dem falschen Revisor Chlestakov Schmiergelder bezahlen, unterbricht und in der ein Bittsteller auftritt, der Chlestakov nichts zahlen, sondern wirklich Hilfe von ihm will, hat Gogol aus der definitiven Fassung des Revisors gestrichen; sie bliebe, für sich genommen, unverständlich.

Dramen: Der Revisor; Die Heirat. Eine völlig unwahrscheinliche Begebenheit in zwei Akten (geschrieben 1833); Die Spieler. Fragment; Fragmente; Szenen.

In deutscher Übersetzung: Gesammelte Werke in fünf Bänden, hg. v. Angela Martini, Stuttgart, Cotta, 1981 f. FRAGMENT EINES UNBEKANNTEN STÜCKES [Fragment iz neiz-vestnoj p"esy] erschien erstmals 1881 in Nr. 12 der Zeitung Rus'; es wird von den Herausgebern der Akademie-Ausgabe, Band V, Moskau 1949, in das Jahr 1832 datiert und zu den ersten dramatischen Versuchen Gogols gezählt. Deutsche Erstveröffentlichung.

KAZAKOV, Vladimir Vasiljevič, 1938-1988. Schriftsteller, Lyriker, Erzähler, Dramatiker. Autor, der seit seinen Anfängen um 1965 am konsequentesten die Traditionslinie des Absurden verfolgt hat. Bekanntschaft 1966 mit Aleksej Kručenych. »Ereignisse« in seinem Leben nennt Kazakov, in einer autobiographischen Notiz, die Bücher Gogols und Do-stoevskijs, das Werk �* Velimir Chlebnikovs sowie der Oberiu-ten �» Daniil Charms und �» Aleksandr Vvedenskij. Werke: Kürzestprosa, dramatische Szenen 1967-1968, Gedichte 1966-1969; Dramen 1970-1974; Prosa, Romane. - In Buchform, bisher nur im Ausland erschienen: Osihka zivych [Der Fehler der Lebenden, in Anlehnung an Chlebnikovs Titel Der Fehler des Todes] Roman 1970; Zizn* prozy [Das Leben der Prosa] Prosa 1972-1974, München 1982; Otgolovy do zvezd[Von Kopf bis zu den Sternen] Prosa 1973, München 1982; Slučajnyj voin [Zufällig Krieger] Gedichte, Verserzählungen, Dramen 1961-1976, München 1978; als Manuskript: Prodolzenie vozducha [Die Fortsetzung der Luft]; V čest' vremeni[Zu Ehren der Zeit] u. a.

Kazakov � Majakovskij 497

In deutscher Übersetzung: Meine Begegnungen mit Vladimir Kazakov. Prosa, Szenen, München/Wien 1972; Der Fehler der Lebenden. Roman, München 1973; Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige. Sämtliche Dramen, München/Wien, Carl Hanser Verlag, 1990,

DER ERTRUNKENE [Utoplennik], geschrieben 1967 oder 1968, erschien russisch zuerst in dem Band Moi vstreci s Vladimirovym Kazakovym, München 1972.

FABRIKSGELÄNDE [Fabričnye okrestnosti], geschrieben um 1970, ist enthalten in dem mit »26/IX 1970« datierten und später fortgeführten Zyklus Dramen. Deutsche Erstveröffentlichung. AUFERWECKUNG [Voskrešenie] - wie Fabriksgelände.

MAJAKOVSKIJ, Vladimir Vladimirovič, 1893-1930.

Lyriker, Dramatiker, Drehbuchautor, Filmschauspieler. Mit �-»

Velimir Chlebnikov Vertreter des russischen Futurismus der

ersten Stunde, nach 1917 Propagandist der »Linken Front der

Künste«, Herausgeber der Zeitschrift LEF.

In deutscher Übersetzung: Werke in fünf Bänden, davon ein

Band mit Dramen, hg. v. Leonhard Kossuth, Berlin/DDR 1969;

dass. als Werkausgabe des Insel-Taschenbuches in 10 Bdn.,

Frankfurt 1980.

Dramen: Mysterium buffo, UA: Petrograd 1918 in der Regie von

Vs. Mejerchold; Die Wanze 1928, UA: 1929; Das Schwitzbad

1929, UA: 1930, beide in der Regie von Vs. Mejerchold.

VLADIMIR MAJAKOVSKIJ TRAGÖDIE [Vladimir Majakovskij.

Tragedija], geschrieben Sommer 1913, ursprüngliche Titel: "Ze-

leznaja doroga [Die Eisenbahn], Vosstanie veščej [Der Aufstand

der Dinge], wurde uraufgeführt am 2. 12. 1913 im Luna Park,

dem Theater des Sojuz molodezi, in Petersburg, Bühnenbild:

Pavel Filonov und I. Skolnik. Erstdruck in dem als Zeitschrift

konzipierten futuristischen Almanach Pervyj zumal msskich

futuristov, März 1914.

Die hier zitierte Nachdichtung von Heiner Müller nach einer

Übersetzung von Ginka Tscholakowa erschien erstmals in der

Friedenauer Presse, Berlin 1985.

498 Prigov � Prutkov

PRIGOV, Dmitrij Aleksandrovič, * 1940.

Lyriker, Dramatiker, Mitglied der Gruppe der Moskauer Kon-zeptualisten. Der Ausbildung nach Bildhauer am Moskauer Stroganov-Institut 1967. Gedichte ab 1971, mehrere Lyrikbände. Visuelle Poesie (»Stichographien«), poetische Objekte, Minidramen u. a.

In deutscher Übersetzung: Texte in der Anthologie Kulturpalast, Wuppertal 1984; Drei Fragen an Vlaäimir Sorokin in der Anthologie Gruppa. Texte aus Moskau, hg. v. Thomas Wiedling, 1989.

ICH SPIEL AUF DER HARMONIKA [Ja igraju na garmoške] erschien erstmals in der Zeitschrift Literaturnoe A-Ja, Paris 1985. Deutsche Erstveröffentlichung.

PRUTKOV, Kozma Petrovič, u. 4. 1803-13. i. 1863. Lyriker, Dramatiker, Erzähler, Verfasser von Aphorismen, staatstragenden Projekten und zeitlebens treu dienender Beamter, bis zum 10. April 1823 im Dienste der Armee, danach bis zu seinem Tode in der Staatlichen Probierkammer (Eich-Amt), zuletzt in der Position eines Direktors. Fiktive Dichtergestalt, erfunden von dem Lyriker Aleksej K. Tolstoj (1817-1875) und den Gebrüdern Zemčuznikov Aleksej (1821-1908), Aleksandr (1826-1896) und Vladimir (1830-1884), erstmals hervorgetreten mit der Komödie Fantazija (Phantasie) am 8. i. 1851, danach in der Zeitschrift Sovremennik 1853-1854 sowie in den Jahren 1860-1863; Klassiker des absurden russischen Humors und berühmtester Vertreter der Parodie in der russischen Literatur. Viele Verse und Aphorismen Kozma Prutkovs sind bis auf den heutigen Tag als geflügelte Worte lebendig, der Humor Kozma Prutkovs hat Generationen russischer Autoren beeinflußt, um nur einige zu nennen: Vladimir Solovjev, Anton Čechov, Daniil Charms, Aleksandr Vvedenskij, Vladimir Kazakov. Das biographische Stichwort zu Kozma Prutkov im Großen Enzyklopädischen Wörterbuch von Brockhaus/Efron 1898 schrieb�» Vladimir Solovjev.

Die erste russische Ausgabe des Gesamtwerks von Kozma Prutkov erschien 1884.

Prutkov � Puškin 499

DER UNBESONNENE TÜRKE [Oprometčivyj turka, ili: Prijatno li byt' vnukom?] erschien erstmals in der Zeitschrift Sovremennik, Nr. 4, 1863 und zählt mithin bereits zu den nachgelassenen Werken Kozma Prutkovs. Deutsche Erstveröffentlichung. DAS ZUSAMMENWIRKEN DER IRDISCHEN GEWALTEN [Srodstvo mirovych sil] erschien erstmals, als Werk aus dem Nachlaß, in der Kozma-Prutkov-Gesamtausgabe 1884 mit folgendem Vorspann: »Aufgefunden im Portefeuille mit dem Aufdruck in Goldbuchstaben: >Unvollendete Werke (d'inacheve) Nr. i.<« Deutsche Erstveröffentlichung.

PuŠKIN, Aleksandr Sergeevič, 1799�1837.

Nationaldichter der Russen und Klassiker sämtlicher literarischer Gattungen und Genres einschließlich der Dramatik des Absurden.

Dramen: Boris Godunov [1825] 1831; der Zyklus Kleine Tragödien: Der geizige Ritter, Mozart und Salieri, Der steinerne Gast und Das Gelage während der Pest [1830] 1831. DAS GELAGE WÄHREND DER PEST [Pir vo vremja čumy], geschrieben Herbst 1830, zusammen mit den anderen Kleinen Tragödien, erschien erstmals 1831 in dem Almanach Alciona. Al-manach auf das Jahr 1832, St. Petersburg 1831. Nachdruck noch zu Lebzeiten Puškins in Bd. III der Gedichte Aleksandr Puškins, St. Petersburg 1832. Bei dem Text handelt es sich um die freie, nicht gereimte Übersetzung eines Fragments aus dem Englischen: John Wilson, 1785-1854, The City ofthe Plague, der Puškin die beiden Lieder hinzugefügt hat. Das Gelage während der Pest gilt in der russischen Literatur nichtsdestotrotz als genuines Werk Puškins, das, wie die Kleinen Tragödien insgesamt, für das Versdrama bis weit ins XX. Jahrhundert bestimmend war (vgl. �» Blök, �» Chlebnikov, �> Charms, �> Vvedenskij) und das zahlreiche Autoren - auch nichtrussische, vgl. Heiner Müller, Wolokolamsker Chaussee - inspiriert hat. - Die deutsche Übersetzung von Fritz Mierau erschien zuerst als Textbuch des Henschel-verlags, Berlin/DDR 1972, dann in der Sammlung Mozart und Salieri. Kleine Tragödien von Alexander Puschkin, herausgegeben und übersetzt von Fritz Mierau, Leipzig, Reclam, 1986.

500 Saltykov-Ščedrin

FRAGMENT [»Ot etich znatnych gospod...«], geschrieben vermutlich 1835, erschien russisch erstmals in Puskins Werken, hg. von P. V. Annenkov, Bd. VII, St. Petersburg 1857. Deutsche Erstveröffentlichung.

SALTYKOV-ŠČEDRIN, Michail Evgrafovič, 1826-1889. Schriftsteller, Erzähler, Romanautor, Verfasser der bissigsten und schärftsten Satiren der russischen Literatur der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts. Saltykov, der unter dem Pseudonym N. Sčedrin publizierte, war Beamter und wegen politischer Unzuverlässigkeit mehrere Jahre in die Provinz verbannt worden. Er wurde nach dem Scheitern der Reformen von 1861 - die er aus tiefster Überzeugung gefördert hatte - zum schärfsten Kritiker des Zarenregimes und des Provinzadels. Nach dem Tod von N. Nekrasov 1878 übernahm er die Redaktion der liberalen Zeitschrift Otecestvennyja zapiski [Vaterländische Annalen]. Werke: Skizzen ans einem Gouvernement 1856/1857; Unschuldige Geschichten 1857/1863; Satiren in Prosa 18 59/1862; Pompa-dour und Pompadours-Gattinnen 1863-1874; Die Herren Taš-kenter 1869-1872; Die Geschichte einer Stadt 1869/1870; Die Herren Golovlev. Roman 1875/1880; Die Provinz Poschecho-nien 1887/1889.

In deutscher Übersetzung: Die Herren Golowljow, Leipzig 1885, München 1914; Die Geschichte einer Stadt, Berlin 1946; Die Herren Taschkenter, Berlin/DDR 1953; Provinz Poschecho-nien, Berlin/DDR 1953; Geschichten und Märchen, Leipzig 1924, Düsseldorf 1958.

Dramen: Szenen und Monologe in den Skizzen aus einem Gouvernement; Pazuchins Tod 1857; Schatten 1862/1865. Dramatische Skizzen, immer wieder eingestreut in satirische Prosa-Sammlungen, wie z. B. Ein Morgen bei Chreptjugin in den Unschuldigen Geschichten.

EIN MENSCH [Titel vom Herausgeber], Fragment aus dem frühen Satiren-Zyklus Skizzen aus einem Gouvernement i856/ 1857, enthalten in der Erzählung Ein unangenehmer Besuch. UNZUFRIEDEN [Nedovol'nye], Szene, ein für sich stehender Dialog aus dem Zyklus Satiren in Prosa 1859/1862.

Sologub � Solovjev 501

SOLOGUB, Fedor, Pseudonym für: Fedor Kuzmič Teternikov, 1863-1927.

Schriftsteller, Romancier, Dramatiker, Autor des russischen Symbolismus und der Dekadenz, in Deutschland vor dem i. Weltkrieg als einer der »Höhepunkte des Pessimismus« (neben �* Anton Čechov) bekanntgeworden vor allem durch den Roman Der kleine Dämon [Melkij bes] von 1902. Werke in deutscher Übersetzung: Der kleine Dämon. Roman, München 1909; Totenzauber. Roman, München 1913; Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen, Weimar 1918; Süßer als Gift, München 1922 im Verlag Georg Müller. Die Dramen Sologubs sind in Deutschland unbekannt geblieben, darunter die Tragödie Der Sieg des Todes sowie der an Maeterlinck erinnernde Titel Die Gabe der weißen Bienen. LIEBEN [Ljubvi], eines der drei Dramen Sologubs, erschien erstmals in der Zeitschrift Pereval. Zeitschrift für freies Denken, Nr. 8/9, 1907. Nachdruck in Band VII der Werkausgabe im Verlag Sipovnik, 1910. Neudruck in dem Band Fedor Sologub. 1884�1984, hg. v. B. Lauer und U. Steltner, München 1984. -Gegenüber dem Zeitschriften-Erstdruck ist der Text der Werkausgabe geringfügig, aber insofern entscheidend verändert, als die beiden letzten Repliken des Erstdrucks gestrichen sind. Der Stücktitel ist im Russischen ein Plural, dem Sinne nach also »Verschiedene Arten von Liebe«. Deutsche Erstveröffentlichung.

SOLOVJEV, Vladimir Sergeevič, 1853-1900. Schriftsteller, Literaturkritiker, Essayist und bedeutendster russischer Philosoph des XIX. Jahrhunderts. Als Philosoph eines mystischen Christentums von größtem Einfluß nicht nur auf die weitere russische Philosophie (Bulgakov, Berdjaev), sondern auch auf die Dichter des russischen Symbolismus, insbesondere �» Aleksandr Blök und Andrej Belyj.

Von Solovjev stammen nicht nur eine Reihe bemerkenswert schöner philosophischer Gedichte (in 7. Auflage 1922 im Rahmen der ersten Gesamtausgabe), sondern auch mehrere Dramen und Dramoletts, die, mit einer Ausnahme, posthum in der

502 Solovjev � Sorokin

Gesamtausgabe erschienen und dort vom Herausgeber Sergej Solovjev mit dem Sammeltitel »Scherzdramen« versehen worden sind. Hiervon hat Solovjev zu Lebzeiten nur das dreiaktige Mysterienspiel Die Weiße Lilie oder Ein Traum in der Nacht auf Mariae Verkündigung publiziert, und zwar in dem Almanach Zur Erinnerung, hg. v. F. A. Duchoveckij, Moskau 1893. In seiner Bedeutung für das Theater der Symbolisten, vor allem aber auch für die Poetik der Petersburger Oberiuten �> Alek-sandr Vvedenskij und �> Daniil Charms ist dieser Theatertext Solovjevs noch gar nicht erkannt worden. Sämtliche dramatischen Texte Solovjevs werden vom Herausgeber der Gesamtausgabe auf Ende der /oer Jahre des XIX. Jahrhunderts datiert. Nach einem Studienaufenthalt in London und Kairo 1876 hatte Solovjev, nach Petersburg zurückgekehrt, die Bekanntschaft der Witwe Aleksej Tolstojs gemacht, auf deren beiden Gütern, Krasnyj Rog und Pustynka, Solovjev verkehrte -»wo alles noch von Kozma Prutkov atmete« (S. Solovjev); dem Geiste Kozma Prutkovs sind auch sämtliche Theatertexte Solovjevs verpflichtet.

Dramen: Alsim; Die Weiße Lilie oder Ein Traum in der Nacht auf Mariae Verkündigung; Der Adelsaufstand. Zeitgenössischbürgerliches Theaterstück mit gelehrten Anmerkungen und spiritistischen Erscheinungen.

ICH SAGTE JA, ER KANN NICHT ESSEN Qa govoril, čto on ne umeet est'] erschien russisch erstmals Moskau 1922 im Rahmen der Gesamtausgabe Vladimir Solovjevs. Deutsche Erstveröffentlichung.

SOROKIN, VLADIMIR GEORGIEVIČ, '"1955. Schriftsteller, Romancier, Erzähler, Dramatiker. Nach Abschluß eines Ingenieurstudiums 1977 Arbeit als Buchillustrator, erste literarische Arbeiten 1979.

Werke: Norma. Roman 1979/1980; Erzählungen 1980/1983, davon erste Publikation in der Zeitschrift Rodnik, Riga, Nr. u/ 1989; Očered' [Die Schlange]. Roman 1983; russisch publiziert Paris, Sintaksis, 1985; deutsche Übersetzung: Haffmans Verlag, Zürich 1990; Tretja ljubov' Mariny [Marinas dreißigste Liebe].

Suchovo-Kobylin � Turgenev 503

Roman 1984, bislang nur in französischer Übersetzung, erschienen 1987, Paris, Lieu commun; Theaterstücke 1984/1985, 1989; Roman. Roman 1985/1989.

In deutscher Übersetzung: Normale Briefe in der Zeitschrift Schreibheft Nr. 29/1987; Die russische Großmutter. Theaterstück, im Almanach Grupa, hg. v. Thomas Wiedling, o. O. 1989. PELMENI, das erste Bild eines dreiaktigen Stückes gleichen Titels aus den Jahren 1983/1984, erscheint hier als deutsche Erstveröffentlichung.

SUCHOVO-KOBYLIN, Aleksandr Vasiljevič, 1817-1903. Schriftsteller, Dramatiker, bekannt vor allem durch seine satirische Trilogie Bilder der Vergangenheit, bestehend aus den Komödien: Krečinskijs Hochzeit 1854; Das Untersuchungsverfahren 1861 und Tarelkins Tod 1869. Während Krečinskijs Hochzeit auf den russischen Bühnen erfolgreich lief, konnte die Uraufführung der beiden letzten Stücke erst nach mehrfacher, durch die Zensur geforderter Überarbeitung Jahrzehnte nach der Niederschrift erfolgen: 1882 bzw. 1900. - Eine deutsche Übersetzung der gesamten Trilogie in Buchform liegt nicht vor. TARELKINS TOD [Smert' Tarelkina], letzter Teil der Trilogie, erschien russisch erstmals 1869.

Der vorliegende Band beschränkt sich auf den ersten Akt der Komödie, der als in sich geschlossener Einakter des absurden Theaters für sich steht und der mit �> Erdmans Komödie Der Selbstmörder eine höchsteigene Paraphrase, gleichsam eine nachrevolutionäre Spiegelung erfährt.

TURGENEV, Ivan Sergeevič, 1818-1883.

Schriftsteller, Romancier, Erzähler, Dramatiker, Klassiker der

russischen Literatur des XIX. Jahrhunderts, berühmt vor allem

durch die Skizzensammlung Aufzeichnungen eines Jägers und

die Romane Rudin, Das Adelsnest und Väter und Söhne. Als

Dramatiker einer »epischen« Form Vorläufer von �» Anton

Čechov.

In deutscher Übersetzung: Gesammelte Werke in Einzelbänden,

hg. v. Klaus Dornacher, Aufbau-Verlag, Berlin/DDR 1973 ff.

504 Turgenev

Dramen: Geldnöte. Szenen aus dem Petersburger Leben eines jungen Adeligen, 1845; Was allzu fein gesponnen, reißt. Komödie, 1847; Gnadenbrot. Komödie, 1848; Der Hagestolz. Komödie, 1849; Das Frühstück beim Adelsmarsch all. Komödie, 1849; Ein Monat auf dem Lande. Komödie, 1850 [Erstdruck unter dem Titel Der Student 1855], unter dem neuen Titel 1869 in Band VII der Werkausgabe, Szenen und Komödien. - Entgegen der allgemeinen Annahme, Turgenev habe nach dem Mißerfolg seiner Stücke - Ein Monat auf dem Lande gelangte erst 1872 in Moskau zur Uraufführung - Anfang der 5oer Jahre aufgehört, Dramatisches zu schreiben, hegte Turgenev auch später, noch in seinen Baden-Badener Jahren, Kontakte zum Theater, wenn auch unter veränderten Umständen. Er schrieb mehrere Libretti zu Opern, die, von Pauline Viardot vertont, in der »Villa Turgenev« in Baden-Baden aufgeführt wurden, wie auch, auf französisch, den Feydeau nachempfundenen Schwank Une nuit dans l'auberge Au Grand Sanglier, der, wie aus dem im Nachlaß aufgefundenen Manuskript hervorgeht, am Badischen Staatstheater Carlsruhe zur Aufführung geplant war. DAS FRÜHSTÜCK BEIM ADELSMARSCHALL [Zavtrak u predvodi-telja], geschrieben 1849, wurde russisch erstmals veröffentlicht in der Zeitschrift Sovremennik, Heft 8, 1856. UA: Moskau, Kleines Theater, am 23. n. 1849, Petersburger Premiere im Alexandra-Theater am 3. 12. 1849. Erstveröffentlichung der Neuübersetzung. Ist das Aneinandervorbeireden, das programmierte einander Nichtverstehen eine Grundsituation des absurden Dialogs - vgl. Die kahle Sängerin von lonesco -, so ist Turgenevs Frühstück beim Adelsmarschall ein Glanzlicht dieser Gattung, »realistisch« und vollkommen absurd, ein klassischer Fall. Turgenev antizipiert hier die berühmten Streitigkeiten, die Solenyj in Čechovs Drei Schwestern provoziert: »In Moskau gibt es zwei Universitäten ...« und »Čechartma ist Hammelfleisch - Čeremša ist eine Zwiebel«.

TOTENSCHÄDEL [Čerepa], geschrieben und von Turgenev datiert »April 1878« in den Gedichten in Prosa (Senilia) 1882, die mehrfach ins Deutsche übersetzt worden sind, u. a. von Wil-

Turgenev � Vvedenskij 505

heim Lange, Theodor Commichau. Erstveröffentlichung der Neuübersetzung.

ARBEITER UND INTELLEKTUELLER [Černorabočij i beloručka], wie Totenschädel. Im Russischen enthält der Titel eine Nuance mehr insofern, als die Arbeiter mit der Farbe Schwarz verbunden sind [černorabočij ist der Arbeiter, Tagelöhner, der sich täglich zu Dreckarbeiten verdingt], der Intellektuelle mit der Farbe Weiß [beloručka ist auch der Nichtstuer, Müßiggänger, der sich die Hände nicht schmutzig macht].

VVEDENSKIJ, Aleksandr Vladimirovič, 1904-1941. Lyriker, Dramatiker. Mitglied verschiedener Avantgardegruppen im Leningrad der zoer Jahre, darunter der »Vereinigung für eine reale Kunst« Oberiu, in deren Manifest als die »extreme Linke unserer Vereinigung« und als »Dichter der offenbaren Sinnlosigkeit« bezeichnet wird; neben �> Daniil Charms, der Vvedenskij seinen unmittelbaren Lehrer nannte, der konsequenteste Dichter des Absurden in Rußland. Zusammen mit Charms von großem Einfluß auf die Generation der /oer Jahre, auf �> I. Brodskij, V. Kazakov, V. Erofeev u. v. a. Vvedenskij im Gespräch mit dem Philosophen L. S. Lipavskij über die eigene Poetik: »Ich habe eine Art poetischer Kritik der Vernunft durchgeführt, grundsätzlicher als die abstrakte von Kant. Grundsätzlich ist bei mir die Wahrnehmung der Zerrissenheit der Welt und der Zersplitterung der Zeit. Da dies der Vernunft widerspricht, bedeutet das: die Vernunft kann die Welt nicht begreifen.«

Die Sammlung des - vom Umfang her - schmalen dichterischen CEuvres von Aleksandr Vvedenskij ist dem Leningrader Literaturwissenschaftler Michail Mejlach zu verdanken, der das Gesamtwerk, soweit es erhalten geblieben ist, 1980 und 1984 in zwei Bänden im Verlag Ardis in Ann Arbor/USA vorgelegt hat. Dieser ersten russischen Gesamtausgabe folgen sämtliche in diesem Band vorgestellten Texte des Autors. In deutscher Übersetzung: Kuprijanov und Nataša, hg. und übersetzt von Peter Urban, Friedenauer Presse, Berlin 1986; Eine gewisse Anzahl Gespräche oder Das völlig umgearbeitete

506 Vvedenskij

Stundenbuch und Zwei Gedichte, deutsch von Peter Urban, Friedenauer Presse, Berlin 1987.

KUPRIJANOV UND NATAŠA, geschrieben und von Vvedenskij im Manuskript datiert mit »September 1931«. EINE GEWISSE ANZAHL GESPRÄCHE [Nekotoroe količestvo raz-govorov ili načisto peredelannyj temnik], vom M. Mejlach datiert auf die Jahre 1936/1937, beide Texte erstmals russisch publiziert in der zitierten Ausgabe, Ann Arbor 1980. Die »gewisse Anzahl« der Gespräche umfaßt genau zehn. WEIHNACHTEN BEI IVANOVS [Elka u Ivanovych], geschrieben 1941, erscheint hier als deutsche Erstveröffentlichung. Das Stück - einer der letzten Texte Vvedenskijs - summiert Themen und Techniken der Dichtung des Autors, wie schon die Gewisse Anzahl Gespräche von 1936, und gilt als einer der zentralen Texte des russischen absurden Theaters.

Der Titel [Elka] ist mit dem Begriff »Weihnachten« verallgemeinernd milde übersetzt: der Begriff »elka«, in viele idiomatische Wendungen der derberen russischen Ausdrucksweise eingegangen, meint den »Weihnachts^^m«, den zum Christfest aufgestellten Tannenbaum - womit sich, wie die nicht unbedingt hochsprachlichen Redewendungen zeigen und woran auch das Drama Vvedenskijs keinen Zweifel läßt, recht eindeutige Assoziationen verbinden. Deutsche Erstveröffentlichung.

INHALT

Aleksandr Vvedenskij Wo-Wann. Zwei Gedichte

Fehler des Todes

Aleksandr Puškin Fragment 13 Aleksandr Puškin Das Gelage während der Pest 15 Nikolaj Gogol Fragment eines unbekannten Dramas 25 Ivan Turgenev Das Frühstück beim Adelsmarschall 27 Kozma Prutkov Das Zusammenwirken der irdischen Gewalten 61 Kozma Prutkov Der unbesonnene Türke, oder: Wer

ist schon gerne Enkel? 71 Michail Saltykov-Ščedrin Ein Mensch 81 Michail Saltykov-Sčedrin Unzufrieden 85 Aleksandr Suchovo-Kobylin Tarelkins Tod 93 Fedor M. Dostoevskij Bobok 113 Ivan Turgenev Arbeiter und Intellektueller 133 Ivan Turgenev Schädel 135 Vladimir Solovjev Ich sagte ja, er kann nicht essen 137 Anton Čechov Erzwungene Erklärung, oder: Plötzlicher Tod eines Pferdes 141 Anton Cechov Schwanengesang 145 Anton Cechov Über die Schädlichkeit des Tabaks 155 Aleksandr Blök Die Unbekannte 161 Fedor Sologub Lieben 189 Velimir Chlebnikov Frau Lenine 205 Velimir Chlebnikov Weltvomendeher 209 Vladimir Majakovskij Vladimir Majakovskij Tragödie 217

Velimir Chlebnikov Der Fehler des Todes 235

Velimir Chlebnikov Die Götter 243

Daniil Charms Die Komödie der Stadt Petersburg 253

Daniil Charms Elizaveta Bam 291

Nikolaj Erdman Der Selbstmörder 319

Aleksandr Vvedenskij Kuprijanov und Nataša 343 Daniil Charms Minidramen

Streit 351 Entwaffnet oder Fehlschlag der Liebe 353 Makarov und Petersen Nr. 3 354 Allseitige Untersuchung 356 Rehabilitierung 358 Aleksandr Vvedenskij Eine gewisse Anzahl Gespräche 359 Aleksandr Vvedenskij Weihnachten bei Ivanovs 375 Julij Daniel Die Hände 403 Vladimir Kazakov Der Ertrunkene 409 Vladimir Kazakov Fabriksgelände 411 Vladimir Kazakov Auf erweckung 415 Venedikt Erofeev Die Walpurgisnacht, oder Schritte

des Komturs 423

losif Brodskij Marmor 439

Dmitrij Prigov Ich spiel auf der Harmonika 447

Vladimir Sorokin Pelmeni 457

Anhang

Nachwort 475

Die Autoren des Bandes � Nachweise 485

Hosted by uCoz